Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Befragung von Lehrkräften und üK-Leitenden

Inklusiv-digitale Bildung: Zukunftsperspektiven für die Berufsbildung?

Digitale Technologien sind spätestens seit der Pandemie zu einem festen Bestandteil der beruflichen Grundbildung geworden; das zeigt sich etwa in der Umsetzung von Bring-Your-Own-Device (BYOD) oder Blended-Learning-Konzepten an Berufsfachschulen und in überbetrieblichen Kursen (üK). Digitale Technologien bieten aber auch aus der Perspektive einer inklusiven Pädagogik ein grosses Potenzial. Eine inklusiv-digitalen Bildung verbindet die beiden Themen Inklusion und digitale Technologien in einem gemeinsamen Konzept; sie möchte Lernumgebungen schaffen, an denen alle Lernenden teilhaben können. Eine Umfrage an der EHB zeigt, dass die Studierenden solche Lernumgebungen wichtig finden und sich auch zutrauen, sie zu schaffen.


Digitale Technologien bergen Potenziale der Inklusion, wie beispielsweise Sprachlern-Apps, vielfältige Lernzugänge sowie Möglichkeiten zum personalisierten Lernen.

Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2014 ist Inklusion ein zentrales Bildungsthema; die Schweiz hat sich mit dem Ziel 4 der Agenda 2030 verpflichtet, eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung zu gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle zu fördern (EDA, 2020). Dabei rücken die Begriffe Teilhabe und Inklusion in den Mittelpunkt.

Inklusion kann eng als ein Konzept begriffen werden, das Menschen mit Behinderungen in den Blick nimmt. Ein weiteres Verständnis umfasst die individuellen Bedürfnisse aller Menschen und berücksichtigt deren Heterogenität (Rützel, 2014). Für die berufliche Grundbildung erscheint dieses weite Verständnis von Inklusion zielführend.

Die Initiative «Berufsbildung 2030» beschreibt die Digitalisierung als Megatrend für das zukünftige Lernen und damit als Chance für das lebenslange Lernen (SBFI, 2017, S. 8) und folgt dem Ziel 4 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (EDA, 2020). Allerdings führt die Digitalisierung auch zu einer Erhöhung der Anforderungen an die Lernenden, was zusätzliche Risiken der Exklusion birgt (vgl. Wüthrich, 2024, S. 7). So haben nicht alle Lernenden Zugang zu digitalen Technologien oder stabilen Internetverbindungen; zudem bestehen Unterschiede in den digitalen Kompetenzen, und es fehlt an barrierefreien Zugängen.

Die Digitalisierung ist spätestens seit der Pandemie ein zentrales Thema in den Berufsfachschulen und digitale Technologien sind fester Bestandteil des Unterrichts. In vielen Kantonen wurden dazu Bring-Your-Own-Device-Ansätze (BYOD) eingeführt, wobei die Umsetzung sehr unterschiedlich ist (Educa, 2021, S. 229). Zudem sind pädagogische Konzepte zum Blended Learning entstanden, die sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung tendenziell wenig an inklusiven didaktischen Massnahmen orientieren (Weber et al., 2024, S. 9). Blended Learning bezeichnet eine Lernform, die eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung und Kombination von traditionellem Präsenzunterricht und Formen des E-Learning anstrebt (Egli & Rüfenacht, 2020, S. 9).

Digitale Technologien bergen Potenziale der Inklusion, wie beispielsweise Sprachlern-Apps, vielfältige Lernzugänge sowie Möglichkeiten zum personalisierten Lernen. Allerdings nutzen Lehrkräfte an Berufsfachschulen assistive Technologien aktuell wenig in der Unterrichtsgestaltung (Schellenberg et al., 2021, S. 74). Wie gut digitale Technologien genutzt und inklusiv unterrichtet wird, hängt stark davon ab, wie ausgeprägt die Selbstwirksamkeit der Lehrpersonen ist (Wächter & Gorges, 2022; SBFI, 2021, S. 144). Studien zeigen zudem, dass Lehrkräfte insbesondere in der Berufseingangsphase stark gefordert sind (Rauseo et al., 2021, S. 14; Educa, 2021, S. 144). Zur Situation in den überbetrieblichen Kurszentren liegen keine Daten vor, obwohl der dritte Lernort üK für Konzepte wie BYOD, Blended Learning und mit Blick auf die Lernortkooperation zentrale Bedeutung hat (Egli & Rüfenacht, 2020, S. 12).

