Förderprojekte von Travail.Suisse Formation
Auch Menschen mit Behinderungen sollen sich weiterbilden können
Der Gesetzgeber in der Schweiz schreibt vor, dass Benachteiligungen zu verhindern sind, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind – ausdrücklich auch im Bereich der Bildung. Die Umsetzung von Inklusion steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. In zwei vom SBFI mitfinanzierten Projekten trägt Travail.Suisse Formation dazu bei, dass Weiterbildung auch für Menschen mit Behinderungen besser zugänglich wird.
Demnach sprechen mehrere Gründe dafür, dass der Zugang zur Weiterbildung für Menschen mit Behinderungen verbessert werden muss.
Weiterbildungen wirken sich stärkend auf die Arbeitsmarktposition von Menschen mit Beeinträchtigungen aus, wie Studien zeigen.[1] Doch ein Blick auf die Statistik zeigt, dass eine deutliche Disparität bei der Weiterbildungsbeteiligung zwischen «nicht eingeschränkten und eingeschränkten» Personen vorliegt.[2]
Auch der Behindertenrechtsausschuss, der die Gleichstellungssituation von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz 2022 überprüfte, bestätigt, dass in der Schweiz noch viel Handlungsbedarf in Bezug auf Inklusionsfragen besteht, auch im Bildungsbereich.[3]
Rahmenbedingungen
Was den rechtlichen Rahmen in der Schweiz angeht, so gilt grundsätzlich das Diskriminierungsverbot gemäss Artikel 8 der Bundesverfassung. Seit 2004 konkretisiert das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) diesen Verfassungsauftrag und sieht auch Massnahmen im Bereich der Aus- und Weiterbildung vor. Für den Bereich der Weiterbildung formuliert es die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK) noch ein wenig konkreter, die seit 2014 in der Schweiz in Kraft ist: «Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden» (Art. 24 Abs. 5, UNO-BRK).
Demnach sprechen mehrere Gründe dafür, dass der Zugang zur Weiterbildung für Menschen mit Behinderungen verbessert werden muss. Informationen, Sensibilisierungen und Beratungen können Weiterbildungsanbietende darin unterstützen, Berührungsängste abzubauen und notwendige Anpassungen ihrer Angebote vorzunehmen, damit diese für Menschen mit Behinderungen zugänglich werden. Hier setzt Travail.Suisse Formation (TSF), eine auf Basis des Weiterbildungsgesetzes gegründete Organisation der Weiterbildung, mit seinen Projekten für eine inklusive Weiterbildung an.
Projekte Travail.Suisse Formation (TSF)
In den zwei aktuellen Inklusionsprojekten stehen Sinnesbeeinträchtigungen (Hör- und Sehbehinderungen) im Fokus, wobei der Gedanke an ein insgesamt für alle zugänglicheres Angebot immer mitgedacht wird. In beiden Projekten wurden zunächst die Bedürfnisse der betroffenen Menschen mit Behinderungen identifiziert und darauf aufbauend Empfehlungen für Weiterbildende entwickelt, die in Form von konkreten Leitfäden publiziert wurden.[4] In einem zweiten Schritt werden Weiterbildungsverantwortliche in der Umsetzung der formulierten Empfehlungen unterstützt und begleitet. Hierfür wurde mit dem Verband der Schweizerischen Volkshochschulen (VSV) ein Schulungs- und Sensibilisierungsangebot entwickelt und an drei Volkshochschulen dreier Sprachregionen im Rahmen eines Pilotprojekts durchgeführt. Anschliessend wurden Testteilnehmende mit Sehbehinderung an diese Volkshochschulen vermittelt; es wurde getestet, ob die vermittelten Empfehlungen umsetzbar und tatsächlich auch hilfreich für alle Beteiligten sind. Die Projekte basieren auf einer engen Zusammenarbeit mit Vertretenden der betroffenen Personen mit Behinderungen.[5]
Einblick in die Empfehlungen für inklusive Weiterbildungen
Bei Menschen mit Sehbehinderungen erwies sich insbesondere der Zugang zur Information eines Weiterbildungsangebots als Hürde. Dieser Zugang ist nur möglich, wenn Mindeststandards von Barrierefreiheit umgesetzt werden, sowohl bei Webseiten als auch bei Lernunterlagen und Plattformen. Diese müssen auch von Screenreadern gelesen werden können, und sehbehinderte Menschen müssen die Textgrössen oder Kontraste anpassen können. Barrierefreiheit zieht sich von den Webseiten über die Anmeldeprozesse über bauliche Anpassungen bis hin zu Kursunterlagen.
