Auslegeordnung zur Schweizer Berufsbildung
Bilanz nach 20 Jahren Berufsbildungsgesetz
2004 wurde in der Schweiz das neue Berufsbildungsgesetz (BBG) eingeführt. Mit der neuen Gesetzesgrundlage ist es gelungen, die Berufsbildung fit für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu machen. Es gibt aber auch Herausforderungen. Drei Beispiele: Die Quote der zugewanderten Jugendlichen mit nachobligatorischem Abschluss ist immer noch zu tief. Zu diskutieren ist auch, wie der Berufsabschluss für Erwachsene gefördert werden kann. Schliesslich ist die Finanzierung ein Thema: Angesichts der Tatsache, dass der Bund die wesentlichen Eckpfeiler der Berufsbildung festlegt, ist dieser Anteil zu tief. Gemäss dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz müsste der Bundesanteil höher sein.
Grundzüge des schweizerischen Berufsbildungssystems von 2004
Die Schweiz gilt weltweit als führend in der Berufsbildung. Die Kombination von schulischer und betrieblicher Ausbildung bildet das Fundament des schweizerischen Berufsbildungssystems. Die duale Struktur ermöglicht es den Lernenden, sich in der Schule theoretisches Wissen anzueignen und dieses am Arbeitsplatz direkt in die Praxis umzusetzen. Dieser Fokus auf Praxisnähe und berufsspezifische Kompetenzen macht die Schweizer Berufsbildung besonders leistungsfähig. Das breit gefächerte Berufsbildungsangebot, das sich über verschiedene Sektoren und Branchen erstreckt und rund 250 Lehrberufe umfasst, ermöglicht es, individuelle Interessen und Arbeitsmarktbedürfnisse abzudecken. Das schweizerische Berufsbildungssystem setzt hohe Qualitätsstandards, die durch staatliche Anerkennung und Abschlussprüfungen gewährleistet werden.
Die Berufsbildung in der Schweiz gliedert sich in drei Stufen:
- Berufslehre (Eidgenössisches Berufsattest EBA, 2 Jahre / Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis EFZ, 3 oder 4 Jahre): Die Berufslehre ist die Basis der schweizerischen Berufsbildung. Sie dauert zwei, drei oder vier Jahre und vermittelt theoretische und praktische Kenntnisse und Fertigkeiten in einem bestimmten Beruf.
- Berufsmaturität (BM): Die Berufsmaturität baut auf der Berufslehre auf. Sie kann parallel zur beruflichen Grundbildung (BM1) oder nach deren Abschluss (BM2) absolviert werden. Der Umfang entspricht etwa einem Schuljahr. Sie eröffnet den Absolventinnen und Absolventen den Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten an Fachhochschulen. Mit einer zusätzlichen Passerelle können sich Berufsmaturandinnen und -maturanden auch für ein Universitätsstudium qualifizieren.
- Höhere Berufsbildung (HBB): Die Höhere Berufsbildung umfasst ein breites Angebot an Aus- und Weiterbildungen auf der tertiären Bildungsstufe, die auf einer drei- oder vierjährigen Berufslehre aufbauen und auch ohne Berufsmaturität zugänglich sind. Sie dient der praxisorientierten Aus- und Weiterbildung sowie der Qualifizierung von Berufsleuten.
Die Einführung des neuen Berufsbildungsgesetzes (BBG) war ein Meilenstein in der Modernisierung und Flexibilisierung des schweizerischen Berufsbildungssystems.
Die Einführung des neuen Berufsbildungsgesetzes (BBG) war ein Meilenstein in der Modernisierung und Flexibilisierung des schweizerischen Berufsbildungssystems. Das BBG wurde 2004 geschaffen, um das Berufsbildungssystem an die aktuellen Entwicklungen anzupassen, insbesondere an den technologischen Fortschritt und an die veränderten Anforderungen der Arbeitswelt. So wurden nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes sämtliche Bildungsverordnungen überarbeitet sowie die Bildungsinhalte aktualisiert und nicht zuletzt an Handlungskompetenzen ausgerichtet.
