Berufsbildung in Forschung und Praxis
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«Berufsbildung 2040 – Perspektiven und Visionen»: Eine Vision für die individualisierte Kompetenzentwicklung im digitalen Zeitalter

Von der linearen Lehre zur personalisierten Lernbegleitung

Die Berufsbildung steht vor einem Paradigmenwechsel. In 15 Jahren werden junge Menschen in die Lehre eintreten, die mit Technologien aufgewachsen sind, die wir heute erst erahnen können. Sie werden es gewohnt sein, mit intelligenten Assistenzsystemen zu interagieren, zu lernen und zu arbeiten. Es ist Zeit für eine mutige Vision: eine Berufsbildung, die konsequent auf die individuelle Kompetenzentwicklung setzt. Ermöglicht durch modernste Technologie, aber konzipiert, um die menschliche Beziehung und die persönliche Erfahrung ins Zentrum der beruflichen Ausbildung zu stellen.


Der notwendige Paradigmenwechsel

Im Zentrum steht nicht mehr das abzuarbeitende Curriculum, sondern die lernende Person, die ihre Erfahrungen, unterstützt durch digitale Systeme und persönliche Begleitung, selbst zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt.

Die Annahme, dass alle Lernenden an verschiedenen Lernorten zur gleichen Zeit das Gleiche lernen, ist eine Illusion. Euler (1999) zeigte bereits, dass sich Auszubildende «in zwei Welten bewegen, die inhaltlich mehr oder weniger zusammenhanglos nebeneinanderstehen» (S. 251). Seine empirischen Befunde belegten, dass ein Grossteil der Betriebe keine oder nur sporadische Kooperationsaktivitäten pflegen, nicht aus mangelndem Willen, sondern aufgrund struktureller Inkompatibilität der Lernorte. Statt des erhofften «Gleichlaufcurriculums» beschreibt der Begriff «Autonomiecurriculum» die Realität sehr viel treffender (ebd.).

Rund 25 Jahre und zahlreiche Modellversuche später hat sich diese Diagnose nicht grundlegend geändert. Besonders in Berufen mit vielen KMU geht die von Lehrplänen propagierte Synchronizität innerhalb weniger Monate verloren. Daraus möchte ich eine radikale Konsequenz ziehen: Statt weiterhin an der Koordination der drei Lernorte zu arbeiten, macht sie deren weitgehende Autonomie zum Ausgangspunkt. Im Zentrum steht nicht mehr das abzuarbeitende Curriculum, sondern die lernende Person, die ihre Erfahrungen, unterstützt durch digitale Systeme und persönliche Begleitung, selbst zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt.

Die vorliegende Vision zieht eine klare Konsequenz: Der Paradigmenwechsel findet nicht auf der Systemebene statt – EFZ, Abschlussprüfungen und Lernortstruktur bleiben bestehen. Die Revolution geschieht im Lernen und Ausbilden selbst. Im Zentrum steht nicht mehr das abzuarbeitende Curriculum, sondern die lernende Person, die ihre Erfahrungen, unterstützt durch digitale Systeme und persönliche Begleitung, selbst zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt. Die faktische Autonomie der Lernorte wird nicht bekämpft, sondern produktiv genutzt: Jeder Lernort trägt bei, was er am besten kann, die Integration leistet die lernende Person.

Dieser Ansatz erfordert ein didaktisches Prinzip, das fragmentierte Erfahrungen produktiv macht. Berufliches Lernen beginnt mit konkreter Erfahrung: Gonon (2023) beschreibt es treffend als «informellen Vorgang durch Nachahmen und Ausprobieren». Dillenbourg et al. (2022) zeigen, wie diese Erfahrungen systematisch zum Lernen werden: Die Menschen erfassen und dokumentieren ihre Arbeitserfahrungen, bereiten sie durch Auswahl und Strukturierung auf, nutzen sie in anderen Kontexten (z.B. an einem anderen Lernort) und validieren sie schliesslich durch Anwendung in neuen Situationen. Dieser Prozess erfordert «Anleitung und ein Gerüst» sowie «eine digitale Lernumgebung» (Dillenbourg et al., 2022).

Der neue ABU-Rahmenlehrplan (SBFI, 2025) nutzt dafür das Spiralprinzip. Die Vision 2040 baut dies weiter aus: Nicht mehr eine geplante Spirale nach Semesterlogik, sondern eine organische und erfahrungsbasierte: weil berufliche Herausforderungen zwangsläufig wiederkehren, jedes Mal in neuem Kontext, jedes Mal anders und mit neuen Anwendungsmöglichkeiten. Ein Kundengespräch wird demnach nicht nur in einem Semester geübt und theoretisch behandelt, um dann als gelernt zu gelten. Vielmehr entwickeln sich die dazu gehörenden Kompetenzen weiter, je öfter sie angewandt und behandelt werden.

