Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Forschungsprojekt «Wirkungen der Selektion» der FHNW

«Jede fünfte Lehre wird vorzeitig aufgelöst, das ist zuviel»

Wenn ein Lehrvertrag vor Lehrabschluss aufgelöst wird, ist das nicht immer ein Problem; viele Jugendliche starten erfolgreich in einem anderen Beruf oder einem neuen Betrieb. Aber über ein Drittel der Betroffenen braucht mehr als ein Jahr, bis eine neue Lösung gefunden ist.


Prof. Dr. Markus P. Neuenschwander ist Leiter Forschungszentrum Lernen und Sozialisation, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Brugg. Er leitet die Längsschnittstudie «Wirkungen der Selektion» (Wisel), die 2011 startete.

Markus Neuenschwander, rund 22 % der Lehrverträge werden vorzeitig aufgelöst. Ist das alarmierend?

Ich finde diese Quote zu hoch, sie ist deutlich höher als die Abbruchquoten in den Mittelschulen, und sie ist für einzelne Berufe, wo sie noch höher liegt, tatsächlich alarmierend. Allerdings setzen 79 % der betroffenen Jugendlichen die Ausbildung in einem anderen Betrieb fort oder steigen in eine andere Berufslehre ein. Die übrigen 21% ohne Fortsetzung haben ein erhöhtes Risiko, arbeitslos zu werden, weniger zu verdienen oder Sozialhilfe zu beziehen.

Wann kommt es zum Lehrabbruch?

Man sieht aus den neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik, dass 10 % der Lehrvertragsauflösungen noch in der Probezeit erfolgen, weitere 52 % im vierten bis zwölften Monat der Ausbildung.

Wie erfolgreich sind die Jugendlichen, wenn sie dann nochmals starten?

Wir haben keine Hinweise darauf, dass sie weniger erfolgreich wären als die anderen. Was wir aber zeigen können, ist, dass die Auflösung ihres Lehrvertrages für rund ein Viertel der Jugendlichen eine Chance darstellt: Sie zeigen nach dem Wechsel einen höheren Selbstwert, sind zufriedener und erreichen bessere Leistungen. Das sind meist Jugendliche, die weniger als einen Monat brauchen, um einen neuen Betrieb zu finden. Nicht jede Auflösung des Lehrvertrags ist ein Problem. Das gilt auch aus Sicht der Betriebe. In manchen Fällen bedeuten sie einen ökonomischen Verlust. In anderen Fällen aber sind die Betriebe über die Trennung froh.

Was passiert mit den weiteren drei Vierteln?

Nach einem halben Jahr hat die Hälfte der Jugendlichen wieder einen Ausbildungsplatz, nach einem Jahr rund 65 %. Je länger es dauert, desto schwieriger wird der Wiedereinstieg.

Lehrvertragsauflösungen führen – wenn nicht zum Dropout – zu Betriebs- oder zu Berufswechseln. Wie häufig sind sie?

Rund ein Drittel der Jugendlichen wechselt nach der Lehrvertragsauflösung den Betrieb, zwei Drittel den Beruf. Diese Zahlen sind allerdings nicht trennscharf; ein Berufswechsel kann mit einem Betriebswechsel kombiniert sein.

Gibt es spezifische Gründe, die eher zu einem Betriebs- oder Berufswechsel führen?

Ja. Berufswechsel hängen stark von den Jugendlichen selber ab. Ihre Neigung, einen anderen Beruf zu suchen, ist eine Folge, wie unsicher sie sind, ob der Beruf zu ihren Fähigkeiten oder Interessen passt. Das klingt banal. Aber bei Betriebswechseln spielt dieser Aspekt kaum eine Rolle: Hier wird die Lehrvertragsauflösung eher vom Betrieb initiiert. Weitere Aspekte, die Lehrvertragsauflösungen voraussagen, sind eine geringe Lernmotivation im 9. Schuljahr und die von den Jugendlichen selber wahrgenommenen Leistungen. Das gilt für betriebliche wie berufliche Neuanfänge.

Dann sind die Betriebe häufig schuld, wenn Jugendliche die Lehre schmeissen?

