Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Stärkung des doppelten Kompetenzprofils von PH-Dozierenden

Lehrreiche Einblicke in die Wirklichkeit der beruflichen Bildung

In einem gemeinsamen Projekt der vier pädagogischen Ausbildungsinstitutionen (Luzern, St. Gallen, Zürich und EHB) haben Dozierende von Berufsbildungsverantwortlichen die drei Lernorte der beruflichen Grundbildung an zehn Halbtagen besucht. Die Reflexionen der Teilnehmenden über dieses «Shadowing» zeigen, wie komplex die Realität des Lernens an diesen Lernorten ist. Die Möglichkeit zu solchen Besuchen vor Ort sollte fester Teil der Aus- und Weiterbildung von PH-Dozierenden werden.


Die Aufgabe von Berufsfachschullehrpersonen ist es, Lernende kompetent für einen Beruf bzw. den beruflichen Arbeitsmarkt aus- und weiterzubilden. Damit Berufsfachschullehrpersonen diese anspruchsvolle Aufgabe wahrnehmen können, sind Aus- und Weiterbildung von grosser Bedeutung. Diese komplexe Aufgabe wiederum übernehmen Dozierende der Berufsbildung an Pädagogischen Hochschulen (PH).

Berufsfachschullehrerinnen und PH-Dozenten sehen sich mit besonderen Herausforderungen bezüglich ihres Kompetenzprofils konfrontiert. Beide können als Praktikerinnen der gleichen Profession verstanden werden, aber sie wirken an verschiedenen Orten – an Berufsfachschulen, in überbetrieblichen Kursen (üK) und Betrieben oder an Pädagogischen Hochschulen (Arpagaus 2020, S. 439). Ihnen gemeinsam ist das sogenannte doppelte Kompetenzprofil (Abbildung 1), das aufzeigt, dass sowohl Berufsfachschullehrer als auch PH-Dozentinnen für die Ausübung ihrer Tätigkeit ein umfangreiches Kompetenzrepertoire in verschiedenen Bezugsdisziplinen und Berufsfeldbezügen benötigen. Es umfasst Kompetenzen der Bezugsdisziplinen (Pädagogik, Erziehungswissenschaft ua., Quadrant I in der Abbildung 1) und Praxen des Lehrberufs (Unterricht an der Berufsfachschule, in den üK ua., Quadrant III) sowie Kompetenzen der Bezugsdisziplinen (z.B. Betriebswirtschaft bei Kaufmann EFZ, Quadrant II) und Praxen der Ausbildungsberufe (z.B. Erfahrung als Kauffrau EFZ, Quadrant IV). Das Referenzmodell von Arpagaus (2020) beschreibt und veranschaulicht dieses doppelte Kompetenzprofil von PH-Dozierenden und Berufsfachschullehrpersonen erstmals.

Abbildung 1: Referenzmodell für PH-Dozierende im Bereich der Berufsbildung (Arpagaus, 2020, S. 444).

Verschiedene Wege führen an die Pädagogische Hochschule

Bei Berufsfachschullehrerinnen wird das doppelte Kompetenzprofil durch die Zulassungsvoraussetzung zur Ausbildung sowie durch die Ausbildung selber sichergestellt. Angehende Berufsfachschullehrer müssen einen Abschluss auf Tertiärstufe in entsprechenden Fachbereich (z.B. Betriebswirtschaft) sowie betriebliche Erfahrung (z.B. als Kauffrau) mitbringen. Dies deckt die Kompetenzen des Ausbildungsberufs (Quadrant II und IV in Abbildung 1) ab. Im Verlauf der Ausbildung erwerben sie zusätzlich Kompetenzen des lehrenden Berufs (Quadrant I und III). Diese umfassen die entsprechenden Bezugsdisziplinen (Pädagogik, Erziehungswissenschaft ua.) und Praxen des Lehrberufs (z.B. mittels Praktika oder Lehrtätigkeit an einer Berufsfachschule).

PH-Dozenten benötigen ein vergleichbares Kompetenzprofil. Sie fokussieren sich jedoch auf die Forschung und Lehre im lehrenden Beruf (Arpagaus, 2020, S. 440). Zudem ist der Ort ihres Wirkens bzw. der Berufsfeldbezug des lehrenden Berufs die Pädagogische Hochschule und nicht einer der drei Lernorte. Für PH-Dozentinnen gibt es keinen etablierten und institutionalisierten Weg zur Qualifizierung. Oft lassen sich PH-Dozenten einem von zwei berufsbiografischen Profilen zuordnen. Die einen absolvieren ein Hochschulstudium und kommen so zu einer Anstellung als PH-Dozierende. Ihnen fehlt oft der Berufsfeldbezug im Lehr- und/oder im Ausbildungsberuf. Ein weiterer Weg führt über das Berufsfeld. Diesen PH-Dozenten fehlt teilweise der Bezug zum Berufsfeld bzw. der Bezugsdisziplin des lehrenden Berufs. Nur ein Teil verfügt über ein berufsbiografisches Profil, das das doppelte Kompetenzprofil komplett abdeckt. Dies erschwert den Hochschulen die Rekrutierung und Qualifizierung von PH-Dozentinnen.