Travail Suisse Formation (TSF) vertritt dabei gemeinsam mit den Projektpartnern die Ansicht, dass Barrierefreiheit nicht perfekt umgesetzt werden muss; vielmehr muss die Zugänglichkeit zumindest im Grundsatz sichergestellt werden. So ist es nicht notwendig, dass man in einem Seminarlokal alle Räume mit Brailleschrift versieht, solange auf spezifische Hindernisse mit Blick auf Sehbehinderte hingewiesen wird. Die Anpassungen im Kurssetting sind ebenfalls überschaubar: Idealerweise erhalten blinde und sehbehinderte Teilnehmende die barrierefrei aufbereiteten Unterlagen ein paar Tage vor dem Kurs, so dass sie sich vorbereiten können. Im Kurs gilt es zu überlegen, welche Informationen nur visuell verfügbar sind und wie man diese umschreibt, etwa indem man verbalisiert, worauf oder auf wen man zeigt, eine Grafik mündlich beschreibt oder einen neuen Begriff kurz buchstabiert.
Bei gehörlosen und schwerhörigen Menschen hingegen liegt eine Hauptbarriere woanders. Einige Personen benötigen eine Übersetzung in Gebärden- oder Schriftsprache, damit sie dem Weiterbildungsgeschehen folgen können. Andere brauchen individuelle Lernunterstützung – etwa durch ein Tutorat. Beides muss bei der IV beantragt werden, was einen grossen administrativen Aufwand für die Betroffenen bedeutet. «Dieses Gesuch ist eine sehr grosse Hürde, denn es kostet sehr viel Aufwand und Energie. Man bekommt vermittelt, man müsse sich für seine Weiterbildungsinteressen rechtfertigen», erklärte ein gehörloser Gesprächspartner gegenüber TSF.
Daher sollten Weiterbildungsinstitute ihre Kurse frühzeitig ausschreiben, Interessierte administrativ unterstützen und die für ein IV-Gesuch benötigten Unterlagen zeitnah liefern (zum Beispiel einen präzisen Kursverlaufsplan für die Planung der Dolmetschstunden); ebenso sollten die Anmeldefristen in diesen Fällen flexibel gehandhabt werden. Zudem wünschen sich Menschen mit Hörbehinderung, dass sie nicht immer wieder von Neuem auf ihre Hörbehinderung hinweisen müssen; vielmehr sollten alle Beteiligten – vom Administrationspersonal über Dozenten bis hin zu Prüfungsexpertinnen – informiert und über notwendige Anpassungen aufgeklärt werden.
Die Inhalte von Weiterbildungsangeboten müssen bei Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen nicht angepasst werden. Es geht im Sinne des gesunden Menschenverstandes darum, das Verstehen der Inhalte und somit die Verständigung mit allen sicherzustellen.
Die Inhalte von Weiterbildungsangeboten müssen bei Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen nicht angepasst werden. Es geht im Sinne des gesunden Menschenverstandes darum, das Verstehen der Inhalte und somit die Verständigung mit allen sicherzustellen – sowohl bei schriftlicher als auch mündlicher Kommunikation. Ein Erwachsenenbildner, der seit Jahren Menschen mit Hörbeeinträchtigung unterrichtet, drückte es so aus: «Man sollte auf Stressmerkmale achten und darauf reagieren. Stress entsteht, wenn man sich von der Kommunikation abgeschnitten fühlt. Viele Betroffene möchten den Unterricht nicht stören, um Verständnisfragen zu stellen, was ein Dilemma und damit Stress auslöst».
