Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Bildung
Digitale Teilhabe: Keine Selbstverständlichkeit
Digitale Technologien eröffnen Menschen mit Behinderungen neue Teilhabemöglichkeiten. Sie bergen jedoch auch Ausschlussrisiken, etwa durch fehlende Barrierefreiheit. Dies betrifft auch die berufliche Bildung. Ein Forschungsprojekt zeigt, dass die Bildungsorganisationen immer noch zu wenig tun für die Inklusion von Lernenden mit Behinderungen. Der Hauptgrund: Mangelndes Bewusstsein zu Teilhabeschwierigkeiten und fehlende Strategien zu deren Beseitigung. Häufig mangelt es zudem an Mitteln und Instrumenten zur Umsetzung, aber auch an klaren Verantwortlichkeiten und Weisungen.
Ausgangslage
Rechtliche Grundlagen wie die Bundesverfassung (Art. 8, Abs. 2 und 4) und die UN-BRK (2006) verpflichten die Schweiz, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und ihre Teilhabe zu fördern. Bildungsorganisationen sind gefordert, Barrierefreiheit sicherzustellen und Technologien zur Kompensation individueller Beeinträchtigungen zu nutzen.
Das Forschungsprojekt «Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung»[1] zielte darauf, die Dimensionen digitaler Teilhabe sowie sie beeinflussende Faktoren zu erfassen. Der vorliegende Beitrag zeigt, was – aus unterschiedlichen Perspektiven – die digitale Teilhabe fördert oder hindert.
Methodik
Das Projekt orientiert sich am Behinderungsmodell der WHO (2002), das Behinderung als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen einer Person mit Beeinträchtigung und ihrer Umwelt beschreibt. Diese fördert oder behindert die Teilhabe der Person, d.h. ihre Chancen, sich gleichberechtigt an einem Lebensbereich zu beteiligen. Im Kontext der Berufsbildung beschreibt digitale Teilhabe entsprechend die Möglichkeit, digitale Technologien und Medien zu nutzen, um am Bildungsprozess zu partizipieren (Kempf, 2013; Papadopoulos, 2012; Schädler et al., 2024).
Für die qualitative Untersuchung wurden 42 Lernende mit Behinderungen (LmB) sowie zehn Fachpersonen interviewt. 17 Verantwortliche von Bildungsorganisationen gaben Einblick in die Implementierung digitaler Teilhabe. Die nationale Online-Befragung (n=431 aus 289 Organisationen) lieferte quantitative Ergebnisse, während E-Accessibility-Tests bei sechs Organisationen die Barrierefreiheit der digitalen Infrastruktur und Lernmaterialien prüften.
Die Datenerhebung erfolgte in allen drei Sprachregionen und wurde nach Grounded Theory sowie quantitativen Verfahren ausgewertet.
Ausgewählte Ergebnisse
Die befragten LmB sehen in neuen Technologien vor allem Chancen zur Unabhängigkeit sowie für die berufliche und gesellschaftliche Inklusion. Entscheidend dafür ist jedoch die ungehinderte Nutzung digitaler Medien.
«Wenn zwar alles digital ist und alles gut ist aber wenn man dann vielleicht keinen Zugang dazu hätte, nur beschränkt, dann ist es natürlich, dann ist es ein Nachteil» (Herr C., LmB)
In den befragten Bildungsorganisationen wird die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit digitaler Medien und Technologien für LmB jedoch häufig durch strukturelle Mängel und durch die Abhängigkeit von externen Akteuren erschwert. Dies führt dazu, dass individuelle Ressourcen der LmB die digitale Teilhabe wesentlich bestimmen.
Herausforderungen in den Bildungsorganisationen
Inklusive Haltungen und Strukturen
Mangelndes Bewusstsein zu Teilhabeschwierigkeiten und fehlende Strategien zu deren Beseitigung erschweren die Umsetzung digitaler Teilhabe.
«Aber generell würde ich sagen, dass viele sich wirklich damit schwertun, das Haus so zu öffnen, dass wir wirklich barrierefrei sind.» (Fachstelle Diversity)
Häufig mangelt es an Mitteln und Instrumenten zur Umsetzung, aber auch an klaren Verantwortlichkeiten und Weisungen. Überdies zeigt sich, dass inklusive Haltungen mehrheitlich nicht konzeptuell verankert sind und die Themen Behinderung und Digitalisierung kaum strategisch verknüpft werden.