Pilotprogramm zur Qualifizierung von PH-Dozierenden

Bereits praktizierende oder angehende PH-Dozierende erhielten die Möglichkeit, mittels zehn halbtägiger Shadowings verschiedene Lernorte der Berufsbildung zu besuchen.

Das vom Bund mitfinanzierte und durch die PH Luzern, PH St. Gallen, PH Zürich und die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) getragene Projekt PgB-P11 «Nachwuchsförderung für Dozierende der Qualifizierung von Berufsbildungsverantwortlichen» setzt bei dieser Herausforderung an. Mithilfe eines Qualifizierungsprogramms wird es angehenden und bereits tätigen PH-Dozenten an den erwähnten Hochschulen ermöglicht, ihr Kompetenzprofil individuell zu stärken. Das Qualifizierungsprogramm wurde unter Einbezug relevanter Stakeholder der Berufsbildung entwickelt. Es konnte als Pilotprogramm im Rahmen des Projekts zweimal durchgeführt werden. Bereits praktizierende oder angehende PH-Dozierende erhielten so die Möglichkeit, mittels zehn halbtägiger Shadowings verschiedene Lernorte der Berufsbildung zu besuchen. Dies ermöglichte es ihnen, mit Lehrenden und Lernenden in Verbindung zu treten, sich auszutauschen und deren Praxen zu beobachten. Insgesamt haben an den beiden Pilotdurchführungen des Qualifizierungsprogramms 30 Dozierende teilgenommen. Die Shadowings wurden flankiert durch ein Rahmenprogramm, an dem sich die Teilnehmer hochschulübergreifend über ihre Erfahrungen austauschten.

Die Teilnehmerinnen dokumentierten und reflektierten die Erkenntnisse ihres Job-Shadowings in einem Portfolio. Diese Dokumentationen stehen künftigen Teilnehmern und interessierten Personen an der jeweiligen Hochschule zur Verfügung.

Konkrete Beobachtungen und Erkenntnisse

Die Dokumentationen zeugen eindrücklich davon, wie wertvoll die Dozentinnen diese Erfahrung empfanden. Sie widerspiegeln aber auch deren höchst unterschiedliche bildungs- und berufsbiografischen Hintergründe. Im Konzept waren die Ziele des Shadowings und die Gestaltung des Portfolios sehr offen gehalten worden.

Nachfolgend werden Beobachtungen und Erkenntnisse der Dozenten in der Form von zusammenfassenden, sinngemässen Zitaten wiedergegeben. Die meisten betrafen das Lernen.

Auch im Betrieb wird den Lernenden, wenn sie etwas nicht verstehen, nicht einfach gesagt, was sie nun tun müssen. Vielmehr wird durch gezieltes Fragen die oder der Lernende dazu gebracht, das Problem selbst zu lösen.

