Berufsbildung in Forschung und Praxis
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20 Jahre Berufsbildungsgesetz

Das Berufsbildungsgesetz muss weiterentwickelt werden

Kaum ein Gesetz hat so viele Innovationen ausgelöst wie das Berufsbildungsgesetz vom 1. Januar 2004. Es hat viele Probleme beseitigt und die Schweizer Berufsbildung auf ein neues Level gehoben. Aber auch das beste Gesetz sollte nach den ersten Erfahrungen evaluiert und ständig weiterentwickelt werden. Dass das in der Berufsbildung nicht passiert, ist für die deren Zukunft schade. Darunter leiden unter anderem besonders talentierte Jugendliche, aber auch die schwächeren Lernenden.


In einem Beitrag in Transfer hat der emeritierte Professor für Berufsbildung, Philipp Gonon, eine Reform des Berufsbildungsgesetzes angeregt. Auch wenn er die Forderung nicht konkretisierte, so geben seine Überlegungen Hinweise auf reformwürdige Punkte. Mit meinem Beitrag möchte ich den Impuls von Philipp Gonon aufgreifen und aus meiner Sicht konkrete Hinweise auf Reformgründe geben. Dabei sollen nicht alle Details erwähnt werden, die verbesserungswürdig sind. Wichtig für die Berufsbildung der Zukunft und auch für die weitere wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz sind aber die folgenden Forderungen:

  • Unterricht und Lehrabschlussprüfungen in Englisch als landesübliche Sprache sind möglich und anerkannt.
  • Auslandsaufenthalte sind einfacher möglich, damit die Berufsbildung attraktiver wird.
  • Die Inklusion wird endlich ernst genommen, INSOS wird als Organisation der Arbeitswelt anerkannt und die INSOS-Praktiker/innen-Ausbildungen werden als Eidgenössischen Abschlüsse anerkannt.
  • Die Qualitätsentwicklung wird ernst genommen.
  • Die laufende Professionalisierung der Berufsbildenden im Lehrbetrieb wird im Gesetz aufgenommen; die Anforderungen an diese Fachpersonen werden an die heutigen Ansprüche angepasst.
  • Die Grundlagen (Wissen und Methoden) zum handlungsorientierten Lernen werden konsequenter erforscht und entwickelt.
  • Die anspruchsvollsten Abschlüsse der Höheren Berufsbildung können den Titel Professional Bachelor oder Professional Master führen.
  • Das Bildungssystem wird noch durchlässiger.

Englisch als landesübliche Sprache

Unsere Berufsbildung würde mit einem Schlag zum Exportschlager.

Heute werden alle Bildungsverordnungen, Bildungspläne und Lehrmittel in den Landessprachen angeboten. Unterricht und Lehrabschlussprüfungen sind nur in den Landessprachen (oder in bilingualem Unterricht) erlaubt. Dies entspricht nicht den Forderungen der Zeit.

Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts ist international. In vielen Firmen wird nur Englisch gesprochen. Viele Lernende möchten nach der Lehre Auslandsaufenthalte machen und benötigen deshalb Business-Englisch. In den Schweizer Städten leben viele ausländische Arbeitnehmende, die eine berufliche Grundbildung in englischer Sprache gut bewältigen könnten – aber sie müssen zuerst Deutsch lernen. Für das Niveau B1 gehen dabei manchmal zwei Jahre verloren.

Wenn im Gesetz neu Unterricht und Lehrabschlussprüfung in den «landesüblichen» Sprachen möglich wären, könnte man Berufsfachschulunterricht und überbetriebliche Kurse auch in englischer Sprache anbieten. Unsere Berufsbildung würde mit einem Schlag zum Exportschlager, wenn Bildungsverordnungen, Bildungspläne und Lehrmittel auch in Englisch verfügbar wären. Das würde zwar einiges kosten, würde aber unsere Berufsbildung auf internationaler Ebene noch attraktiver machen.