Zudem wurden alle Bereiche der Berufsbildung integriert, namentlich die vor 2004 in der Regelungskompetenz der Kantone liegenden Bereiche Gesundheit, Soziales und Kunst sowie die land- und forstwirtschaftlichen Berufe. Das revidierte Berufsbildungsgesetz bietet zudem neue, differenzierte Wege der Berufsbildung. Konkret wurde die zweijährige Berufslehre mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) eingeführt. Damit wurde die bisherige Anlehre abgelöst und die Möglichkeit geschaffen, auf der Basis eines Berufsattests in weiteren zwei Jahren einen ordentlichen Lehrabschluss mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) zu erlangen. Mit dem neuen Berufsbildungsgesetz wurde schliesslich die frühere aufwandorientierte Subventionierung, auf deren Grundlage der Bund die Aufwendungen der Kantone abgegolten hatte, durch ein leistungsorientiertes Finanzierungssystem abgelöst. Dieses sieht die Ausrichtung von Pauschalbeiträgen an die Kantone vor. Der Anteil des Bundes an den öffentlichen Kosten der Berufsbildung wurde schrittweise von einem Fünftel auf einen Viertel erhöht.
Die Steuerung der Berufsbildung erfolgt in der Schweiz innerhalb der sogenannten Verbundpartnerschaft, einem Zusammenspiel von Bund, Kantonen und den Organisationen der Arbeitswelt (OdA) als Vertretung der Wirtschaft. Dabei ist der Bund für die gesetzlichen Grundlagen, die OdA für die Inhalte der Berufsbildung und die Kantone für die Umsetzung, insbesondere in den Berufsfachschulen, zuständig. Die zentrale nationale Steuerung durch den Bund trägt dem Umstand Rechnung, dass die Berufsbildung junge Leute ausbilden soll, die im ganzen schweizerischen und internationalen Arbeitsmarkt mobil sein können. Die kantonale Umsetzung sorgt für die Anpassung an die regionalen Arbeitsmärkte und sichert das Zusammenspiel mit der kantonal organisierten Volksschule und den Gymnasien.
Der Begriff OdA steht in der Verbundpartnerschaft für die Trägerschaften der beruflichen Grundbildung. Darunter sind Berufsverbände, Branchenorganisationen, Sozialpartner sowie andere Organisationen und Anbieter der Berufsbildung zu verstehen. Auch die Gewerkschaften können die Rolle als OdA einnehmen. So wirken sie an der Ausarbeitung von Bildungsverordnungen mit. Zur Begleitung der Lernenden im Betrieb organisieren sie zudem Kurse für die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner und beteiligen sich so an der Qualitätssicherung der Berufsbildung. Die Begleitung der Lernenden im Betrieb durch die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner sowie weitere Mitarbeitende ist einer der Schlüsselfaktoren für gute Qualität in der beruflichen Grundbildung.
In Deutschland ist die duale Ausbildung in der Regel gleichgewichtig zwischen betrieblicher Ausbildung und Berufsfachschule. […] Die berufliche Grundbildung in der Schweiz ist stärker auf die betriebliche Ausbildung ausgerichtet.
In Deutschland ist die duale Ausbildung in der Regel gleichgewichtig zwischen betrieblicher Ausbildung und Berufsfachschule. Die Auszubildenden verbringen etwa die Hälfte ihrer Zeit im Betrieb und die andere Hälfte in der Berufsfachschule. Die berufliche Grundbildung in der Schweiz ist stärker auf die betriebliche Ausbildung ausgerichtet. Die Lernenden verbringen mehr Zeit im Betrieb, während die Berufsfachschule einen unterstützenden Charakter hat und während einem oder maximal zwei Tagen pro Woche besucht wird.
Das Zusammenspiel der drei Lernorte
Das duale Berufsbildungssystem der Schweiz zeichnet sich durch eine hervorragende Verzahnung der drei zentralen Lernorte aus. Diese drei Lernorte – der Betrieb, die Berufsfachschule und die überbetrieblichen Kurse (üK) – sind eng miteinander verbunden und bilden das Fundament für die praxisorientierte Ausbildung der Lernenden. Der Betrieb ist der primäre Ort der praktischen Ausbildung. Hier haben die Lernenden die Möglichkeit, das in der Berufsfachschule erworbene Wissen direkt anzuwenden und in der realen Arbeitswelt zu vertiefen.
