Studie zur Berufswahl
Berufe erkunden, Wissen gewinnen, Sicherheit finden – dynamische Prozesse der beruflichen Entscheidung bei Jugendlichen
Die Berufswahl ist ein dynamischer Prozess, in dem drei Faktoren in einer Wechselwirkung stehen: Wie stark Jugendliche ihre Umwelt erkunden, wie viel sie über den Lehrstellenmarkt wissen und wie entschieden sie sich in ihrer Berufswahl fühlen. Das ist das Hauptergebnis einer neuen Studie. Sie zeigt, dass es kontraproduktiv sein kann, zu früh eine Entscheidung zu erzwingen. Besser sei es, viele Möglichkeiten der Berufserkundung anzubieten. Denn die Berufswahl von Jugendlichen läuft dann am besten, wenn sie eine vage Idee für einen Berufswunsch haben und dazu gezielt Informationen suchen.
Im letzten Jahrhundert wurde die Berufswahl tendenziell noch als statischer Entscheidungsprozess beschrieben, während die heutige Forschung die Berufswahl als einen zunehmend dynamischen, lebenslangen und nicht-linearen Prozess beschreibt.
In unserem Leben treffen wir viele wichtige Entscheidungen (z.B. Partnerwahl, Umzug), aber nur wenige davon sind so komplex und haben so grosse Auswirkungen wie berufliche Entscheidungen. Im Laufe unseres Lebens stehen wir immer wieder vor der Frage, welchen beruflichen Weg wir einschlagen möchten, welche Tätigkeit wirklich zu uns passt und welche Ausbildung dafür erforderlich ist.
Einer der einflussreichsten Zeiträume für berufliche Entscheidungen ist das Jugend- und frühe Erwachsenenalter, da in dieser Zeit in der Regel die erste Berufswahl erfolgt und somit ein wichtiger Meilenstein in der lebenslangen beruflichen Entwicklung erreicht wird (Ashby & Schoon, 2010). Im letzten Jahrhundert wurde die Berufswahl tendenziell noch als statischer Entscheidungsprozess beschrieben (z.B. Super, 1980), während die heutige Forschung die Berufswahl als einen zunehmend dynamischen, lebenslangen und nicht-linearen Prozess beschreibt (z.B. Marciniak et al., 2022).
Moderne Theorien stellen hierbei fest, dass Verhalten (z.B. berufliche Exploration), Wissen (z.B. über den Arbeitsmarkt) und Einstellungen (z.B. berufliche Entschiedenheit) in der Berufswahlentscheidung von Jugendlichen besonders wichtig sind (Marciniak et al., 2021). Ebenso wird beschrieben, dass sich diese drei Faktoren wechselseitig beeinflussen (Gati & Asher, 2001; Peterson et al., 1996). So kann beispielsweise eine gezielte Recherche zu Berufen das Wissen erweitern, was wiederum zu mehr Klarheit und Sicherheit in der Berufswahl führt. Umgekehrt können neue Erfahrungen (z.B. ein Praktikum) bestehende Ziele oder das Selbstbild erschüttern und Anpassungen erfordern.
Verschiedene Modelle wie die Social Cognitive Career Theory (Lent et al., 1994) oder die Happenstance Learning Theory (Krumboltz, 2009) heben hervor, dass Entscheidungen oft durch Rückkopplungsschleifen geprägt sind, wobei Ergebnisse zu neuen Erkenntnissen und Zufälle zu neuen Chancen führen können. Bei diesen Rückkopplungseffekten können sowohl rationale (z.B. was ist die objektiv beste Stelle?) als auch intuitive Überlegungen (z.B. was spricht mich spontan an?) eine grosse Rolle spielen (Xu & Flores, 2023). Hierbei können Berufsberatende vor allem darauf achten, dass sich einige Personen zu stark auf ihre Intuition verlassen, während andere zu viele Informationen sammeln und durch den Wunsch nach einer «optimalen» Entscheidung blockiert sind. Besonders anschlussfähig für die Praxis ist das Karriere-Selbstregulationsmodell von Hirschi & Koen (2021), das beschreibt, wie sich Ziele, Wissen und Handlungen gegenseitig beeinflussen. Die Autoren beschreiben hierbei einen dynamischen Kreislauf von Zielentwicklung, Informationssuche, Planung, Umsetzung und Rückmeldung. Dieses Modell ist besonders hilfreich für die Begleitung von Übergangsprozessen wie etwa beim Übergang von der Schule in den Beruf (Akkermans et al., 2024).