Auslandsaufenthalte während der Lehre erleichtern

Es wäre heute schon wünschenswert, wenn mehr Lernende während der Lehre einen Auslandsaufenthalt machen könnten. Die berufliche Grundbildung würde attraktiver und die beruflichen Erfahrungen der Lernenden würden bereichert. Tatsächlich möchten viele Lernende einen Auslandsaufenthalt machen. Oft scheitert das Vorhaben aber an der praktischen Umsetzung. Die Rahmenbedingungen müssten unbedingt verbessert werden. Heute wäre es zum Beispiel technisch machbar, dass Lernende dem Berufsfachschulunterricht remote aus dem Ausland folgen. Oft fehlt aber die Infrastruktur. Vielleicht müsste im Gesetz genau präzisiert werden, wie man dem Unterricht folgen kann. Heute ist in vielen Rahmenlehrplänen Präsenzunterricht vorgeschrieben, zudem bestehen viele Schulen darauf, dass Lernende fast lückenlos präsent sind. Aber weder das Berufsbildungsgesetz noch die Berufsbildungsverordnung sagen etwas zur Definition von Präsenzunterricht. Warum kann man dann nicht auch online präsent sein?

Inklusion ernster nehmen

Es ist dringend notwendig, dass INSOS auch als Organisation der Arbeitswelt anerkannt wird und dass ihre Ausbildungen, die sie eigenständig entwickelt hat, auch ins Berufsbildungsgesetz integriert werden.

Die Berufsbildung ist ein ideales Gefäss für Inklusion. Obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz eine Integration von Behinderten verlangt, bestehen in der Berufsbildung noch zu viele Hürden. INSOS, der Branchenverband für Dienstleiter für Menschen mit Behinderung, hat mit den INSOS-Praktiker/innen-Ausbildungen eine gute Plattform geschaffen, um beeinträchtigte Personen auf den Einstieg in die Berufsbildung vorzubereiten. Bis heute wehrt sich die Wirtschaft dagegen, diese Ausbildungen in die Berufsbildung zu integrieren. Es ist dringend notwendig, dass INSOS auch als Organisation der Arbeitswelt anerkannt wird und dass ihre Ausbildungen, die sie eigenständig entwickelt hat, auch ins Berufsbildungsgesetz integriert werden. So erhalten diese Abschlüsse eine eidgenössische Anerkennung. Das grosse Potenzial der Berufsbildung für die Inklusion könnte so endlich ausgeschöpft werden. Für viele Einzelschicksale würde der Einstieg in die Berufsbildung erleichtert. Und: Die grossen Anstrengungen von INSOS würden die verdiente Anerkennung finden.

Qualitätsentwicklung ernst nehmen

Der Artikel 8 des Berufsbildungsgesetzes enthält zwei Abschnitte.

  1. Die Anbieter von Berufsbildung stellen die Qualitätsentwicklung sicher.
  2. Der Bund fördert die Qualitätsentwicklung, stellt Qualitätsstandards auf und überwacht deren Einhaltung.

Beide Abschnitte wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes einfach unbeachtet gelassen. Es gab einmal einen Prozess, der die Qualitätsentwicklung anstossen wollte. Resultat war die Qualicarte. Diese scheiterte aber daran, dass in den Karten Qualitätsindikatoren und Qualitätsanforderungen verwechselt wurden. In vielen Diskussionen spüre ich heute noch, dass auch gut ausgebildete Fachleute den Unterschied zwischen einem Indikator und einer Anforderung nicht wirklich verstehen. Anstelle einer guten Qualitätsentwicklung haben Organisationen der Arbeitswelt Labels entwickelt. Bei diesen Labels geht es meist um das Wohlbefinden der Lernenden und kaum je um Bildungsqualität. Die Betriebe verwenden diese Lables in erster Linie für das Lehrstellenmarketing. Auch das Know-how, wie man Bildungsqualität messen könnte, ist in den letzten Jahren leider abhandengekommen. Viele wissenschaftliche Studien in diesem Bereich haben mich in den letzten Jahren schwer enttäuscht. Man müsste den Mut haben, den Artikel 8 entweder ernst zu nehmen oder dann völlig zu streichen.

Die Professionalisierung der Berufsbildenden vorantreiben

Es sollte für Berufsbildende nicht nur die Grundanforderung formuliert, sondern auch eine Pflicht zur Weiterbildung.

Eine erfreuliche Entwicklung ist die Professionalisierung der Berufsbildenden im Lehrbetrieb. Viele Betriebe bilden ihre Berufsbildenden besser aus als es unbedingt notwendig wäre. Es sind neue Ausbildungen entstanden, die zur Professionalisierung beitragen. Ich möchte hier insbesondere den Fachausweis Fachfrau/Fachmann Berufsbildung erwähnen.

