SGAB-Tagung «Kompetenzorientierung im Prüfungsprozess»
Alte Schläuche – aber neuer Wein
Das Prüfen von beruflichen Kompetenzen stellt Prüfungsexpertinnen und -experten vor neue Herausforderungen. Sie müssen Kriterien für ihre Beurteilungen und transparente Leistungsanforderungen formulieren. In der von rund 50 Personen besuchten SGAB-Tagung «Wie kompetenzorientiert prüfen Betrieb, Schule und Branche?» gingen Fachpersonen diesen neuen Anforderungen auf den Grund. Wir publizieren die Überlegungen von Katja Dannecker, EHB.
Die berufliche Grundbildung zielt auf die Vermittlung und den Erwerb der berufsspezifischen Qualifikationen, welche die Lernenden dazu befähigen, eine Berufstätigkeit kompetent und sicher auszuüben. So definiert es das Berufsbildungsgesetz (BBG Art 15 Abs 2 Bst a). Kompetenzorientiert prüfen bedeutet zu beurteilen, wie eine Person berufliche Handlungssituationen meistert. Bringt die Kandidatin dafür das notwendige Wissen und Können mit (Wissen und Können umfassend verstanden als fachliche, methodische, soziale und personelle Kompetenz, die in einer konkreten Berufssituation gezeigt werden können)?
Konstruktivistisches Lehr- und Lernverständnis
Die Idee, eine Selektion zwischen geeigneten und ungeeigneten Kandidaten vorzunehmen und deren Leistung exakt zu klassieren, widerspricht dem Grundsatz der individuellen Konstruktion von Wissen.
Kompetenzorientierung basiert auf dem konstruktivistischen Lehr- und Lernverständnis: «Lernen ist ein aktiver Prozess und Lernende sind Konstrukteure ihres Wissenserwerbs» (nach Weinert 2012:48). Jeder Lernende ist vom anderen verschieden und setzt neues Wissen in Bezug zu bereits erworbenem. In konkreten beruflichen Handlungssituationen – beispielsweise in der Menüplanung, beim Schweissen eines Zylinders oder bei der Durchführung einer Kopfmassage – soll das vorhandene Wissen und Können situativ korrekt eingesetzt werden. Nicht zufällig wird hierfür in der Berufspädagogik ein Ausdruck verwendet, der Bewegung, also Aktivität signalisiert: Wir sprechen von der situationsadäquaten Mobilisierung von Ressourcen. Lehr- und Lernwege einzelner Personen – und damit auch von Kandidaten in Prüfverfahren – sind damit individuell verschieden.
Das Bemühen um Kompetenzorientierung hat dazu geführt, dass förderorientierte Massnahmen, die der Entwicklung und nicht der Selektion dienen, an Bedeutung gewinnen. Beispiele dafür sind Standortgespräche zwischen Berufsbildnern und Lernenden, Portfolioarbeiten, die Korrektur von Arbeiten durch Lernende selbst und die Selbstreflexion über geleistete Arbeiten. Diese Instrumente haben – mit Ausnahme der Korrektur der Arbeiten durch Lernende – längst Eingang in die Bildungsverordnungen aller Berufe gefunden. Dennoch wird in der Schweiz nach wie vor notengestützt beurteilt und bewertet. Wird Kompetenzorientierung radikal zu Ende gedacht, stellt sie summative, notengestützte Prüfverfahren aber in Frage. Die Idee, eine Selektion zwischen geeigneten und ungeeigneten Kandidaten vorzunehmen und deren Leistung exakt zu klassieren, widerspricht dem Grundsatz der individuellen Konstruktion von Wissen. Das Gleiche gilt für die klassischen Prüfungskriterien, deren Ziel faire, also objektive und nachvollziehbare Prüfungen sind. Gehen wir davon aus, dass nur die Kandidatinnen selber Einblick in ihre Wissens- und Verstehensprozesse haben und darüber Auskunft geben können, so wird es schwierig, dieser Vielfalt mittels transparenter, objektiver Verfahren gerecht zu werden und diese mit einer Note zu bewerten.
Herausforderungen für Prüfungsexperten
Das kompetenzorientierte Prüfen stellt zwei Herausforderungen an die Prüfenden, die im Lernort Betrieb tätig sind. Diese Prüfungsexperten kommen – das ist ihr grosser Vorteil – aus der Praxis. Sie führen ihr Amt freiwillig und an wenigen Tagen pro Jahr aus. Sie prüfen in der Regel Lernende, die sie nicht kennen – möglicherweise in einem Lehrbetrieb, den sie zum Zeitpunkt der Prüfung zum zweiten Mal betreten.
Die erste Anforderung besteht darin, dass die Prüfenden den Beruf, so wie er heute ausgebildet wird, in verschiedenen Facetten kennen müssen. Obwohl sich Berufe laufend verändern, wird das fachliche Wissen und Können stillschweigend vorausgesetzt. Zudem gewinnen mündliche Prüfungen an Bedeutung – und damit das situativ abzurufende Wissen der Prüfungsexperten. Was die Zeichnerin, der Schreiner oder die Polymechanikerin vor Jahrzehnten noch auf dem Reissbrett oder an der Werkbank gefertigt haben, entsteht heute vielerorts am Computer. Grosse Maler-, Gipser- und Bodenlegerbetriebe arbeiten heute mit Materialien, die nicht zwingend jeder Prüfungsexpertin vertraut sind. Diese Lücken zu erkennen, ist nicht unbedingt gewohnt und kann am Berufsstolz kratzen. Die Diskussion und Evaluation konkreter Handlungen stellt damit erhöhte Anforderungen an die fachliche Expertise und die Selbstkompetenz der Prüfenden.