Die Berufsfachschule ergänzt diese praktische Ausbildung durch die Vermittlung von theoretischem Fachwissen. Hier erhalten die Lernenden einen fundierten theoretischen Hintergrund, der ihre praktischen Erfahrungen im Betrieb vertieft. Neben der Vermittlung von Berufskenntnissen stellt auch der allgemeinbildende Unterricht (ABU) ein wichtiges Element in der Berufsfachschule dar. Die enge Zusammenarbeit zwischen Betrieb und Berufsfachschule stellt sicher, dass die Ausbildung auf beiden Ebenen aufeinander abgestimmt ist, um einen umfassenden und ausgewogenen Lernprozess zu gewährleisten.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des dualen Systems sind die überbetrieblichen Kurse (üK). Diese bieten den Lernenden eine zusätzliche Plattform für fachliche Ausbildung und praktische Übungen, die nicht direkt im Betrieb durchgeführt werden können. Ziel der überbetrieblichen Kurse ist es, überfachliche Kompetenzen zu fördern, den Austausch zwischen Lernenden aus verschiedenen Betrieben zu ermöglichen und eine breitere Perspektive auf die Branche zu vermitteln.
Die enge Verzahnung dieser drei Lernorte schafft die Voraussetzung für eine qualitativ hochstehende Berufsbildung und fördert die Zusammenarbeit zwischen Betrieben, Berufsfachschule und Branchenverbänden. Diese Zusammenarbeit stellt sicher, dass die Ausbildung stets den aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes angepasst ist und den Lernenden vielfältige berufliche Perspektiven eröffnet.
Berufsbildung versus Allgemeinbildung
Interessant ist auch, dass sich der Trend zum allgemeinbildenden Weg in den Jahren 2022 und 2023 nicht fortgesetzt hat.
Auch in der Schweiz wird die Diskussion über die Wahl des weiteren Bildungsweges nach der obligatorischen Schule intensiv geführt. Die berufliche Grundbildung ist nach wie vor die am häufigsten gewählte Option nach der obligatorischen Schulzeit. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) werden im Jahr 2023 rund 65 Prozent der 25- bis 29-Jährigen eine berufliche Grundbildung abgeschlossen haben. Demgegenüber haben rund 35 Prozent einen allgemeinbildenden Abschluss, davon rund 19 Prozent eine gymnasiale Maturität und rund 15 Prozent eine Fachmaturität. Die Verteilung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung hat sich in den letzten Jahren verändert. Im Jahr 1990 hatten noch gut 70 Prozent eine berufliche Grundbildung abgeschlossen, während weniger als 30 Prozent den allgemeinbildenden Weg wählten. Trotz dieser Entwicklung wird die Berufsbildung in der Schweiz nach wie vor als gleichwertig zur Allgemeinbildung angesehen. Interessant ist auch, dass sich der Trend zum allgemeinbildenden Weg in den Jahren 2022 und 2023 nicht fortgesetzt hat. Vor allem die jungen Frauen haben sich wieder vermehrt für die Berufsbildung entschieden, obwohl sie insgesamt mehr auf die Allgemeinbildung setzen als die jungen Männer.
Allerdings gibt es grosse Unterschiede zwischen den Sprachregionen. In der Deutschschweiz hat die Berufsbildung einen deutlich höheren Stellenwert als in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz, wo das Bildungssystem von den akademisch geprägten Bildungssystemen Frankreichs und Italiens beeinflusst ist. Hier wird die Berufsbildung teilweise nur als zweite Wahl betrachtet und mitunter erst dann eingeschlagen, wenn der allgemeinbildende Weg für einen Schüler oder eine Schülerin nicht in Frage kommt.
Positive Wirkung der Berufsbildung
Die Berufsbildung ist in der Schweiz gesellschaftlich akzeptiert und wird von allen politischen Akteuren unterstützt. Studien zeigen, dass die Berufsbildung zu einer sehr tiefen Jugendarbeitslosigkeit beiträgt und einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel in den Branchen leistet. Zudem hat sich die Berufsbildung als belastbar und wandlungsfähig erwiesen, vorab bei der stetigen Anpassung an den Arbeitsmarkt. Die Berufsbildung leistet auch eine wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie mannigfaltige Bildungschancen generiert und sich effizient bei der Integration diverser Zielgruppen gezeigt hat.
