Berufsbildung in Forschung und Praxis
Herausgeberin SGAB Logo

Berufliche Grundbildung von Menschen mit Behinderung

Ein zu kleiner Schlüssel für eine grosse Aufgabe

Viele Jugendliche mit Behinderungen werden in geschützten Werkstätten ausgebildet. Sie erhöhen damit ihre Chancen auf einen Eintritt in den regulären Arbeitsmarkt. Die Ausbildung dieser Personen erfordert intensive Begleitung und spezifische Settings, die den Bedürfnissen der Lernenden angepasst sind. In der Regel sind die Bildungsverantwortlichen dafür voll ausgelastet. Eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Gestaltung dieser Bildungsleistung ist allerdings nicht möglich, weil die Bildungsverordnungen einen Betreuungsschlüssel von einer lernenden Person pro Berufsbildner vorschreiben. Dabei würde das Berufsbildungsgesetz einen Ausweg aus dem Dilemma bieten.


Für viele Menschen mit Behinderungen sind spezialisierte Institutionen die einzige Möglichkeit, eine berufliche Bildung zu erhalten.

Für Menschen mit Behinderungen – insbesondere psychischen Schwierigkeiten – ist es schwierig, einen Ausbildungsplatz in der Wirtschaft zu finden. Sie haben oft Aufenthalte in (psychiatrischen) Kliniken hinter sich, ihr Bildungsweg ist verzögert, manchmal unterbrochen. Gelingt es, einen Lehrvertrag zu erhalten, kommt es häufig zu Lehrabbrüchen und wiederkehrendem Stellenverlust. Für Jugendliche mit psychischen Beeinträchtigungen gibt es in der Berufsfachschule keine heilpädagogische Förderung, wie es das integrative Schulsystem bis zum 10. Schuljahr kennt. Die Gefahr einer dauerhaften gesellschaftlichen Ausgrenzung dieser Menschen ist gross.

Für viele Menschen mit Behinderungen sind spezialisierte Institutionen die einzige Möglichkeit, eine berufliche Bildung zu erhalten. In der Schweiz gibt es eine Vielzahl von Einrichtungen, die Berufsausbildungen in einem geschützten Rahmen anbieten – die von mir bis vor einigen Monaten geleitete Stiftung Märtplatz gehört zu ihnen. Die Ausbildungssettings orientieren sich am Bedarf der Unterstützung. Oft finden die Berufslehren in ihrer gesamten Dauer im geschützten Rahmen statt; manchmal werden sie vollzeitlich oder teilweise in der freien Wirtschaft absolviert, wobei die Lernenden durch Jobcoaches begleitet werden. Die Lernenden EBA/EFZ besuchen die Berufsfachschule und absolvieren die überbetrieblichen Kurse; sie sind damit in der regulären Berufsbildung teilweise integriert. Neben den staatlich anerkannten Bildungen (EBA/EFZ) gibt es für Menschen mit Teilleistungsschwächen «praktische Ausbildungen» mit individualisierten Leistungszielen (PrA, nach Insos). Ergänzend zur geschützten Berufslehre existieren zudem Angebote wie Integrationsmassnahmen oder berufspraktische Vorbereitungen mit dem Ziel der Integration in eine berufliche Grundbildung.

Finanziert und zugewiesen werden die Menschen mit Unterstützungsbedarf durch die Invalidenversicherung (IV). Die IV hat 2023 mit rund 434 Millionen Franken rund 13’300 Menschen bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung unterstützt, das entspricht durchschnittlich rund 33’000 Franken pro Person. Wenn die IV einem jungen Menschen ein Erwerbsleben lang eine Rente bezahlen müsste, würde das die Kosten einer erstmaligen beruflichen Ausbildung um ein Vielfaches übersteigen – ganz abgesehen davon, dass zu den IV-Renten oft noch Ergänzungsleistungen oder fehlende Steuereinnahmen hinzukommen.