«Wir hatten nie einen strategischen Plan, sei es vom Kanton oder intern, der uns klar sagte, passt bei der Wahl der digitalen Instrumente auf diesen Aspekt auf.» (Direktion)
Schlüsselrolle der Lehrkräfte
Lehrkräfte nehmen bei der Umsetzung digitaler Teilhabe eine Schlüsselrolle ein.
Lehrkräfte nehmen bei der Umsetzung digitaler Teilhabe eine Schlüsselrolle ein. Der massive Anstieg der Anträge auf Nachteilsausgleich sowie der zunehmende Einsatz neuer Technologien im Bildungsalltag erhöhen den Unterstützungsbedarf der Lernenden durch die Lehrkräfte insgesamt. Bei einem Grossteil der befragten Bildungsorganisationen liegt die Aufbereitung barrierefreier Lernmaterialien zudem in ihrer Verantwortung – auch wenn sie dafür kaum Vorgaben, Hilfestellungen oder zusätzliche Zeitressourcen haben. Entsprechend wird diese Aufgabe als Zusatzaufwand betrachtet und als Grund angeführt, weshalb Lehrkräfte teilweise ablehnend auf den Unterstützungsbedarf von LmB reagieren oder wenig Bereitschaft zeigen, die digitalen Teilhabemöglichkeiten auszubauen.
«Wir haben ja sonst schon Mühe, Dozierende zu bewegen, gute, schöne Kursräume zu gestalten mit den ganzen Möglichkeiten, die Moodle bietet. Und jetzt soll es auch noch barrierefrei sein.» (Fachstelle Didaktik)
Zugänglichkeit digitaler Lernressourcen
LmB berichten von vielen digitalen Barrieren, und auch die Accessibility-Tests zeigen grosse Lücken bei der digitalen Infrastruktur, den Lernmaterialien und Informationsportalen.

Abbildung 1: Zusammenfassende Ergebnisse der E-Accessibility-Tests. Es wurden Websites, Learning Management-Systeme (LMS), Plattformen, Lern-Apps, Dokumente und in Plattformen verfügbare Inhalte in verschiedenen Bereichen getestet und in Bezug auf sechs Kategorien beurteilt. Es zeigt sich, dass insbesondere Dokumente und Lern-Apps nicht zugänglich sind.
In Bezug auf die Lehrmittel wird von den Bildungsorganisationen zudem auf die Rolle anderer Akteure wie Branchenverbände oder Verlage hingewiesen.
«Es gibt aber auch gewisse Lehrmittelobligatorien, und da haben wir keinen Einfluss darauf, von der Schulseite her. Und dort ist die E-Accessibility überhaupt nicht gegeben und da sind wir immer sehr im Kämpfen mit dem Verlag dort.» (Lehrkraft)
Insgesamt herrscht zwar grosse Einigkeit darüber, dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten für nachteilsausgleichende Massnahmen böte. Dennoch werden digitale Hilfsmittel nur beschränkt eingesetzt und zugelassen. Als Gründe werden unter anderem unzureichendes Wissen sowie die Befürchtung genannt, dass Lernende damit bei Prüfungen schummeln könnten.
Trotz der genannten Herausforderungen zeichnen sich auch positive Entwicklungen ab. Die Bildungsorganisationen berichten von diversen Massnahmen zur Förderung der digitalen Teilhabe, wie der Sensibilisierung der Lehrkräfte oder von Weiterbildungsangeboten.
Herausforderungen für Lernende mit Behinderungen
Digitale Kompetenzen
Die überwiegende Mehrheit der befragten LmB setzt digitale Hilfsmittel im Bildungsalltag regelmässig ein.
«Also ich nehme auch mit dem Handy teil, wo die Lehrer nicht so Freude haben, halt ohne Video. Habe es aber allen erklärt und dann hatten sie schon Verständnis. Ja, ich finde es viel einfacher.» (Frau K., LmB)
Sie entwickeln Handlungsstrategien, um Funktionseinschränkungen zu kompensieren und die digitalen Herausforderungen ihrer Aus- oder Weiterbildung zu bewältigen.