Ein Formular des Bundesamtes für Statistik enthält fast nur Aspekte, mit denen Mängel der Lernenden erhoben werden, nicht aber der Betriebe.

Ich spreche nicht von Schuld, wenn ich nach Faktoren suche, die eine Lehrvertragsauflösung erklären. Und diese werden von Jugendlichen und Betrieben sehr unterschiedlich beurteilt. Manche Jugendlichen missachten die Regeln, zeigen ungenügende Leistungen oder haben psychische Probleme. Aber es gibt auch Betriebe, die schlecht ausbilden. Leider werden diese Gründe kaum seriös erfasst. Ein Formular des Bundesamtes für Statistik enthält fast nur Aspekte, mit denen Mängel der Lernenden erhoben werden, nicht aber der Betriebe.

Wo sehen Sie grundlegende Defizite in der betrieblichen Bildung?

Die ersten Tage und Wochen einer Lehre haben eine hohe Wirkung darauf, wie wohl sich Jugendliche in ihrer neuen Rolle fühlen. Wie werden sie am ersten Tag begrüsst? Wieviel Zeit lässt man ihnen, anzukommen, gibt es Programme, um Personen und Orte kennenzulernen? Manche Betriebe führen Lernende wenig ein. Einen zweiten Punkt bilden konstruktive Gespräche zwischen Ausbildnerin und Lernendem. Gibt es sie überhaupt? Wie oft finden sie statt und wie wertschätzend verlaufen sie? Dafür muss ein funktionierendes System von Bezugspersonen da sein. Viele Betriebe machen das alles richtig. Sie ermöglichen den Lernenden, Fehler zu machen und zu lernen. Aber manche hätten am liebsten Lernende, die am Anfang der Ausbildung schon alles können und billig und schnell arbeiten.

Vor Kurzem hat eine Forscherin an dieser Stelle eine bessere Ausbildung für betriebliche Ausbildner gefordert.

Ich teile das. Dauer und Inhalte dieser Kurse müssen verbessert werden. Es ist auffällig, wie wenige Lehrvertragsauflösungen gewisse grosse Betriebe verzeichnen, weil sie professionelle Strukturen haben. Diese Leute wissen, wie man Jugendliche fördert und wie man vorzeitigen Lehrvertragsauflösungen vorbeugt.

Der Gewerbeverband behauptet gerne, Lehrvertragsauflösungen seien ein Ergebnis einer schlechten Berufswahl. Stimmt das?

Zwischenjahre reduzieren nicht das Risiko der vorzeitigen Lehrvertragsauflösung oder eines Scheiterns bei Lehrabschluss.

Unsere Daten zeigen, dass die Qualität der Berufswahl – zum Beispiel die Ausprägung der Passung zwischen den Jugendlichen und dem Beruf oder das Ausmass der Informiertheit der Jugendlichen über den Lehrbetrieb – einen eher geringen Einfluss darauf hat, wie häufig Lehrverträge vorzeitig gekündigt werden. Andere Faktoren – Motivation, Leistung, die betriebliche Situation – sind viel wichtiger. Zudem sind es ja nicht nur die Jugendlichen, die einen Beruf und Betrieb wählen; es sind auch die Betriebe, die Jugendliche als geeignet unter Vertrag nehmen.

Verringert ein Zwischenjahr das Risiko einer vorzeitigen Lehrvertragsauflösung?

Nein. Zwischenjahre verhindern effektiv, dass Jugendliche nach einer erfolglosen Suche eines Berufs oder einer Lehrstelle aus dem Bildungssystem rausfallen. Das ist wichtig. Aber sie reduzieren nicht das Risiko der vorzeitigen Lehrvertragsauflösung oder eines Scheiterns bei Lehrabschluss.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Alpha, Tages-Anzeiger. Weitere Informationen zum Projekt «Wirkungen der Selektion» sind auf der Projektwebsite zu finden.
Auf den Websiten der FHNW sowie von Die Volkswirtschaft sind weitere Beiträge zu den Ergebnissen von WiSel zu finden.

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2024). «Jede fünfte Lehre wird vorzeitig aufgelöst, das ist zuviel». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(3).

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