Wer Menschen mit Behinderungen ausbildet, braucht dafür berufsspezifisches Wissen, aber auch Zusatzqualifikationen im arbeitsagogischen Bereich. Mit diesen umfassenden sozialen und fachlichen Fähigkeiten werden die Menschen mit Behinderungen ganzheitlich gefördert und unterstützt. Manche Jugendlichen benötigen schulische Unterstützung, damit sie in der Berufsfachschule dem Unterricht folgen können. Viele haben einen hohen Gesprächsbedarf, um in ihrer Entwicklung weiterzukommen; die meisten gehen regelmässig in eine Psychotherapie. Auch in der geschützten Berufslehre werden möglichst berufsorientierte Arbeiten ausgeführt, werden die Lernenden möglichst nah an arbeitsmarktübliche Bedingungen herangeführt. Für sie ist berufliches Lernen mittels «normalen» Aufträgen sehr motivierend. Sie fühlen sich zum ersten Mal als Teil der Leistungsgesellschaft und spüren, dass sie grosse Chancen haben, sich von der Abhängigkeit der Sozialversicherungen zu lösen. Mit dem Lehrabschluss ist immer auch die Persönlichkeit der jungen Erwachsenen gereift, sie sind selbstbewusster und sehr stolz auf das Erreichte. Nach einer abgeschlossenen Lehre im geschützten Rahmen ist die Integration in den Arbeitsmarkt nach unseren Erfahrungen deutlich wahrscheinlicher.

Die spezifische Gestaltung der Ausbildung im geschützten Rahmen könnte von marktwirtschaftlich ausgerichteten Firmen nicht geleistet werden.

Die spezifische Gestaltung der Ausbildung im geschützten Rahmen könnte von marktwirtschaftlich ausgerichteten Firmen nicht geleistet werden. Hier bildet die Berufslehre einen integrierten Bestandteil der unternehmerischen Aktivitäten. Die Kernaufgabe der Institutionen mit einem Bildungsauftrag besteht demgegenüber darin, Berufslehren mit Unterstützung anzubieten. Die Berufsbildnerinnen sind während ihres gesamten Arbeitspensums für die Berufsbildung tätig. Fördern und fordern stehen in einem gänzlich anderen Verhältnis zueinander als in der Wirtschaft.

Anspruchsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen

Vor diesem Hintergrund stellen sich dringliche Fragen zur gesetzlichen Regelung der Berufsbildung in geschützten Werkstätten.

Die Institutionen werden von zwei Behörden beauftragt und beaufsichtigt.

Die IV finanziert die Bildung. Sie ist zuweisende Behörde und Kontraktpartner. Sie misst die Qualität der Durchführung mit folgenden Zielen:

  • Erfolgreicher Abschluss der Lehre, bestandenes Qualifikationsverfahren
  • Erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt im Anschluss der Lehre
  • Rückmeldung über die Durchführungsqualität seitens der Beraterinnen der IV

Die Mittelschul- und Berufsbildungsämter sind Lehraufsichtsbehörde. Sie kontrollieren die beruflichen Grundbildungen auf gesetzeskonforme Durchführung. Berufsinspektoren bewilligen die Lehrverträge. Sie orientieren sich dabei unter anderem an den Bildungsverordnungen, die Angaben über die maximale Anzahl an Lernenden pro Berufsbildner enthalten – in aller Regel ist dies eine lernende Person pro Berufsbildnerin. Diese Regelung schützt die Lernenden vor Ausbeutung: Wenn ein Betrieb Lernende übermässig in der Produktion einsetzt, leidet die Qualität der Ausbildung.