Es wird aber auch eine digitale Kluft sichtbar: Lernende bringen oft die vorausgesetzten digitalen Kompetenzen nicht mit.
«Ich war mit einer Generation konfrontiert, von der ich dachte, dass sie das Digitale viel besser beherrscht, als was dann schliesslich die Realität war.» (Fachstelle NTA)
Vor allem für LmB erhöht ein Mangel an digitalen Kompetenzen und an digitaler Ausstattung das Risiko eingeschränkter Teilhabe, da der Einsatz von und der Zugang zu digitalen Hilfsmitteln eine gewisse IT-Affinität voraussetzt.
«Es gibt also gewissermassen ein doppeltes Handicap. Eine behinderte Person (…) riskiert, eine zweite Behinderung zusätzlich zu haben, nämlich nicht zu wissen oder nicht die Gelegenheit zu haben, digitale Mittel zu verwenden oder das Wissen darüber zu haben.» (Direktion)
Individuelle Bewältigungsstrategien
Häufig berichten sie von stigmatisierenden Situationen – etwa, wenn sie immer wieder auf ihre Behinderungen aufmerksam machen müssen, um die entsprechende Unterstützung zu erhalten.
Mangelnde Barrierefreiheit bedeutet für die meisten LmB Zusatzaufwand, um Lösungen für bestehende Hindernisse zu finden. Häufig berichten sie von stigmatisierenden Situationen – etwa, wenn sie immer wieder auf ihre Behinderungen aufmerksam machen müssen, um die entsprechende Unterstützung zu erhalten. Es gibt LmB, die gezielt dagegenhalten, indem sie Wissen vermitteln und aufklären. Oft suchen die Betroffenen die Ursachen für die eingeschränkte Teilhabe jedoch bei sich selbst oder verzichten aufgrund der ihnen entgegengebrachten Reaktionen sogar gänzlich auf Unterstützungsleistungen oder Nachteilsausgleich.
Handlungsempfehlungen
Die Ergebnisse zeigen, dass eine unzureichende Sensibilität für digitale Ausschlussrisiken von LmB häufig mit strukturellen Lücken, einer knapp bemessenen Finanzierung und einer mangelhaften Umsetzung von Fördermassnahmen einhergeht. Die Empfehlungen setzen daher in erster Linie auf bewusstseinsbildende Massnahmen und Sensibilisierung für digitale Barrieren, um die Teilhabechancen von LmB nachhaltig zu verbessern.
Um inklusive Werte, Strukturen und Prozesse innerhalb von Bildungsorganisationen zu verankern und zu standardisieren, ist die Entwicklung klarer Strategien und Konzepte unabdingbar, welche die Themen Digitalisierung und Behinderung miteinander verknüpfen. Kompetenzen für digitale Zugänglichkeit müssen aufgebaut und verfügbar gemacht werden. Besonders wichtig ist die Befähigung der Lehrkräfte, Lerninhalte in unterschiedlichen Medienformaten bereitzustellen und Lernmaterialien barrierefrei zugänglich zu machen. Hierbei kann die Unterstützung von internen oder externen Fachstellen hilfreich sein. Zudem sind ausreichende Ressourcen bereitzustellen, um den Mehraufwand für barrierefreie digitale Lernressourcen und die bedarfsgerechte Unterstützung der LmB abzudecken. Digitale Teilhabe sollte als Thema in die Aus- und Weiterbildung von Lehr- und Leitungspersonen der Berufsbildung integriert werden, damit die Auseinandersetzung damit zu einem festen Bestandteil ihrer Professionalität wird.
Bei der Beschaffung von digitaler Infrastruktur und Lernmaterialien sollte Barrierefreiheit ein zentrales Kriterium sein, das auch in der Digitalisierungsstrategie verankert ist.
Die Schaffung einer digitalen Infrastruktur, die niemanden ausschliesst, ist wesentliche Voraussetzung für eine inklusive Berufsbildung. Bildungsorganisationen sollten ihre digitale Infrastruktur regelmässig auf Barrierefreiheit prüfen, bestehende Hürden identifizieren und beseitigen. Massnahmen, die auf dem Prinzip des Universal Designs beruhen, sollten prioritär umgesetzt werden, da sie allen zugutekommen. Bei der Beschaffung von digitaler Infrastruktur und Lernmaterialien sollte Barrierefreiheit ein zentrales Kriterium sein, das auch in der Digitalisierungsstrategie verankert ist. Die Expertise von Lernenden und Mitarbeitenden mit Behinderungen sollte hierbei aktiv genutzt werden, bspw. durch ihre Einbindung in Beschaffungs- und Evaluationsprozesse.
