Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Umfrage der Stiftung MyHandicap

Empfehlungen für eine inklusive Berufsbildung

Eine Umfrage der Stiftung MyHandicap zeigt, dass Jugendliche mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten beim Übergang in die Berufswelt häufig mit Hürden konfrontiert sind. Dies obschon die vom Bundesrat unterzeichnete Behindertenrechtskonvention auch ein Recht auf Arbeit im regulären Arbeitsmarkt einschliesst. Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine inklusive Berufsbildung gelingt und welche Vorteile sich für Jugendliche und Lehrbetriebe daraus ergeben.


 74 Prozent der befragten, 16- bis 24-jährigen Jugendlichen mit Behinderungen räumen sich eher eingeschränkte oder stark eingeschränkte Chancen ein, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Eine in der Schweizerischen Zeitschrift für Sozialpädagogik publizierte Umfrage (Lanker & Heiniger, 2024) weist nach, dass Jugendliche mit Behinderungen[1] beim Zugang zur Berufsbildung häufig mit Hürden konfrontiert sind. Damit sind hauptsächlich Barrieren in den Köpfen der Lehrbetriebe gemeint, beispielsweise Vorurteile oder Stigmatisierungen. So werden gemäss Häfeli et al. (2014) oft Risiken und Defizite gesehen statt Schutzfaktoren und Ressourcen. Dies kann dazu führen, dass die Jugendlichen Schwierigkeiten haben, eine passende Anschlusslösung zu finden, und nach der Schule direkt in den zweiten Arbeitsmarkt eingegliedert werden (Zemp & Staub, 2022). Während im ersten Arbeitsmarkt die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der freien Wirtschaft gelten, bietet der zweite Arbeitsmarkt Arbeits- und Ausbildungsplätze in einem geschützten oder angepassten Rahmen.

Zahlen und Fakten

Das Bundesamt für Statistik erhebt seit 2015 keine Zahlen mehr darüber, wie viele Menschen mit Behinderungen im zweiten Arbeitsmarkt tätig sind. Der Schattenbericht von Inclusion Handicap (2022), der auf den Zahlen des Branchenverbands Insos basiert, zeigt jedoch, dass die Beschäftigungen im zweiten Arbeitsmarkt seit 2015 weiter zunehmen. Insgesamt stehen 23’792 Arbeitsplätze in Werkstätten zur Verfügung; hinzu kommen 10’034 Plätze in Tagesstätten (Inclusion Handicap, 2022).

Der Inklusionsindex von Pro Infirmis (2023) zeigt zudem, dass sich gerade Jugendliche mit Behinderungen schlechte Chancen auf eine Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt ausrechnen. So räumen sich 74 Prozent von den befragten 16- bis 24-Jährigen eher eingeschränkte oder stark eingeschränkte Chancen ein, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Diese schwierigen Bedingungen für Jugendliche mit Behinderungen stehen in Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention (BRK). Mit ihrer Unterzeichnung hat sich die Schweiz verpflichtet, Hindernisse zu beheben, die Menschen mit Behinderungen im Wege stehen, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern. Aus Sicht der Stiftung MyHandicap lassen sich aus der Konvention verschiedene Schlussfolgerungen und Empfehlungen für eine inklusive Berufsbildung ableiten.

Die Sache mit der Passung

Bei Jugendlichen mit Behinderungen hat die Stiftung MyHandicap die Erfahrung gemacht, dass diese oft nicht nach ihren Interessen und Stärken gefragt werden, sondern der Blick auf vermeintliche Defizite gerichtet wird.

Hofmann und Schaub (2016) beschreiben die berufliche Integration als «Ergebnis einer Passung zwischen Anforderungen und Ressourcen im Ausbildungsumfeld» (S. 3). Es braucht Anpassungsleistungen sowohl vonseiten der Lehrbetriebe als auch der Jugendlichen. Diese Anpassungsleistungen können Jugendliche mit Behinderungen jedoch nicht immer gleichermassen erbringen. So ist es für einen Personen mit einer starken Sehbehinderung nicht möglich, ein Fahrzeug zu lenken. Tätigkeiten am Computer hingegen können diese genauso zuverlässig ausführen wie Personen ohne Behinderungen.

Eine gute Passung bei Ausbildungsbeginn benennen auch Duc, Bosset, Hofmann & Lamamra (2024) als zentrale Voraussetzung dafür, dass eine Lehre abgeschlossen wird. Eine geringe Passung besteht hingegen, wenn die Jugendlichen am Beruf nicht interessiert sind oder ihre Kompetenzen nicht mit den Anforderungen übereinstimmen.