Die zweite, besser akzeptierte Herausforderung besteht darin, dass nicht nur fachliche, sondern auch methodische und soziale Kompetenzen überprüft werden sollen. So bestehen im gewerblich-industriellen Bereich, den ich am besten kenne, seitens der Prüfenden klare Erwartungen an das Verhalten und die Arbeitsweise der Lernenden, auch wenn diese in Prüfungssituationen selten thematisiert werden. Diese mittels Kriterien zu erfassen, ist ungewohnt und führt in der Regel zu Grundsatzdiskussionen – etwa, wenn darüber verhandelt wird, ob «Disziplin» und «Verhalten gegenüber dem üK-Instruktor» sinnvolle und messbare Kategorien zur Feststellung von Methoden- und Sozialkompetenzen sind.
Herausforderungen für Lehrbetriebe
Welche besonderen Anforderungen stellen kompetenzorientierte Prüfungen an die Lehrbetriebe? Ich höre oft, dass Berufsbildner die Lernenden speziell auf das Qualifikationsverfahren vorbereiten müssen, damit sie es bestehen. Wenn Prüfungen tatsächlich kompetenzorientiert ausgestaltet sind, betrachte ich das als einen gewünschten Effekt: Die Lernenden werden auf die Bewältigung konkreter beruflicher Handlungssituationen vorbereitet. Berufliche Handlungssituationen gewinnen so für die Lernenden und die Berufsbildner an Bedeutung.
Eine spezielle Aufgabe haben Berufsbildner und Prüfungsexperten bei der Beurteilung von individuellen praktischen Arbeiten, wie sie in einem Viertel aller beruflichen Grundbildungen auszuführen sind. Dabei stellen Lernende während Tagen oder Monaten ein Produkt oder eine Dienstleistung für den Lehrbetrieb her – eine Fitnessstunde, einen Elektromotor, eine Nackenstütze für die Sauna, ein Konzept für die Innenausstattung eines Lofts oder industriell gefertigte Schoggiosterhasen. Die Berufsbildnerin setzt eine Note, die vom Prüfungsexperten plausibilisiert wird – wobei der Prüfungsexperte nicht während dem ganzen Herstellungsprozess anwesend ist. In der Einführungsphase stellt dieses Modell hohe Anforderungen an die Beteiligten, da Beurteilungen sichtbar gemacht und ausgehandelt werden müssen.
Fazit
Die Anbindung von summativen Prüfungen an konkrete Handlungssituationen ist nicht neu – im Gegenteil, wenn wir an die Gesellenprüfungen der Zünfte zurückdenken, so handelt es sich hierbei um eine jahrhundertealte Tradition. In der Vergangenheit genügten sie den Anforderungen der Chancengerechtigkeit und Transparenz aber kaum. Das ist heute anders. Die Diskussion über Kriterien, mit denen Leistungen umfassend beurteilt werden, hat durch die Schaffung neuer Bildungspläne enorm an Schub gewonnen. Die revidierten Verordnungen bieten den Anlass und die Auflage seitens des Bundes, für jeden Beruf zu diskutieren, wie Leistungen beurteilt und erfasst werden sollen. Die Innovation besteht damit in praktischen Prüfungen nicht darin, dass Haltungen und Arbeitsweisen bewertet werden, sondern dass ausgehandelt wird, wie diese Bewertungen vonstatten gehen sollen. Mündliche und schriftliche Qualifikationsverfahren wiederum werden stärker an die Anforderungen der Praxis ausgerichtet. Lerndokumentationen sind in praktische Prüfungen grundsätzlich als Hilfsmittel zugelassen und Lernende werden aufgefordert, ihre Reflexionen zu Arbeitsprozessen und Arbeitsverhalten darzulegen. Rufen wir uns die vier klassischen Anforderungen an kompetenzorientierten Prüfungen nach Felix Winter in Erinnerung – d.h. Orientierung an authentischen Handlungssituationen, kriteriengestützte Beurteilungen, transparente Leistungsanforderungen und den Fördergedanken in Erinnerung – so ist festzustellen, dass diese stark an Dynamik gewonnen haben und die Qualifikationsverfahren stärker an die Anforderungen der Arbeitswelt angebunden werden.
Quellen
- Gonon, Philipp; Wettstein, Emil (2009): Berufsbildung in der Schweiz. hep Verlag: Zürich.
- Harlen, Wynn (1994): Enhancing Quality in Assessment. London: Chapman, zit. nach Mietzel 2007: 458.
- Mietzel, Gerd (2007): Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Hogrefe Lehrbuch: Göttingen, Wien und Basel.
- Schlitzer, Monika (2012): Das Psychologie Buch. Dorling Kinderley Verlag: München.
- Wiggins, Grant (1993): Assessment. Authenticity, Context, and Validity. Phi Delta Kappan 75, 200 – 208, 210 – 214 ; zit. nach Mietzel 2007: 336.
- Winter, Felix (2015): Lerndialog statt Noten. Neue Formen der Leistungsbeurteilung. Beltz Verlag: Weinheim und Basel.
Zitiervorschlag
Dannecker, K. (2016). Alte Schläuche – aber neuer Wein. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 1(1).