Die Bildungsorganisationen können die digitale Teilhabe von LmB zusätzlich fördern, indem sie ihnen die Möglichkeiten digitaler Hilfsmittel aufzeigen und digitale Kompetenzen vermitteln. Eine positive Haltung gegenüber dem Einsatz digitaler Medien im Bildungsalltag sowie im Rahmen von Nachteilsausgleichen ist dabei zentral. Nur durch eine systematische und ganzheitliche Herangehensweise können langfristig inklusive und barrierefreie Bildungsangebote geschaffen werden. Anhaltspunkte zum Vorgehen und konkrete Unterstützung bietet dafür der «Orientierungsrahmen Digitale Teilhabe»[2], der im Laufe des Jahres 2025 veröffentlicht wird.
Ausblick
Die digitale Transformation verändert Arbeitswelt und Bildungslandschaft grundlegend. Bildungsorganisationen stehen nicht nur vor infrastrukturellen und didaktischen Herausforderungen, sondern müssen auch neue Berufsbilder und Kompetenzanforderungen berücksichtigen. Die Studienergebnisse zeigen, dass in dieser Dynamik die digitale Teilhabe von LmB oft wenig Priorität geniesst. Die LmB müssen in der Folge Zusatzaufwand betreiben, um Teilhabebarrieren zu überwinden.
Das Ziel der Schweizer Bildungspolitik, 95 Prozent der 25-Jährigen einen Sekundarstufe-II-Abschluss zu ermöglichen, ist nur durch den konsequenten Einbezug von LmB erreichbar. Digitale Teilhabe spielt dabei eine Schlüsselrolle. Bildungsorganisationen sowie politische Akteure, Branchenverbände und Lehrmittelverlage müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Die 2024 gegründete Allianz Digitale Inklusion Schweiz (ADIS) setzt sich für eine «inklusive digitale Zukunft» (ADIS, 2025) ein. Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Mission auch im Bereich der beruflichen Bildung fruchtet.
[1] Das Forschungsprojekt «Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Bildung» wurde im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 77 «Digitale Transformation» durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert und von 2020 bis 2024 an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW unter der Leitung von Gabriela Antener, Anne Parpan-Blaser und Olivier Steiner sowie der Mitarbeit von Silvano Ackermann, Julia Bannwart Garibovic, Anton Bolfing und Fabienne Kaiser durchgeführt. [2] Weitere Informationen unter: www.inclusion-digital.chLiteraturangaben
- ADIS – Allianz Digitale Inklusion Schweiz (2025). www.adis.ch, Zugriff am 22.01.2025.
- Kempf, Matthias (2013): Digitale Teilhabe und UN-Behindertenrechtskonvention. In: SIEGEN: SOZIAL. Analysen, Berichte, Kontroversen. 18 (1), S. 16-23. Zugriff am19.02.2023.
- Papadopoulos, Christian (2012). Barrierefreiheit als didaktische Herausforderung. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 2, 37–39.
- Schädler, J., Kahle, U., Lippa, B., Bächler, L., Hünefeld, L., & Saerberg, S. (2025). Digitale Teilhabe und assistive Technologien im Kontext von Behinderung. In U. Kahle & J. Schädler (Hrsg.), Digitale Teilhabe und personenzentrierte Technologien im Kontext von Menschen mit Behinderungen (1. Auflage, S. 25–46). Lebenshilfe-Verlag.
- UN United Nations (2006): Convention on the Rights of Persons with Disabilities. Zugriff: 19.02.2023.
- WHO (World Health Organization) (2002): Towards a Common Language for Functioning, Disability and Health: ICF – The International Classification of Functioning, Disability and Health. Geneva. Zugriff am 10.11.2024.
Zitiervorschlag
Antener, G., & Bannwart Garibovic, J. (2025). Digitale Teilhabe: Keine Selbstverständlichkeit. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(4).