Bei Jugendlichen mit Behinderungen hat die Stiftung MyHandicap die Erfahrung gemacht, dass diese oft nicht nach ihren Interessen und Stärken gefragt werden, sondern der Blick auf vermeintliche Defizite gerichtet wird. Das zeigt das Beispiel von Linus (Name geändert), der eine Sehbehinderung hat, aber gerne im Verkauf arbeiten möchte, da er den Umgang mit Menschen schätzt. Immer wieder hört er von seinem Umfeld, aber auch von der Sozialversicherung (SVA) entmutigende Kommentare, wie etwa: «Ich hätte mich doch sehr gewundert, wenn Linus das mit dem Verkauf hätte machen können. Das geht doch nicht.»

Leider haben viele Organisationen Vorurteile, was Menschen mit Behinderungen können und was nicht. Es benötigt deshalb auch ein Hinterfragen der eigenen, meist unbewussten Annahmen. Eine Sensibilisierung der Lehrbetriebe und Ausbildungsverantwortlichen ist hier wichtig, um Hürden abzubauen und den Bedürfnissen der Jugendlichen Rechnung zu tragen. Sich mit den Themen Behinderungen und Krankheiten auseinanderzusetzen, kann dabei helfen, ein geteiltes Verständnis für die Relevanz von Inklusion zu schaffen.

Für eine starke Passung sind deshalb nicht alleine Anpassungsleistungen von den Jugendlichen erforderlich, sondern auch von den Lehrbetrieben selbst. Je nach Möglichkeiten und Ressourcen der Jugendlichen kann es deshalb sinnvoll sein, Anforderungen anzupassen. Um beim Beispiel von Linus zu bleiben: Er kann die Kundschaft ebenso gut beraten wie ein Lernender ohne Behinderungen, aber er braucht allenfalls Unterstützung, um sich im Lager zurechtzufinden.

Sensibilisierung aller Akteure

Die Jugendlichen sind während des Berufswahlprozesses mit weiteren Akteuren im Austausch, zum Beispiel mit ihren Lehrpersonen, Eltern, der Berufsberatung oder der SVA. Dabei sind sie mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert und finden auf ihrem Weg in den ersten Arbeitsmarkt teilweise nur unzureichend Unterstützung. Deshalb ist es essenziell, dass sämtliche involvierten Akteurinnen über die Vorteile einer inklusiven Berufsbildung informiert sind und versuchen, im Sinne der individuellen Möglichkeiten und Ressourcen der Jugendlichen passende Lösungen zu finden.

Unsere Umfrage zeigt, dass viele junge Menschen mit Behinderungen den Wunsch haben, dort zu arbeiten, «wo auch alle anderen arbeiten».

Unsere Umfrage zeigt, dass viele junge Menschen mit Behinderungen den Wunsch haben, dort zu arbeiten, «wo auch alle anderen arbeiten» (Jusufi, 2020, o. S.). Nicht-inklusive Berufsbildungen führen jedoch dazu, dass betroffene Jugendliche vermehrt und nachhaltig im zweiten Arbeitsmarkt verbleiben. Oft finden sie nicht in den ersten Arbeitsmarkt oder nur unter erschwerten Bedingungen (Zemp & Staub, 2022). Dies widerspricht sowohl den Bedürfnissen der Jugendlichen als auch dem geltenden Recht. Denn mit der Unterzeichnung der BRK geht auch ein Recht auf Arbeit im regulären, ersten Arbeitsmarkt einher.

Ressourcen ins Zentrum stellen

Um optimale Rahmenbedingungen zu schaffen, ist es wichtig, auf die individuellen Möglichkeiten und Ressourcen der Jugendlichen einzugehen. Was sich kompliziert anhört, muss es nicht sein. Oft können mit einfachen Massnahmen erfolgreich Jugendliche mit Behinderungen ausgebildet werden.

Dies zeigt das Beispiel der Züri Elektro AG. Ein gehörloser Jugendlicher konnte dort erfolgreich die Lehre zum Montage-Elektriker EFZ abschliessen. Dabei waren nur wenige Hilfestellungen nötig. So wurde der Jugendliche von einer Gebärdensprachdolmetscherin und einem Jobcoach unterstützt – finanziert durch die Invalidenversicherung (IV) – und konnte die Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung BSFH in Oerlikon besuchen. Zudem galt es, die Kommunikation zwischen dem gehörlosen Jugendlichen und den Teammitgliedern zu regeln, wobei unter anderem digitale Hilfsmittel zum Einsatz kamen.

Unterstützung durch Jobcoaching

Ein wirksames Instrument für die Unterstützung von Jugendlichen mit Behinderungen ist das Jobcoaching, da es individuell und bedarfsorientiert eingesetzt werden kann.