Über die Modelle und Theorien hinaus haben verschiedene Literaturübersichten zur Berufswahl festgestellt, dass diverse Persönlichkeitsmerkmale die Berufswahl begünstigen oder auch benachteiligen können (z.B. Blokker et al., 2023, Marciniak et al., 2022). Zum Beispiel sind gewissenhafte und proaktive Jugendliche erfolgreicher darin, einen Beruf nach der Schule zu finden, während Jugendliche mit einer externen Kontrollüberzeugung eher Probleme aufweisen. Dies sind wichtige Erkenntnisse; aber sie sagen wenig darüber aus, was sich Berufsziele für eine Person im Laufe der Zeit verändert.
Neue Studie zur Dynamik im Berufswahlprozess
Wir wollten verstehen, was passiert, wenn eine Person von ihrem gewohnten Verhalten abweicht. Was geschieht, wenn jemand plötzlich aktiver nach Berufen sucht als sonst?
Genau hier setzt unsere Forschung an: Wir wollten verstehen, was passiert, wenn eine Person von ihrem gewohnten Verhalten abweicht. Was geschieht, wenn jemand plötzlich aktiver nach Berufen sucht als sonst? Oder wenn sich eine andere Person plötzlich sicherer in ihrer Berufswahl fühlt als noch vor sechs Monaten? Statt Unterschiede zwischen Personen zu betrachten, haben wir also untersucht, wie sich Explorationsverhalten, berufliches Wissen und berufliche Entschiedenheit innerhalb einer Person über die Zeit hinweg verändern und wie sich diese drei Aspekte gegenseitig beeinflussen können. Eine jugendliche Person kann im Vergleich zu anderen zwar allgemein entschiedener sein (zwischenpersonale Unterschiede), aber auch innerhalb ihrer eigenen Berufswahl und Entwicklung über Monate oder Jahre durch neue Erfahrungen oder Informationen hinweg Schwankungen erleben (intrapersonale Dynamik).
Um diese Prozesse besser zu verstehen, haben wir 1’132 Jugendliche im Übergang von der Schule in eine Lehre über 30 Monate begleitet. So konnten wir untersuchen, wie sich Berufswahlprozesse in ihrer natürlichen Dynamik entfalten – und welche Muster besonders relevant für eine gezielte berufliche Förderung sind.
Was wir wissen wollten
Es interessierte uns besonders zu überprüfen, ob Informationen zu Berufen am wichtigsten für die Berufswahl sind oder ob doch ein gewisses Mass an Entscheidungssicherheit vorhanden sein muss, damit die Berufswahl erfolgreich verläuft.
Viele Ratgeber und Modelle zur Berufswahl sagen, dass sich es sich lohnt, sich in der Berufswahl über Berufe zu informieren, da Jugendliche so mit der Zeit sicherer in ihrer Entscheidung werden (z.B. Gati & Asher, 2001; Peterson et al., 1996). Umgekehrt argumentieren wir, dass Jugendliche aber auch eine vage Idee oder eine a-priori Entscheidung treffen müssen, bevor sie mit einer gezielteren Berufsexploration starten können. Es interessierte uns besonders zu überprüfen, ob Informationen zu Berufen am wichtigsten für die Berufswahl sind oder ob doch ein gewisses Mass an Entscheidungssicherheit vorhanden sein muss, damit die Berufswahl erfolgreich verläuft. Ebenso wollten wir untersuchen, ob dieser Prozess Wechselwirkungen und Rückkoppelungen aufweist. Wir haben dazu drei zentrale Aspekte untersucht:
- Wie stark Jugendliche ihre Umwelt erkunden (z.B. Berufe recherchieren, Schnupperlehren machen, mit Berufsleuten sprechen),
- wie viel sie über den Lehrstellenmarkt wissen, und
- wie entschieden sie sich in ihrer Berufswahl fühlen, also ob sie schon eine klare Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft haben.