Die Schweizer Berufsbildung hat weitreichende positive Bildungseffekte, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung und die Perspektiven von Jugendlichen. Die duale Ausbildung, die sowohl theoretisches Wissen als auch praktische Fertigkeiten vermittelt, eröffnet den Lernenden vielfältige Berufschancen und stärkt gleichzeitig die Wirtschaft. Viele Jugendliche profitieren in hohem Masse von einer Berufsausbildung als Einstieg in ihre berufliche Laufbahn. Die Praxisnähe ermöglicht nicht nur eine frühzeitige Identifikation mit dem gewählten Berufsfeld, sondern erleichtert auch den Übergang in die Arbeitswelt.
Im Vergleich zur allgemeinen gymnasialen Bildung gibt es jedoch sozioökonomische Unterschiede. Personen mit sozioökonomischen Benachteiligungen entscheiden sich signifikant häufiger für eine Berufslehre und seltener für eine gymnasiale Ausbildung. Das Gymnasium wird traditionell als eine höhere Bildungseinrichtung betrachtet, und es herrscht eine gesellschaftliche Wahrnehmung des Prestigeunterschieds zwischen akademischer und beruflicher Bildung vor. Dies kann zu sozialen Ungleichheiten führen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die berufliche Bildung eine ebenso wertvolle und respektierte Option ist, die verschiedene Talente und Fähigkeiten fördert. Die Förderung des Ansehens der beruflichen Bildung trägt dazu bei, diese Wahrnehmungsunterschiede abzubauen.
Bund und Kantone haben 2016 das bildungspolitische Ziel formuliert, dass 95 Prozent der Jugendlichen bis 25 Jahre einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreichen sollen. Dieser Abschluss kann eine Berufslehre, ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule sein. Die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II lag im Jahr 2023 bei 91 Prozent. Sie ist in den letzten Jahren leicht angestiegen. Im Jahr 1990 lag die Abschlussquote noch unter 85 Prozent.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
In der Schweiz gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Wahl der Berufsbildung. Frauen wählen grundsätzlich seltener den Weg der Berufsbildung. Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) haben im Jahr 2023 68 Prozent der Männer und 63 Prozent der Frauen eine berufliche Grundbildung abgeschlossen. Die Abschlussquote der beruflichen Grundbildung ist somit bei den Männern etwas höher als bei den Frauen. Dieser Unterschied ist jedoch nicht sehr gross. Bei den einzelnen Berufen sind die Unterschiede hingegen beträchtlich.
Männer und Frauen wählen in der Schweiz nach wie vor unterschiedliche berufliche Grundbildungen. Männer tendieren eher zu technischen Berufen, Frauen eher zu sozialen oder gestalterischen Berufen. Diese Unterschiede haben sich in den letzten Jahren etwas verringert, sind aber immer noch vorhanden.
Herausforderungen der Schweizer Berufsbildung
Die Berufsbildung in der Schweiz steht vor vielfältigen Herausforderungen, die vom gesellschaftlichen Wandel über den technologischen Fortschritt bis hin zu globalen Trends reichen. Im Jahr 2016 startete das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), das Schweizer Bildungsministerium, zusammen mit den Verbundpartnern einen Prozess zur Erarbeitung einer langfristigen Strategie für die Berufsbildung. Dieser mündete ein Jahr später in die Initiative «Berufsbildung 2030». Aus dieser Initiative ging ein Leitbild für die langfristige Strategie hervor. Daraus wurden Massnahmen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung abgeleitet und Projekte angestossen, beispielsweise zur Optimierung der Prozesse und Anreize im Berufsbildungsprozess. Im Kern geht es darum, verschiedene Aspekte der Berufsbildung zu verfeinern und zu optimieren, ohne einen grundsätzlichen Richtungswechsel anzustreben. Aktuelle Herausforderungen sind:
Was ist wichtiger: das Erlernen der französischen Sprache – in der mehrsprachigen Schweiz eine nicht zu unterschätzende Kompetenz – oder die Vertiefung der Berufskenntnisse in einem Berufsfeld?