Ein wirksames Instrument für die Unterstützung von Jugendlichen mit Behinderungen ist das Jobcoaching, da es individuell und bedarfsorientiert eingesetzt werden kann. Ein Jobcoaching kann im Rahmen von Supported Education von der IV finanziert werden. Ziel des Jobcoachings ist es, dass Jugendliche mit Behinderungen erfolgreich ihre Lehre abschliessen können und langfristig im ersten Arbeitsmarkt inkludiert werden. Jobcoaches übernehmen eine Drehscheibenfunktion zwischen Lehrbetrieb und Fachstellen.

Auch die Studie von Hofmann, C. & Schaub, S. (2016) zeigt, dass Jugendliche, die im ersten Arbeitsmarkt nach dem Modell von Supported Education ausgebildet wurden, beruflich gut integriert und zufrieden mit ihrer Arbeitssituation sind. Dabei kann Geld, welches bisher in den zweiten Arbeitsmarkt geflossen ist, für Anpassungen im ersten Arbeitsmarkt genutzt werden – zum Beispiel für zugängliche Arbeitsplätze, Jobcoachings oder Begleitungen. Ein ähnliches Modell bildet die Subjektfinanzierung im Bereich Wohnen. Subjektfinanzierung könnte in diesem Zusammenhang so ausgelegt werden, dass Menschen mit Behinderungen behinderungsbedingte Unterstützung am Arbeitsplatz erhalten.

Vorteile für aktives Engagement

Klar ist: Um die Zugänglichkeit des ersten Arbeitsmarkts für Jugendliche mit Behinderungen zu verbessern und Inklusion voranzutreiben, braucht es neue Denk- und Lösungsansätze. Dafür benötigt es von allen beteiligten Akteurinnen und insbesondere den Lehrbetrieben Mut, neue Wege zu gehen. Eine inklusive Berufsbildung kann dann gelingen, wenn:

  • eine beidseitige Passung angestrebt wird,
  • alle beteiligten Akteure für die Relevanz und Vorteile inklusiver Berufsbildung sensibilisiert sind,
  • der Blick auf die Möglichkeiten und Ressourcen der Jugendlichen gerichtet wird,
  • Jugendliche und Ausbildungsverantwortliche etwa durch Jobcoaches unterstützt werden. Dazu könnten Gelder, die bislang in geschützte Arbeitsplätze geflossen sind, umverteilt werden.

Lehrstellenportal von EnableMe

Um den Weg von Jugendlichen mit Behinderungen in die Berufswelt weiter zu ebnen, hat EnableMe neben einem Job- auch ein Lehrstellenportal für Jugendliche mit Behinderungen lanciert.

Um den Weg von Jugendlichen mit Behinderungen in die Berufswelt weiter zu ebnen, hat EnableMe neben einem Job- auch ein Lehrstellenportal für Jugendliche mit Behinderungen lanciert. Dort finden Jugendliche, ihre Eltern und Lehrpersonen nicht nur Stellen von inklusiven Lehrbetrieben, sondern auch Informationen zum Thema Lehrstellensuche. So erhalten die Jugendlichen Tipps zur Bewerbung. Oder sie lernen die Merkmale der unterschiedlichen eidgenössisch anerkannten Ausbildungen wie Eidgenössisches Berufsattest (EBA) und Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) kennen. Schliesslich erfahren die Jugendlichen, weshalb eine Schnupperlehre so wichtig ist.

Darüber hinaus bietet EnableMe Jugendlichen die Möglichkeit, sich anonym im Forum oder persönlich im Rahmen des Peer-Programms auszutauschen. Bei einem Peer-Austausch werden Jugendliche ermutigt, sich Herausforderungen zu stellen und sich für ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben einzusetzen.

Hinter EnableMe, dessen Lehrstellenportal und anderen Angeboten steht die gemeinnützige, operative und spendenfinanzierte Stiftung MyHandicap. Diese wurde vor 20 Jahren von Joachim Schoss gegründet, der bei einem Motorradunfall seinen rechten Arm und sein rechtes Bein verloren hatte. Nachdem es ihm gelungen war, sich im Leben neu zu etablieren, hat er im Jahr 2004 die Stiftung MyHandicap gegründet. Mit dem Online-Portal EnableMe werden Menschen mit Behinderungen unterstützt, ein möglichst selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu führen.

Weitere Informationen

[1] Zu den Menschen mit Behinderungen zählen gemäss Definition der Vereinten Nationen (UNO) Personen, die langfristige körperliche, seelische oder geistige Behinderungen haben sowie mit Sinnesbeeinträchtigungen leben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Eine Behinderung kann also sowohl sichtbar als auch nicht sichtbar sein. Beispiele für nicht sichtbare Behinderungen sind Depressionen, Krebs, Diabetes, Epilepsie, MS oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Literaturverzeichnis

Zitiervorschlag

Lanker, M., & Heiniger, C. (2024). Empfehlungen für eine inklusive Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(15).

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