  • Berufliches Lernen umfasst nicht nur kognitives Lernen. Je nach Beruf müssen auch die Tast-, Seh-, Hör-, Geruch- und Geschmacksinne gefördert werden.
  • In vielen Berufen muss das grundlegende fachspezifische Wissen stark verdichtet werden, so dass es schnell bzw. automatisch abgerufen werden kann. Routinehandeln und subroutiniertes Handeln sind sehr wesentlich.
  • Ein wesentliches Element beruflicher Kompetenz ist die Fähigkeit, berufliches Können mit den spezifischen Bedürfnissen der Kundschaft in Einklang zu bringen.
  • Der Kompetenzaufbau der Lernenden erfolgt sehr individuell, indem die Berufsbildungsverantwortlichen den Lernenden Aufträge erteilen, die ihrem Niveau entsprechen und eine Herausforderung stellen. Auch das Wiederholen von Arbeitsschritten wird gezielt eingesetzt.
  • Durch das konstruktivistische Lernen im Betrieb erwerben die Lernenden mehr als nur rein berufliche Kompetenzen. In überbetrieblichen Kursen hingegen ermöglicht kognitivistisches Lernen Wirksamkeit und Effizienz, indem die Kursverantwortlichen insbesondere die Lernprozesse der schwächeren Lernenden stark steuern.
  • Auch im Betrieb wird den Lernenden, wenn sie etwas nicht verstehen, nicht einfach gesagt, was sie nun tun müssen. Vielmehr wird durch gezieltes Fragen die oder der Lernende dazu gebracht, das Problem selbst zu lösen. Sie oder er muss die Vorgehensweise überdenken und dabei das Vorwissen aktivieren und andere bekannte Wege in Erwägung ziehen. So wird selbständiges Lernen gefördert.
  • Die Lernenden werden immer wieder aufgefordert, explizit zu begründen, was und warum sie etwas machen.
  • Die Lernenden haben in der Regel kein elaboriertes Lernverständnis; oft wissen sie gar nicht, welche potenziellen Fähigkeiten in ihnen schlummern. Das heisst, dass Berufsbildungsverantwortliche mit einem anderen Blick auf die Lernenden zugehen und quasi deren Perspektive einnehmen müssen. Lernprozesse müssen auch im Betrieb und im üK systematisch reflektiert und das unbewusste Potenzial ins Bewusstsein gehoben und gefördert werden.
  • Im Betrieb arbeiten und lernen die Lernenden häufig im Team, sie erfahren, dass jeder Arbeitsschritt auf die anderen abgestimmt sein muss und dass die geleistete Arbeit oft ein Teil eines grossen Ganzen ist. In der Berufsfachschule hingegen sind sie oft «Einzelkämpferinnen und -kämpfer».
  • Auch die Lernenden müssen über ein doppeltes Kompetenzprofil verfügen: Einerseits sind sie Schülerinnen, anderseits sind sie Arbeiter in einem Betrieb, der ökonomische Ziele verfolgt.
  • Je höher der Praxisbezug der Ausbildung ist, desto grösser sind die Motivation und die Bereitschaft der Lernenden, sich anzustrengen. Das macht das Lehren und Lernen in der Berufsfachschule zuweilen nicht einfach.
  • Gute Ausbildungsverantwortliche im Betrieb fördern die Motivation der Lernenden mit Erzählungen über eindrückliche berufliche Erfolge, aber auch, indem sie offen über eigene Lernschwierigkeiten sprechen.
  • Bei den Lernenden entwickelt sich relativ schnell ein Berufsstolz, der sich auch darin zeigt, dass sie gegenüber neuen Lerninhalten sehr offen sind und grosses Interesse und hohe Lernbereitschaft zeigen.

Zu allen drei Lernorten wurden aber auch Beispiele genannt, in denen nur Oberflächenlernen stattfand. Ebenso zeigte sich, dass tiefenstrukturelles Lernen (z.B. beim Lernmodell Vorzeigen-Nachmachen) überhaupt nicht ermöglicht wurde.

Kritisch angemerkt wurde auch, dass die Lernortkooperation zwischen Betrieb und üK oft herausfordernd sei, da besonders in grossen Betrieben, in denen die Lernenden in unterschiedlichen Abteilungen ausgebildet werden, die Abfolge der jeweiligen Abteilungen nicht für alle Lernenden optimal mit den Themen der üK übereinstimme. Spreche man mit Berufsbildungsverantwortlichen in Betreiben und üK, so werde darauf hingewiesen, dass die Lernortkooperation in einem eher zufälligen Austausch bestehe, der besonders dann stattfinde, wenn etwas nicht gut laufe.

Die Dozentinnen formulierten auch wichtige Erkenntnisse für Lehrer an Berufsfachschulen:

Lehrer sollten nicht einfach klein beigeben, wenn die Praxis hochgelobt und der Theorie der Wert abgesprochen wird.