Bereits 2003 hatten breite Kreise gefordert, dass im Gesetz höhere Anforderungen an Berufsbildende formuliert werden. Die Wirtschaft hat sich erfolgreich dagegen gewehrt. Heute hat uns die Realität eingeholt. Die Anforderungen an Berufsbildende sollten den modernen Ansprüchen angepasst werden. Alle sind sich einig: Die wichtigsten Personen in unserer Berufsbildung sind die Fachkräfte, die in den Betrieben den jungen Menschen ihr Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben. Die Wertschätzung für ihre Arbeit würde steigen, wenn nicht nur ein kleiner Kurs von fünf Tagen sie für die Rolle qualifizieren würde. Es sollte nicht nur die Grundanforderung formuliert, sondern auch eine Pflicht zur Weiterbildung (fachlich und in der Rolle als Berufsbildende) gesetzlich verankert werden.

Handlungsorientiertes Lernen endlich flächendeckend einführen

Die grösste Entwicklung unter dem neuen Berufsbildungsgesetz ist sicherlich der Sprung vom Fachunterricht in die Handlungsorientierung. Trotzdem lese ich auch heute immer wieder Artikel, in denen meist ältere Pädagogen diesen Sprung verdammen. Sie möchten wieder zurück zu den Fächern. Warum verstehen auch heute noch viele Lehrpersonen und viele Fachleute nicht wirklich, was eine konsequente Ausrichtung auf Handlungsorientierung bedeutet? – Wir haben es in den letzten zwanzig Jahren verpasst, die Ideen und Visionen aus den Neunziger-Jahren konsequent weiterzuentwickeln, zu untersuchen und mit neuen Methoden zu bereichern. Die Masterminds der Entwicklung, die ich heute noch bewundere, waren für mich Andreas Grassi und Hans-Ulrich Haeberli vom damaligen SIBP. Viele verstanden sie damals nicht, ihre Saat geht erst heute langsam auf. Einige engagierte Personen machen mir Hoffnung. Aber in der Breite des Berufsfachschulunterrichts erschrecke ich immer wieder, wie sehr Lehrpersonen noch an den alten Methoden und am Fachunterricht festhalten – trotz anders lautenden Vorgaben.

Professional Bachelor und Professional Master ermöglichen

Die Höhere Berufsbildung ist eine Perle unserer Bildungslandschaft. In der Höheren Berufsbildung können Verbände schnell auf moderne Entwicklungen reagieren und neue Angebote entwickeln. Das Problem: Wir haben zwar hoch anspruchsvolle Bildungsabschlüsse in der Höheren Berufsbildung. Die Titel dieser Abschlüsse werden aber weder in der Schweiz (bei internationalen Firmen) noch im Ausland verstanden. Dieses Problem könnte mit wenig Aufwand gelöst werden: Fachausweise erhalten den Titelzusatz «Professional Bachelor» und Eidgenössische Diplome «Professional Master».

Durchlässigkeit verbessern

Hier sollte der Gesetzgeber eingreifen und den kantonalen Wildwuchs unterbinden.

Das Berufsbildungssystem hat die Durchlässigkeit des Systems stark verbessert. Das Motto «kein Abschluss ohne Anschluss» wurde konsequent umgesetzt. Trotzdem sind überall im System wieder Hürden entstanden, die moderne und heterogene Karriereverläufe erschweren. Ein Beispiel: Berufsmaturandinnen und Berufsmaturanden wird ein prüfungsfreier Übertritt in die pädagogischen Hochschulen verwehrt. Das macht in der heutigen Berufswelt, in der es an Fachkräften mangelt, wenig Sinn. Zudem tut es jeder Schule gut, wenn Lehrpersonen mit unterschiedlichen Karriereverläufen parallel unterrichten. Hier sollte der Gesetzgeber eingreifen und den kantonalen Wildwuchs unterbinden.

Zwanzig Jahre BBG – eine breite Evaluation fehlt

Im kommenden Jahr 2024 werden wir zwanzig Jahre Erfahrungen mit dem neuen Berufsbildungsgesetz haben. Es wäre ein guter Zeitpunkt, um das Gesetz und seine Auswirkungen zu evaluieren. Wir würden – so vermute ich – feststellen, dass das die Ziele, die damals von den Kantonen und von Bundesrat Joseph Deiss formuliert wurden, zum Grossteil erreicht sind. Das ist sehr erfreulich. Aber wir würden wohl auch feststellen, dass wir grosse Chancen vergeben, wenn wir die Schwächen nicht ausmerzen und das Gesetz zugunsten einer wunderbaren Zukunft unserer Berufsbildung anpassen.

Zitiervorschlag

Tresoldi, P. (2023). Das Berufsbildungsgesetz muss weiterentwickelt werden. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(9).

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