Für Institutionen, die geschützte Ausbildungsplätze anbieten, ist dieser Schlüssel aber zu klein. Wenn in einer Werkstatt pro Berufsbildner nur eine Person ausgebildet werden kann, kann die Ausbildung unmöglich finanziert werden; die Werkstätten sind dann auf Quersubventionen aus ihrer weiteren Tätigkeit angewiesen. Der Schlüssel für einen betriebswirtschaftlich und sozial-agogisch sinnvollen Betrieb liegt nach unserer Erfahrung im Bereich von vier Lernenden pro Berufsbildnerin, wobei es keine Rolle spielt, ob die Teilnehmenden eine Berufsvorbereitung, eine PrA, ein EBA oder EFZ machen.[1] Auch mit einem solchen Schlüssel müssten die Institutionen einen Belegungsfaktor von deutlich über 90 Prozent erreichen, um die Finanzierung zu gewährleisten.

Perspektiven für eine Lösung des Problems

Die Arbeitsgruppe «Menschen mit Behinderung und ihr Zugang zur Bildung», die Teil eines Dialogforums im Rahmen des Projektes «Berufsbildung 2030» der Tripartiten Berufsbildungskonferenz (TBBK) bildet, hat vor drei Jahren erhoben, wie die Kantone mit dieser Situation umgehen. Der Rücklauf war zwar bescheiden. Es zeigte sich aber, dass der Kanton Zug sehr pragmatisch vorgeht und das Berufsbildungsamt nach fundierten Gesprächen und einer Überprüfung der Institutionen eine höhere Anzahl von Lernenden bewilligt. Der Kanton Zürich hat im Rahmen des Projektes «Lehrbetriebe für Jugendliche mit besonderem Bildungsbedarf» ebenfalls einen ersten, aber noch nicht ausreichenden Schritt gemacht: Das MBA bewilligt nun für die Institutionen in aller Regel zwei Lernende pro Fachperson. Dafür ist ein Bewilligungsverfahren zu durchlaufen, die Bewilligung ist befristet. Damit die Bewilligung erteilt wird, müssen folgende Anforderungen erfüllt sein:

  • Regelmässiges Absolvieren der Qualifikationsverfahren
  • Ausrichtung der Ausbildung auf den ersten Arbeitsmarkt
  • Eine hochstehende Ausbildungsqualität
  • Externe Praktika in Partnerbetrieben im ersten Arbeitsmarkt

Anzuwenden wäre Art 16, 2a BBG: Er erlaubt es Behörden, die Institutionen mit einem Berufsbildungsauftrag der IV als «andere zu diesem Zweck anerkannte Institution für die Bildung in beruflicher Praxis» zu betrachten.

Eine schweizweite Lösung des Problems ist angezeigt. Das SBFI hat auf Anfrage einen gesetzeskonformen Weg dafür gewiesen. Er führt über die gesetzliche Einordnung der Institutionen. Diese werden heute als reguläre Form der betrieblich organisierten Grundbildung gedeutet. Anzuwenden wäre stattdessen Art 16, 2a BBG: Er erlaubt es Behörden, die Institutionen mit einem Berufsbildungsauftrag der IV als «andere zu diesem Zweck anerkannte Institution für die Bildung in beruflicher Praxis» zu betrachten.

Es ist bekannt, dass die Anzahl junger Menschen mit psychischen Schwierigkeiten steigt. Neue Organisationsformen und Innovationen in der Berufsbildung für Menschen mit Beeinträchtigungen sind notwendig. Die Behörden sind mehr denn je aufgerufen, gemeinsam mit den Institutionen Lösungen zu suchen, damit Jugendliche und junge Erwachsene mit (psychischen) Beeinträchtigungen eine solide Berufsausbildung absolvieren können.

[1] Insos empfiehlt für PrA-Lernende einen Schlüssel von 1:6.
Zitiervorschlag

Stürzinger, K. (2024). Ein zu kleiner Schlüssel für eine grosse Aufgabe. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(14).

Das vorliegende Werk ist urheberrechtlich geschützt. Erlaubt ist jegliche Nutzung ausser die kommerzielle Nutzung. Die Weitergabe unter der gleichen Lizenz ist möglich; sie erfordert die Nennung des Urhebers.