Was wir herausgefunden haben
Unsere Daten zeigen, dass die Berufswahl selten geradlinig verläuft. Vielmehr beeinflussen sich die drei Bereiche berufliche Exploration, Lehrstellenwissen und Entschiedenheit gegenseitig über die Zeit hinweg. Das heisst, dass Jugendliche, die aktiv Informationen sammeln, nicht nur Wissen über Berufe gewinnen, sondern sich danach oft auch sicherer fühlen. Umgekehrt stellen wir auch fest, dass sich Jugendliche mit mehr Berufswissen sicherer in ihrer Entscheidung fühlen und damit auch gezielter nach Informationen suchen. Somit konnten wir feststellen, dass die Berufswahl bei Jugendlichen am besten verläuft, wenn diese eine vage Idee für einen Berufswunsch haben und dazu gezielt Informationen suchen.
Ein Beispiel aus dem Alltag
Stellen Sie sich Mia, 14 Jahre alt, in der 8. Klasse vor. Am Beginn der Berufswahl war sie recht unsicher, was sie später machen will. Dann besucht sie einen Berufswahltag und spricht mit einer Pflegefachfrau. Sie beginnt, sich für den Pflegebereich zu interessieren, was sie dazu ermuntert, mehr über den Beruf zu recherchieren. Ebenso spricht sie mit Bekannten und findet eine Schnupperlehre im Altersheim. Ihr Wissen über diesen Beruf wächst, weswegen sie sich langsam, aber stetig in ihrer Berufswahl sicherer fühlt.
Aber auch das Gegenteil kann passieren. Luca, 14 Jahre alt und ebenfalls in der 8. Klasse, ist davon überzeugt, dass er Informatiker werden will. Doch als er sich näher damit beschäftigt, merkt er, dass der Beruf ihm nicht gefällt. Er wird unsicher, beginnt erneut zu recherchieren und entdeckt vielleicht eine ganz andere Option.
Diese beiden Beispiele zeigen die möglichen Rückkoppelungen in der Berufswahl: Wissen kann Sicherheit bringen – oder Zweifel säen. Entscheidungen können Exploration auslösen oder durch neue Infos wieder hinterfragt werden (vgl. Krumboltz, 2009).
Was bedeutet das für die Praxis?
Unsere Ergebnisse liefern mehrere konkrete Hinweise für die schulische und ausserschulische Begleitung von Jugendlichen.
Unsere Ergebnisse liefern mehrere konkrete Hinweise für die schulische und ausserschulische Begleitung von Jugendlichen:
- Berufswahl ist ein Prozess, kein einmaliges Ereignis. Jugendliche entwickeln ihre Vorstellungen schrittweise über die Zeit und können viele Fluktuationen aufweisen. Einmal entschieden heisst nicht für immer entschieden (vgl. Super, 1980).
- Exploration lohnt sich – mehrfach. Jugendliche, die aktiv recherchieren, schnuppern und fragen, gewinnen nicht nur Wissen, sondern auch Klarheit. Wichtig ist: Diese Aktivitäten wirken nicht nur vor einer Entscheidung, sondern auch nach einer Entscheidung weiter (vgl. Kleine et al., 2021).
- Eine Entscheidung ist nicht endgültig. Wer sich entschieden hat, hört nicht auf zu lernen. Im Gegenteil: Eine klare Vorstellung kann dazu motivieren, noch gezielter Informationen zu suchen, um sich gut auf die nächsten Schritte im Berufswahlprozess vorzubereiten (vgl. Xu & Flores, 2023).
- Es braucht Raum für Umwege. Nicht jede Entscheidung führt direkt zum Ziel – und das ist normal. Zweifel, Kurskorrekturen oder das Verwerfen von Optionen gehören dazu (vgl. Gati & Kulcsár, 2021).
Tipps für Schule, Eltern und Berufsberatung
- Nicht drängen. Eine Entscheidung zu früh zu erzwingen kann kontraproduktiv sein. Besser ist es, Exploration zu fördern.
- Möglichkeiten zur Exploration schaffen. Praktika, Berufsmessen, Gespräche mit Berufsleuten oder Betriebsbesichtigungen sind wertvolle Quellen für Exploration.
- Vertrauen stärken. Jugendliche brauchen das Gefühl und die Sicherheit, dass es normal ist, noch nicht sicher zu sein und dass sie Unterstützung bekommen, wenn sie sich mit der Berufswahl beschäftigen.
- Wissen greifbar machen. Informationen müssen verständlich und relevant sein. Ein Rollenspiel zur Bewerbung oder eine Diskussion über die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Berufen können Wunder wirken.
Fazit
Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass der Berufswahlprozess auch weiterhin stattfindet, selbst wenn scheinbar schon alles entschieden ist.