  • Berufe, Branchenkultur, Vorgaben innerhalb von Institutionen bzw. Leitbilder von Betrieben, explizite und implizite Organisationskultur, Überzeugungen der Kursverantwortlichen bzw. der Berufsbildungsverantwortlichen in den Betrieben – das alles spielt eine wesentliche Rolle beim Lehr-Lern-Verständnis an den beiden Lernorten üK und Betrieb. Das heisst, es ist sehr wichtig und wertvoll, wenn Dozierende diese spezifischen Vorstellungen kennen, was nur im engen Kontakt und Austausch mir den entsprechenden Akteurinnen erfolgen kann.
  • Lehrer sollten nicht einfach klein beigeben, wenn die Praxis hochgelobt und der Theorie der Wert abgesprochen wird. Und sie müssen immer wieder zeigen – besonders in ihrem Kontextverhalten –, dass viel Erfahrung nicht gleichzusetzen ist mit Vermittlungskompetenz. Auch sie sollten einen gesunden Berufsstolz zeigen.
  • Lehrerinnen in der Berufsbildung müssen wegkommen von ihrem engen Schulzimmerdenken und dort andocken, woher die Lernenden kommen, und immer auch bedenken, wohin sie nach der Ausbildung gehen. Daher müssen sie die verschiedenen Lernbiografien kennen und wissen, was die Lernenden zum Beispiel in der BM2 und in der Höheren Berufsbildung erwartet und diese dafür fit machen.
  • Auch im Schulzimmer kann am Berufsethos gearbeitet werden; entsprechende Grundwerte, Haltungen und Überzeugungen können gefördert werden.
  • Lehrerinnen in der Berufsbildung müssen das Bewusstsein haben, dass sie Teil eines von drei Lernorten sind, und sie müssen die anderen Lernorte auch gut kennen. Das bedeutet, dass BM-, ABU- und hauptamtliche BK-Lehrer, sofern diese nicht mehr in einem Betrieb arbeiten, regelmässig Einblick in die anderen Lernorte gewinnen sollten.
  • ABU- und BM- Lehrer können mit gezielten Interviews mit Lernenden in Erfahrung bringen, welche spezifischen beruflichen und überfachlichen Kompetenzen sie für ihren Beruf erwerben. Dabei werden die Lernenden zu Experten und die Lehrerinnen zu Lernenden. Dieser Rollentausch ist für beide Seiten sehr wertvoll.
  • Auch BM- und ABU-Lehrerinnen sollten immer wieder mit Lernenden informell über deren Arbeit sprechen und Erkenntnisse daraus in den Unterricht integrieren.

Und auch für die Verstetigung des Programms sprachen sich die Dozierenden aus, zum Beispiel:

  • Die Dozenten sollten alle drei Jahre ein solches Projekt durchführen können. Somit könnten die Ausbildungsinstitutionen auch eine vierte neutrale Sicht einbringen und damit die Lernortkooperation noch verstärken.
  • Um als Dozentin einen Beruf richtig kennenzulernen, müsste man wohl eine Woche lang die Rolle einer Lernenden einnehmen.
  • Idealerweise könnten Dozenten in der Berufsbildung jedes Jahr solche Shadowings machen, und wichtig ist auch die Reflexion und der Austausch mit Kolleginnen.

Fazit

Statt von einer Stärkung des doppelten Kompetenzprofils sollte man besser von der Erweiterung auf ein dreifaches Kompetenzprofil sprechen.

Das Projekt war sehr erfolgreich, indem es bei den teilnehmenden Dozierenden das Bewusstsein weckte, wie wichtig der Einblick in die Praxis der beruflichen Bildung für ihre Lehre ist. Da auch hoch qualifizierte Bewerberinnen für eine Dozentenstelle kaum über diese dritte Komponente verfügen, müssen die Ausbildungsinstitutionen dafür besorgt sein, dass alle Dozierenden – nicht nur der Nachwuchs – diese Kompetenzen aufbauen können. Dies geschieht nicht über eine einmalige Weiterbildung. Vielmehr sollten die Dozentinnen regelmässig wiederholend (etwa alle drei Jahre) ein Shadowing absolvieren, in etwa in der Form des aktuellen Projekts. Dafür muss den Dozenten ein zusätzliches Zeitbudget zum allgemeinen Weiterbildungs-Zeitbudget zur Verfügung gestellt werden. Und im Sinne des Wissensmanagements muss im Anschluss daran ein intensiver Erfahrungsaustausch unter den Dozentinnen stattfinden, und die Erkenntnisse müssen systematisiert und allen Dozenten zur Verfügung gestellt werden.

Statt von einer Stärkung des doppelten Kompetenzprofils sollte man besser von der Erweiterung auf ein dreifaches Kompetenzprofil sprechen, denn die dritte Komponente, der tiefe Einblick in die Praxis der beruflichen Bildung an den drei Lernorten, hat eine eigene Qualität. Dieses notwendige Kompetenzprofil fordert Dozierende in der Ausbildung von Berufsbildungsverantwortlichen noch mehr heraus als die Dozierenden in der Ausbildung von Volksschullehrpersonen. Dieses Bewusstsein ist bei den Führungspersonen in den Pädagogischen Hochschulen leider kaum vorhanden.

Literatur

Arpagaus, J. (2020). Doppeltes Kompetenzprofil von PH-Dozierenden im Bereich der Berufsbildung. Beiträge Zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 38(3), 435–447.

Zitiervorschlag

Caduff, C., & Käslin, F. (2024). Lehrreiche Einblicke in die Wirklichkeit der beruflichen Bildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(14).

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