- Spezialisierung versus Generalisierung: Die Organisationen der Arbeitswelt (OdA) sind als Wirtschafts- und Branchenverbände in der Verbundpartnerschaft für die Inhalte der beruflichen Grundbildung zuständig. Dabei zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen dem Arbeitsmarkt, dessen Bedarf zu einer immer stärkeren Spezialisierung innerhalb eines Berufsfeldes tendiert oder gar zu neuen Berufen führt, und dem Bildungsauftrag zugunsten einer fachlich breiten, generalistischen Grundbildung. Im Berufsfeld Gebäudehülle wurde vor kurzem mit dem «Solarinstallateur/-in EFZ» ein sechster Beruf eingeführt, obwohl diese Spezialität auch in einen bestehenden Beruf eingebaut hätte werden können. Je mobiler der Arbeitsmarkt wird und je häufiger Berufe oder gar Branchen gewechselt werden, desto notwendiger wird eine breite Ausbildung auch in der Berufsbildung.
- Berufskenntnisse versus Allgemeinbildung: Was ist wichtiger: das Erlernen der französischen Sprache – in der mehrsprachigen Schweiz eine nicht zu unterschätzende Kompetenz – oder die Vertiefung der Berufskenntnisse in einem Berufsfeld? Die Diskussion über das richtige Verhältnis von allgemeinbildendem Unterricht (ABU) und berufskundlichem Unterricht ist nicht neu, hat aber in den letzten Jahren, auch wegen des Akademisierungstrends, an Bedeutung gewonnen. Im Vergleich zu allgemeinbildenden Schulen wie Gymnasien ist der Anteil des allgemeinbildenden Unterrichts an Berufsfachschulen deutlich reduziert. Durch die Zuständigkeit der Arbeitgeber für die inhaltliche Dimension der Ausbildung wird der Fokus stark auf die Berufskenntnisse gelegt. Dies ist grundsätzlich nicht falsch, erschwert aber die Anschlussfähigkeit an die tertiäre Bildungsstufe. Hier sind also gute Lösungen gefragt, die beiden Anforderungen gerecht werden. Derzeit wird der Rahmenlehrplan für den ABU überarbeitet. Dabei soll insbesondere die Förderung der sprachlichen Kompetenzen verstärkt werden.
- Inhalte: Grundsätzlich hat sich die Schweiz mit dem Berufsbildungsgesetz die Aufgabe gestellt, ihre Berufsausbildungen alle fünf Jahre auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Trotz gutem Instrumentarium ist diese Aufgabe nicht immer einfach zu erfüllen: So sind die Erwartungen der Betriebe hoch, die Lektionenzahl aber immer gleich und die Bereitschaft zum Streichen von Inhalten klein. Hinzu kommen neue Themen im Kontext der Nachhaltigkeit: Die zukünftigen Fachkräfte sollen für ökologische, soziale und ökonomische Herausforderungen sensibilisiert werden. Das Programm «Berufsbildung 2030» setzt hier auf die Integration von Nachhaltigkeitskompetenzen in die Lehrpläne, um eine generationenübergreifende Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung zu fördern.
- Erfolgsquote: Die Zahl der Lehrvertragsauflösungen ist in den letzten Jahren auf über 20 Prozent der Lehrverträge gestiegen. Zwar finden rund 80 Prozent der Betroffenen rasch eine neue Lehrstelle, doch der Trend zeigt, dass die Herausforderungen zunehmen. Gesellschaftliche Veränderungen, psychische Belastungen und schwierige Familienkonstellationen können einen erfolgreichen Bildungsabschluss erschweren. Das oben erwähnte 95 Prozent-Ziel ist bei den Schweizerinnen und Schweizern zwar erreicht, bei den Zugewanderten liegt die Abschlussquote jedoch deutlich tiefer, und zwar auch dann, wenn sie die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben. Mit Blick auf die Zuwanderung ist dieser Sachverhalt unbefriedigend und ruft nach neuen Lösungsansätzen.