Die Berufswahl der Jugendlichen ist kein statischer und perfekt planbarer Prozess. Jugendliche sind während der Berufswahl oft unsicher, manchmal sprunghaft, aber vor allem lernbereit. Sie entdecken Schritt für Schritt, was sie interessiert, was sie können und welche Wege überhaupt möglich sind. Unsere Forschung zeigt deutlich, dass aktive Exploration bei Jugendlichen nicht nur mehr Wissen über Berufe, sondern auch die Orientierungs- und Entscheidungssicherheit erhöhen kann. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass der Berufswahlprozess auch weiterhin stattfindet, selbst wenn scheinbar schon alles entschieden ist. Entscheidungen werden angepasst, neue Informationen führen zu neuen Überlegungen, Erfahrungen verändern Perspektiven. Genau diese Beweglichkeit ist eine Stärke, keine Schwäche. Denn sie erlaubt es Jugendlichen, ihren Weg nicht starr, sondern reflektiert und selbstwirksam zu gestalten. Für die Praxis heisst das: Gute Begleitung erkennt und nutzt diese Dynamik. Sie fördert Exploration, ermutigt zur Reflexion und unterstützt Jugendliche dabei, ihren individuellen Rhythmus zu finden – mit dem Wissen, dass Berufswahl nicht geradlinig verlaufen muss, um zum Erfolg zu führen (vgl. Hirschi & Koen, 2021; Lent & Brown, 2013).
Haenggli, M., Hirschi, A., & Marciniak, J. (2025). Navigating transitions: A longitudinal exploration of career decision-making process dynamics in adolescents. Journal of Vocational Behavior, 159, 104125.
Literatur
- Akkermans, J., da Motta Veiga, S. P., Hirschi, A., & Marciniak, J. (2024). Career transitions across the lifespan: A review and research agenda. Journal of Vocational Behavior, 148, 103957.
- Ashby, J. S., & Schoon, I. (2010). Career success: The role of teenage career aspirations, ambition value and gender in predicting adult social status and earnings. Journal of Vocational Behavior, 77(3), 350-360.
- Gati, I., & Asher, I. (2001). Prescreening, in‐depth exploration, and choice: From decision theory to career counseling practice. The Career Development Quarterly, 50(2), 140-157.
- Gati, I., & Kulcsár, V. (2021). Making better career decisions: From challenges to opportunities. Journal of Vocational Behavior, 126, 103545.
- Hirschi, A., & Koen, J. (2021). Contemporary career orientations and career self-management: A review and integration. Journal of Vocational Behavior, 126, 103505.
- Kleine, A.-K., Schmitt, A., & Wisse, B. (2021). Students‘ career exploration: A meta-analysis. Journal of Vocational Behavior, 131, 103645.
- Krumboltz, J. D. (2009). The happenstance learning theory. Journal of Career Assessment, 17(2), 135-154.
- Lent, R. W., & Brown, S. D. (2013). Social cognitive model of career self-management: toward a unifying view of adaptive career behavior across the life span. Journal of Counseling Psychology, 60(4), 557- 568.
- Lent, R. W., Brown, S. D., & Hackett, G. (1994). Toward a unifying social cognitive theory of career and academic interest, choice, and performance. Journal of Vocational Behavior, 45(1), 79-122.
- Marciniak, J., Hirschi, A., Johnston, C. S., & Haenggli, M. (2021). Measuring Career Preparedness Among Adolescents: Development and Validation of the Career Resources Questionnaire – Adolescent Version. Journal of Career Assessment, 29(1), 164-180.
- Peterson G. W., Sampson J. P. Jr, Reardon R. C., Lenz J. G. (1996). Becoming career problem solvers and decision makers: A cognitive information processing approach. Career Choice and Development, 3, 423–475.
- Super, D. E. (1980). A life-span, life-space approach to career development. Journal of Vocational Behavior, 16(3). 282-298.
- Xu, H., & Flores, L. Y. (2023). A Process Model of Career Decision-Making and Adaptation Under Uncertainty: Expanding the Dual-Process Theory of Career Decision-Making. Journal of Career Assessment, 31(4), 773-793.
Zitiervorschlag
Haenggli, M., Marciniak, J., & Hirschi, A. (2025). Berufe erkunden, Wissen gewinnen, Sicherheit finden – dynamische Prozesse der beruflichen Entscheidung bei Jugendlichen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10 (12).