Inklusiv-digitale Bildung als gemeinsamer Ansatz

Die european-agency (2022) hat Visionen zur inklusiv-digitalen Bildung entwickelt; sie beschreiben das Zusammenspiel von Inklusion und digitalen Technologien zum Abbau von Barrieren und zur Erhöhung der Teilhabe auf allen Ebenen des Bildungssystems. Zentral ist dabei, dass Inklusion und Digitalisierung als voneinander abhängige und übergreifende Themenfelder zu denken sind, die sowohl die Ebene der Institution (z.B. Berufsfachschule, üK-Zentrum) als auch die Ebene des Individuums (z.B. Lernende, Lehrende) einbeziehen sollten. Es geht also nicht «nur» um die Umsetzung einer inklusiven Didaktik mit digitalen Technologien, sondern vielmehr um deren «beständig reflektierten und ausgewogenen Einsatz», um nicht zusätzliche Lernbarrieren zu schaffen (Mertens et al., 2022, S. 42). Digitale Technologien bieten, mit anderen Worten, neue Möglichkeiten für einen individualisierten Unterricht; sie können aber auch zu einem Mangel an sozialer Interaktion in der Klasse und zu einer Vernachlässigung des Lernens am «gemeinsamen Gegenstand» führen (Feuser, 2013, 282).

Standortbestimmung bei Lehrkräften und üK-Leitenden

Im Rahmen einer Studie an der EHB wurden Studierende in Studiengängen zur Lehrkraft und als üK-Leitende zu ihrer Selbstwirksamkeit zu einer inklusiv-digitaler Bildung befragt.

Vier Forschungsfragen standen im Zentrum der Studie:

  1. Wie beeinflussen die Haltungen und Einstellungen der Studierenden zur inklusiv-digitalen Bildung deren Bereitschaft zur Umsetzung entsprechender Konzepte?
  2. Welches Ausmass an lernbezogenem Wissen besitzen Studierende, um inklusiv-digitale Bildung gezielt und wirksam umzusetzen?
  3. Wie ausgeprägt ist das technische Wissen von Studierenden für die erfolgreiche Integration digitaler Technologien in inklusiv-digitale Bildung?
  4. Wie kompetent fühlen sich Studierende in der Gestaltung einer inklusiv-digitalen Lernumgebung?

Die Befragung wurde online durchgeführt (siehe Kastentext).

Zentrale Ergebnisse der Studie

Abbildung 1: Ergebnisse zur Selbstwirksamkeit in inklusiv-digitaler Bildung. Das Diagramm zeigt die Ergebnisse der Studie in Bezug auf die Mittelwerte (M), die die durchschnittlichen Werte der Befragung darstellen (Wert 1-6) und nachfolgend näher beschrieben werden.

Einstellungen und Haltungen zur Umsetzung im Unterricht und üK

Während Haltungen grundsätzlich auf persönlichen Überzeugungen basieren und als verhaltensresistent bezeichnet werden können, sind Einstellungen veränderbarer und beziehen sich auf die Bewertungen und Meinungen zu einer bestimmten Ausgangslage (Feyerer et al., 2016; McElvany et al., 2018, S. 847). Die Ergebnisse zeigen, dass kein signifikanter Unterschied in Bezug auf die Haltung der Lehrkräfte (M=4.35, SD=0.89) und der üK-Leitenden (M=4.15, SD=0.69) zu t1, t(119) = 1.142, p=0.26 besteht. Anders präsentiert sich die Einstellung. Hier ist ein signifikanter Unterschied zwischen den Lehrkräften (M=4.43, SD=0.81) und den üK-Leitenden (M=4.03, SD=0.87) zu t1, t(121) = 2.362, p=0.02 ersichtlich (Cohens’d=0.47). Es zeigt sich, dass Lehrkräfte im Vergleich zu üK-Leitenden der inklusiv-digitalen Bildung eine höhere Relevanz beimessen.