Pilot an Volkshochschulen
Auf Basis der Empfehlungsleitfäden wurden 2022 wie erwähnt die Volkshochschule Zürich, Corsi per adulti und die Université populaire jurassienne auf die Bedürfnisse von sehbehinderten Lernenden sensibilisiert und darin geschult, ihre Angebote barrierefrei zugänglich zu machen. In der Testphase konnten Teilnehmende mit Sehbehinderungen ausprobieren, ob sie mit den umgesetzten Anpassungen gleichwertig an den Weiterbildungen teilnehmen konnten.
Wie die Evaluation des Pilotprojekts mit dem VSV zeigt, hat die Sensibilisierung von Schulungs- und Administrationspersonal eine positive Wirkung. Das Interesse der Teilnehmenden aus den Volkshochschulen lag vordergründig vor allem am Erstellen von barrierefreien Administrations- oder Schulungsunterlagen, doch auch die thematisierten zwischenmenschlichen Aspekte (z.B. durch den Austausch mit sehbehinderten Personen) wirken sich nachhaltig aus, nicht zuletzt auf die Haltung und Motivation zur Inklusion. Auch hier zeigt sich die Zusammenarbeit und der Einbezug von Menschen mit Behinderungen und ihren Interessenvertretungen als wichtiger Erfolgsfaktor.
Insgesamt zeigten sich alle Beteiligten der Testphase erfreut:
- Die Kursleitenden, denen es gelang, sehbehinderte Lernende in ihren Unterricht zu inkludieren und die dank der Schulungen konkrete Tools zur Umsetzung von barrierefreier Kommunikation einsetzen konnten.
- Die gut sehenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die von der Teilnahme von Menschen mit Sehbehinderungen in mehrfacher Hinsicht profitieren konnten – etwa auf zwischenmenschlicher Ebene. Eine Teilnehmerin: «Der Kontakt zu Frau F. ist für mich sehr wertvoll, denn vorher hatte ich schon Hemmungen, wenn ich unterwegs auf Menschen mit Sehbehinderung traf.» Ebenso profitierten sie von den neuen Darstellungsmethoden, die die Lehrpersonen zur Umsetzung von Barrierefreiheit einsetzten: «Die Kursleitung buchstabiert neue Wörter zusätzlich. Das schätze ich, denn dies schafft auch für mich einen zusätzlichen Zugang zum Wort.»
- Die Testpersonen mit Sehbehinderung, die erlebten, dass eine Teilnahme an einer öffentlichen und nicht auf sehbehinderte spezialisierte Weiterbildung möglich ist und ihre Bedürfnisse ernstgenommen werden.
Stolpersteine für die Weiterentwicklung
Inzwischen konnten weitere Weiterbildungsinstitutionen sensibilisiert werden, und weitere Anfragen etwa auch für Beratungen oder Vorträge sind auf dem Weg zur Umsetzung. Angesichts des Bedarfs nach Inklusion müsste die Nachfrage allerdings noch weit grösser sein. Inklusion ist trotz des eingangs erwähnten Bedarfes im Weiterbildungssystem noch nicht etabliert.
TSF verortet eine Herausforderung darin, dass insbesondere private Weiterbildungsanbieter zur Barrierefreiheit noch nicht verpflichtet sind (während private Dienstleistungsangebote ab Mitte 2025 zur Barrierefreiheit verpflichtet sind) und auch keine finanzielle Unterstützung für Massnahmen im Bereich der Barrierefreiheit erhalten. Solange man allein an den guten Willen der Weiterbildungsverantwortlichen appellieren kann, ist es schwierig, Inklusion voranzutreiben. Selbst wirtschaftliche Argumente wie die Erhöhung der Nutzungsfreundlichkeit, Innovation und Reichweite lösen noch wenig Resonanz aus. Gerade bei kleinen Anbietern sind die Ressourcen, die für den Initialaufwand nötig wären (etwa bei der Einrichtung einer barrierefreien Webseite), begrenzt.