- Fachkräftemangel: Der sich verschärfende Fachkräftemangel führt zu einem verstärkten Interesse der Unternehmen, ihren Nachwuchs selbst auszubilden. Der Lehrstellenmarkt ist nicht mehr wie in den 1990-er Jahren durch einen Mangel an Lehrstellen, sondern durch einen Mangel an interessierten Lernenden geprägt. Dies gilt allerdings nicht für alle Berufe gleichermassen. Einzelne Berufe haben jedoch zunehmend Schwierigkeiten, ihre Lehrstellen zu besetzen und erhalten teilweise gar keine Bewerbungen mehr auf offene Lehrstellen. Hier sind die Branchen gefordert, ihre Attraktivität zu steigern und bekannt zu machen. Ein Beispiel zeigt die Restaurationsbranche, wo einzelne Restaurants die Viertageswoche für das Küchenpersonal eingeführt hat – bei gleicher Wochenstundenzahl.
- Berufsabschluss für Erwachsene: In der Schweiz verfügen gegen 500’000 Personen über keinen Berufsabschluss. Zwar ist ein Grossteil dieser Personen erwerbstätig, durch geeignete Bildungsmassnahmen könnten aber mehr Personen für den Arbeitsmarkt gewonnen und Personen mit geringen beruflichen Qualifikationen eine Perspektive geboten werden. Im Rahmen eines Massnahmenpakets der Schweizer Regierung zur Förderung des inländischen Arbeitskräftepotenzials von 2019 haben die Verbundpartner der Berufsbildung Aktivitäten entwickelt, um mehr Erwachsenen einen Berufsabschluss zu ermöglichen. Die Abschlusszahlen Erwachsener in der beruflichen Grundbildung sind denn auch von 2014 bis 2022 um 40 Prozent gestiegen, dies allerdings auf tiefem Niveau. Dazu kommt, dass 60 Prozent dieser Abschlüsse Zweitabschlüsse sind, die Betroffenen also bereits einen Berufsabschluss hatten. In der Realität zeigt sich, dass es nicht eine einzige Massnahme gibt, welche erfolgversprechend ist. Vielmehr ist ein Zusammenspiel von vielen Faktoren entscheidend, ob eine erwachsene Person noch einen Berufsabschluss in Angriff nimmt. Ein grosses Hindernis sind beispielsweise die indirekten Bildungskosten, wenn der Lohn während der Ausbildung deutlich tiefer als bei Beschäftigung ausfällt. Die Herausforderung bleibt, gerade auch mit Blick auf den sich akzentuierenden Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel dieses Potenzial besser auszuschöpfen.
20 Jahre Berufsbildungsgesetz – eine Bilanz
Mit dem am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Berufsbildungsgesetz (BBG) wurde die Berufsbildung in der Schweiz umfassend modernisiert. Die Bilanz nach 20 Jahren BBG fällt überwiegend positiv aus. Dennoch stellt sich die Frage, wo Weiterentwicklungen notwendig sind.
Inklusion: Die Öffnung der Berufsbildung für Menschen mit Behinderungen ist bisher nur in geringem Masse gelungen.
- Finanzierung: Bund, Kantone und Wirtschaft teilen sich die Finanzierung der Berufsbildung. Die Wirtschaft investiert jährlich rund 5 Milliarden Franken. Studien zeigen, dass sich die Investitionen der Arbeitgeber lohnen und die Ausbildung für sie einen Nettonutzen bringt. Die öffentliche Hand gibt jährlich gut 3,5 Milliarden Franken für die Berufsbildung aus. Die Kantone, die für den Vollzug der Berufsbildung zuständig sind, tragen drei Viertel dieser Kosten. Der Anteil des Bundes beträgt lediglich ein Viertel. Angesichts der Tatsache, dass der Bund die wesentlichen Eckpfeiler der Berufsbildung festlegt, ist dieser Anteil zu tief. Gemäss dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz müsste der Bundesanteil höher sein.