Ausmass an lernbezogenem Wissen

Es lässt sich festhalten, dass die Lehrkräfte und üK-Leitenden ihr eigenes lernbezogenes Wissen durchschnittlich hoch einschätzen.

Das lernbezogene Wissen umfasst Inhalte, die sich mit zur Umsetzung einer inklusiv-digitalen Bildung auf der Wissensebene beschäftigen. Beispielsweise mit welchen digitalen Technologien ein Lerninhalt idealerweise thematisiert werden kann oder welche Ansätze einer inklusiven Didaktik und medienbezogenen Lerntheorien im üK bzw. Unterricht als zielführend erscheinen. Es besteht kein signifikanter Unterschied in Bezug auf das lernbezogene Wissen der Lehrkräfte (M=3.99, SD=0.89) und der üK-Leitenden (M=4.22, SD=0.83) zu t1, t(121) = -1.131, p=0.19. Es lässt sich festhalten, dass die Lehrkräfte und üK-Leitenden ihr eigenes lernbezogenes Wissen durchschnittlich hoch einschätzen.

Ausprägung des technischen Wissens

Das technische Wissen greift Aspekte zu geeigneten Instrumenten zur Umsetzung inklusiv-digitaler Bildung auf. Einerseits steht hier der kompetente Umgang mit digitalen Technologien im Vordergrund (z.B. Umgang mit Whiteboards, technische Unterstützung im Rahmen von BYOD), andererseits aber auch das Wissen um den zielführenden Einsatz in Bezug auf inklusive didaktische Massnahmen. Also z.B. wie digitale Technologien so angepasst werden können, dass sie für alle Lernenden nutzbar sind oder wie digitale Lernmaterialien barrierefrei gestaltet werden können. Es besteht kein signifikanter Unterschied in Bezug auf das technische Wissen der Lehrpersonen (M=3.93, SD=1.10) und der üK-Leitenden (M=4.22, SD=0.95) zu t1, t(120) = 1.353, p=0.18. Insgesamt zeigt sich auch hier, dass sich die Studierenden hinsichtlich des Mittelwertes hoch einschätzen.

Selbsteingeschätzte Kompetenz

Inklusiv-digitale Bildung bezieht sich auf die konkrete Umsetzung im Unterricht bzw. im üK in der Konzeption einer entsprechenden Lernumgebung. Es geht um die Frage, ob Lerninhalte mit dem Ansatz der inklusiv-digitalen Bildung besser an die Lernenden vermittelt werden können als mit traditionellen Medien und wie individualisiertes/personalisiertes Lernen ermöglicht werden kann. Die Ergebnisse zeigen einen tendenziellen, signifikanten Effekt in Bezug auf die Gestaltung einer inklusiv-digitalen Lernumgebung der Lehrkräfte (M=4.30, SD=0.86) im Vergleich zu üK-Leitenden (M=3.97 SD=0.89) zu t1, t(119) = 1.847, p=0.07. Es lässt sich festhalten, dass sich die Lehrkräfte tendenziell ein höheres Wissen zuschreiben als üK-Leitende (Cohens’d=0.37).

Fazit und Implikationen für die Forschung und Praxis

Die Studie zeigt, dass die beiden Querschnittsthemen Inklusion und digitale Medien im Unterricht bzw. in den üK angekommen sind. Die Feststellung von Reber und Luginbühl (2016), dass Inklusion ohne digitale Technologien nicht mehr möglich ist, scheint somit in der beruflichen Grundbildung zumindest im Mindset der Lehrkräfte und üK-Leitenden verankert zu sein. Dazu lässt sich festhalten, dass Lehrkräfte der inklusiv-digitalen Bildung eine höhere Bedeutung beimessen als die üK-Leitenden. Ein möglicher Grund dafür sind die unterschiedlichen Zugänge, die der Lernort Berufsfachschule im Vergleich zum praxisorientierten üK bietet. Dennoch sind sowohl BYOD-Massnahmen als auch Ansätze inklusiver Pädagogik an beiden Lernorten relevant. In der Literatur wird die Einstellung als zentraler Prädiktor für eine inklusiv-digitale Bildung gesehen (Böttinger & Schulz, 2023). Daher wäre es sinnvoll, bereits in der Ausbildung für das Thema zu sensibilisieren und es stärker zu verankern. Die Ergebnisse legen nahe, dass dies im Studium zur Lehrkraft intensiver geschieht als in der Ausbildung von üK-Leitenden.