In den Sensibilisierungen finden sich engagierte Kursleiterinnen und -leiter und Administrationspersonal, die sich auf die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen freuen und gerne bereit sind, für deren Inklusion Anpassungen vorzunehmen. Doch wenn dieses Engagement nicht in die gesamte Unternehmenskultur eingebettet ist und Inklusion als strategisch anzustrebendes Ziel angesehen wird, vermögen diese engagierten Menschen alleine am System wenig zu ändern.
Auch auf Seiten der Menschen mit Sinnesbeeinträchtigung sind Sensibilisierungen nötig. Gerade weil Inklusion oft nicht ihrer Alltagsrealität entspricht und sie im Laufe ihrer Bildungslaufbahn auch Exklusionserfahrungen gemacht haben, sind Hemmungen abzubauen. Die Zusammenarbeit mit ihren Interessenverbänden (SBV und SGB-FSS) ist sehr wichtig, um Vertrauen aufzubauen.
Erfolgsfaktoren
Wesentliche Erfolgsfaktoren für inklusive Weiterbildung erfordern also finanziellen Ressourcen. Darüber hinaus geht es um ein aufeinander Zugehen und offenes Mindset.
Wesentliche Erfolgsfaktoren für inklusive Weiterbildung erfordern also finanziellen Ressourcen. Darüber hinaus geht es um ein aufeinander Zugehen und offenes Mindset. Inklusion in der Weiterbildung verursacht einen initialen Mehraufwand. Dieser hält sich jedoch in Grenzen, und wenn Inklusion gelingt, gewinnen alle. Die grösste Hürde, die es zu beseitigen gilt, ist die Einstellungsfrage, denn hier sitzen die Bedenken und Hemmungen offenbar noch zu tief. Wenn Finanzierungshilfen für eine Umstellung in Richtung Inklusion vorhanden wären, so könnte man diese vermutlich vorantreiben.
Dennoch: Langsam kommt Bewegung in die Frage der inklusiven Bildung. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) unterstützt die Projekte von Travail.Suisse Formation nicht nur finanziell, sondern setzt aktuell selber ein breit angelegtes Projekt über den Zugang zur Berufsbildung von Menschen mit Hörbehinderung um. Im Dezember 2023 findet dazu ein Runder Tisch mit einer Vielzahl von Akteurinnen statt. Ausgehend von einer gemeinsam abgestimmten Auslegeordnung zum Status quo und bereits vorhandenen Hilfestellungen sollen Optimierungsmöglichkeiten identifiziert und umgesetzt werden. Details zum Projekt finden sich auf der Website.
Das Thema Inklusion von Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit besonderen Lernbedürfnissen ist nicht lediglich ein Trendthema, sondern wird uns langfristig beschäftigen. Auch TSF plant, sich weiterhin mit Hilfestellungen für eine inklusive Weiterbildung einzusetzen.
www.ts-formation.ch, Direktkontakt Koordination Deutschschweiz und Romandie: paz@ts-formation.ch, Ticino: grauseo@cfp-ocst.ch
[1] SAMS: Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung, 2015, 28.08.2023, Studie zur Arbeitsmarktsituation von gehörlosen und hörbehinderten Personen, 2020, 28.08.2023 [2] SKBF (2023). Bildungsbericht Schweiz 2023, S. 357; Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 28.08.2023, [3] Vgl. Schattenbericht und Concluding Observations, März 2022, 28.08.2023 [4] Travail.Suisse Formation: Kriterienliste zur Verbesserung des Zugangs von blinden und sehbehinderten Menschen zur öffentlichen Weiterbildung, Bern 2020.Travail.Suisse Formation: Leitfaden Weiterbildung inklusiv. Weiterbildung für Menschen mit Hörbehinderungen zugänglich gestalten, Bern 2023.
Beide Dokumente sind auf Deutsch, Französisch und Italienisch verfügbar auf www.ts-formation.ch. Auch Druckexemplare können bei TSF bestellt werden. [5] Namentlich der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS sowie Pro Audito Schweiz.
Zitiervorschlag
Paz, D. (2023). Auch Menschen mit Behinderungen sollen sich weiterbilden können. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(10).