- Vollzeitausbildung: Die Berufsbildung geht grundsätzlich von einem 100 Prozent-Pensum mit einer 5-Tage-Woche von mindestens 40 Stunden aus. In der Schweiz kennen die meisten Arbeitgeber die 42-Stunden-Woche. Dieses Grundmodell stösst jedoch an Grenzen: Zum einen wollen nicht mehr alle Jugendlichen eine Vollzeitlehre absolvieren, zum anderen gibt es Zielgruppen, die keine Vollzeitlehre absolvieren können. Diese reicht von jungen Eltern über Erwachsene bis hin zu Personen, die Geld verdienen müssen und sich nicht allein auf das Lernendengehalt abstützen können. Wenn Berufsausbildung auch für diese Zielgruppen eine Option sein soll, dann müssen die traditionellen Vorgaben für Berufsfachschulen und Arbeitgeber gelockert und neue Zeitmodelle zugelassen werden.
- Inklusion: Die Öffnung der Berufsbildung für Menschen mit Behinderungen ist bisher nur in geringem Masse gelungen. Der Anspruch ist zugegebenermassen hoch, sollte aber – gerade mit Blick auf das 95 Prozent-Ziel – weiterverfolgt werden. Nicht in allen Berufen sind die Voraussetzungen so, dass eine erfolgreiche Inklusion von Vornherein ausgeschlossen ist. Im Rahmen des Programms «Berufsbildung 2030» wird derzeit in einem Projekt untersucht, wo in der Berufsbildung Potenziale für mehr Inklusion liegen.
- Durchlässigkeit: Aus Schweizer Sicht interessant sind die Entwicklungen in der Höheren Berufsbildung in Deutschland. Mit der Revision des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) im Jahr 2020 wurden der «Professional Bachelor» und «Professional Master» eingeführt. Diese Abschlussbezeichnungen unterstreichen die Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und akademischem Studium und fördern gleichzeitig die internationale Mobilität beruflich Qualifizierter. Der Professional Bachelor entspricht der Niveaustufe 6 des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und ist damit einem Bachelorabschluss an einer Hochschule gleichwertig. Der Professional Master entspricht dem Niveau 7 des EQR und ist gleichwertig mit einem Masterabschluss an einer Hochschule. In der Schweiz gibt es derzeit noch keine vergleichbaren Bezeichnungen, obwohl in der Höheren Berufsbildung ähnliche Abschlüsse existieren. Das zuständige Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) plant im laufenden Jahr eine Revision des schweizerischen Berufsbildungsgesetzes, welche die Einführung von Professional Bachelor und Master als ergänzende Titel für Abschlüsse der Höheren Berufsbildung vorsieht. Leitend sind dabei die Entwicklungen in Deutschland und Österreich.
Insgesamt ist es mit dem BBG in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen, die schweizerische Berufsbildung für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts fit zu machen. Die Schweizer Berufsbildung ist national und international anerkannt und für Jugendliche attraktiv geblieben. Die demografische Entwicklung und der technologische Wandel erfordern jedoch eine kontinuierliche Weiterentwicklung, insbesondere im Bereich der Digitalisierung und der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.
Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen im deutschen Online-Magazin «Denk-doch-mal», Themenheft «Duale Berufsausbildung – was denn sonst?». Sämtliche Beiträge (u.a. von Hubert Esser und Felix Rauner) sind open access zugänglich. Der Beitrag von Peter Marbet beruht auf folgenden Quellen und wurde teilweise mit Mitteln der Künstlichen Intelligenz erstellt.
Nachweis
- Für weitergehende Informationen zur Berufsbildung eignen sich übergreifend Informationen auf der Website des SBFI.
- Schweizer Bildungsbericht 2023 der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF)
- Nahtstellenbarometer 2023 des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), das Schweizer Bildungsministerium
- «Die Schweizer Berufsbildung kurz erklärt» (Schweizerisches Dienstleistungszentrum für Berufsbildung, Beruf-, Studien- und Laufbahnberatung, SDBB)
- Szenarien Sekundarstufe II des Bundesamts für Statistik (BFS)
- Abschlussquoten auf der Sekundarstufe II des Bundesamts für Statistik (BFS)
- Lehrvertragsauflösungen und Wiedereinstiege in die berufliche Grundbildung nach Standardausbildungsdauer (Eintrittskohorte 2018: Bildungsverläufe bis 31.12.2022) des Bundesamts für Statistik (BFS)
Zitiervorschlag
Marbet, P. (2024). Bilanz nach 20 Jahren Berufsbildungsgesetz. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(6).