Tatsächlich bleiben Inklusion und digitale Technologien in der Praxis weitgehend getrennt und die Chance einer synergetischen Verknüpfung wird nicht genutzt.

Das lernbezogene und technische Wissen wird von den Befragten allgemein als hoch eingeschätzt – das ist bemerkenswert, da gerade in der Berufseinstiegsphase Herausforderungen beschrieben werden (Rauseo et al., 2021, S. 14; Educa, 2021, S. 144; Mertens et al., 2022, S. 40). Eine kritische Interpretation kann auch darin liegen, inwiefern die Querschnittsthemen Inklusion und digitale Technologien tatsächlich verknüpft gedacht werden. Tatsächlich bleiben Inklusion und digitale Technologien in der Praxis weitgehend getrennt und die Chance einer synergetischen Verknüpfung wird nicht genutzt (Bosse, 2019; Böttinger & Schulz, 2023). Im Rahmen dieser Studie könnte dies ebenfalls ein Aspekt sein, der weiter untersucht werden sollte. Darüber hinaus könnte der Effekt der sozialen Erwünschtheit eine weitere Erklärung für die allgemein hohe Einschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit sein.

Es stellt sich die Frage, wie eine inklusiv-digitale Bildung an den Lernorten Schule und üK gestaltet werden kann. Zudem sind zweifellos die Spezifika des Berufsfeldes zu berücksichtigen. Mertens et al. (2022, S. 41) kommen in ihrem Überblick über den aktuellen empirischen Forschungsstand zur inklusiv-digitalen Bildung zum Schluss, dass didaktische Prinzipien derzeit kaum erkennbar sind. Eine laufende Studie an der EHB zur Analyse von Unterrichtsplanungen von Studierenden soll hier Antworten geben. Weiter werden hierzu an der EHB auch Weiterbildungskurse angeboten.

Mit der im November lancierten «Allianz für digitale Inklusion» wird die Bedeutung einer inklusiv-digitalen Bildung auch von der Bundesebene aufgegriffen und impliziert Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung von üK-Leitenden und Lehrkräften im Sinne einer nachhaltigen Bildung. Die EHB ist hier als Gründungsmitglied bestrebt, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Forschungsdesign der Studie

Die Studie wurde im Zeitraum August und September 2024 an der EHB durchgeführt. Befragt wurden insgesamt 146 Studierende (davon 103 Lehrkräfte und 43 üK-Leitende).

Als Grundlage dienten die Fragebögen SWIT (Doll & Meyer, 2021) und SACIE-R/TEIP (Feyerer et al., 2016). Aus SWIT wurden die Skalen «Technisches Wissen», «Digitaler Unterricht» (adaptiert auf «Inklusiv-digitalen Unterricht») und «Lernbezogenes Wissen» verwendet, aus SACIE-R/TEIP die Skalen «Einstellungen» und «Haltungen». Alle fünf Skalen wurden um Indikatoren für inklusiv-digitalen Unterricht erweitert (CAST, 2018; Schaumburg, 2021; Bosse, 2019). Das Fragebogeninstrument enthält eine 6-stufige Likert-Skala (trifft überhaupt nicht zu – trifft voll und ganz zu) und zeigt eine gute interne Konsistenz in den einzelnen Skalen (Haltung= 0.86/ Einstellung= 0.82/ Lernbezogenes Wissen= 0.86/ Technisches Wissen= 0.86/ inklusiv-digitale Lernumgebung= 0.85). Es wurden verschiedene quantitative Datenanalysen durchgeführt.

Literatur

Zitiervorschlag

Wüthrich, R. (2024). Inklusiv-digitale Bildung: Zukunftsperspektiven für die Berufsbildung?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(15).

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