Das Kompetenzkatalog-System: Flexibilität statt Standardisierung

Die grundlegende Neuerung liegt in einem dynamischen Kompetenzkatalog-System. Die Handlungskompetenzen bleiben bestehen, aber an die Stelle der Leistungsziele treten Kompetenzniveaus und konkrete Handlungsbeschreibungen: von der Einführung über die Konsolidierung zur Expertise. Der Katalog ist bewusst so umfassend angelegt, dass niemand alle Kompetenzen entwickeln kann oder soll; es werden alle nachgefragten Facetten eines Berufes abgebildet. Diese Offenheit ermöglicht eine vergleichsweise einfache Aktualisierung der möglichen Kompetenzen, und deren Ausbildungsinhalte und ist eine direkte Antwort auf die rasante Entwicklung in der Berufswelt und der Gesellschaft.

Lernende wählen gemeinsam mit ihren verantwortlichen Personen der unterschiedlichen Lernorte die Kompetenzen aus, die optimal zu ihren Stärken, Interessen und den betrieblichen Möglichkeiten passen. Einige Kernkompetenzen bleiben verpflichtend, der Grossteil ist frei wählbar.

Lernende wählen gemeinsam mit ihren verantwortlichen Personen der unterschiedlichen Lernorte die Kompetenzen aus, die optimal zu ihren Stärken, Interessen und den betrieblichen Möglichkeiten passen. Einige Kernkompetenzen bleiben verpflichtend, der Grossteil ist frei wählbar. Dies löst die heutige Problematik der Fachrichtungen und Spezialisierungen und ermöglicht es den Lernenden, individuelle Kompetenzprofile zu entwickeln. Lehrbetriebe können sich gezielt abgrenzen durch transparente Ausschreibungen der Lehrstellen mit den angebotenen Kompetenzen.

Der Kompetenznachweis erfolgt durch dokumentierte Lernerfahrungen, Bilder, Videos, Texte, verbunden mit Reflexionen, Selbst- und Fremdeinschätzungen und der Verknüpfung zu Fachwissen (wie bspw. in Cattaneo & Motta, 2021; Dillenbourg et al., 2022). Nach mehreren Lernmomenten in variablen Kontexten und Situationen kann ein Kompetenzniveau validiert werden. Dafür braucht es die Bestätigung von zwei Personen aus unterschiedlichen Lernorten. Damit wird ein Entwicklungsstand festgehalten, aber nicht zwangsläufig abgeschlossen.

Die schwerfälligen und ressourcenintensiven Reformprozesse der Bildungsverordnungen fallen weitgehend weg (Übersicht der Aufwendungen der OdA: Pusterla et al., 2025). Der Kompetenzkatalog kann durch die OdA weitgehend selbstständig weiterentwickelt und punktuell ergänzt werden. Obsolete Kompetenzen werden weiterhin aufgeführt, aber inaktiviert. Damit bleibt die Nachvollziehbarkeit der Kompetenzprofile stets gesichert. Durch aggregierte Daten kann schliesslich auch ermittelt werden, welche Fähigkeiten in der Aus- und Weiterbildung (grundsätzlich über alle Bildungsstufen hinweg) entwickelt wurden, und neue Kompetenzen können von den Betrieben einfach vorgeschlagen und implementiert werden.

Die Lernorte in neuer Konstellation

Die drei Lernorte bleiben bestehen, aber ihre Beziehung zueinander wandelt sich grundlegend: Statt zu versuchen, das Gleiche zur gleichen Zeit zu tun, trägt jeder Lernort bei, was er am besten kann. Die Koordination erfolgt nicht mehr über curriculare Synchronisation, sondern über eine digitale Plattform mit der lernenden Person im Zentrum. Diese Plattform ist nicht als Lernmanagementsystem gedacht, sondern beinhaltet den Kompetenzkatalog, Assistenzsysteme für die spezifischen Aufgaben (Beschreibung, Reflexion, Zieldefinition etc.) und stellt eine nationale Lösung zum Bildungsnachweis dar.

Der Lehrbetrieb bleibt der Ort authentischer Arbeitserfahrungen. Berufsbildende begleiten Lernende bei realen Aufgaben und helfen, diese zu dokumentieren und zu reflektieren. Eine komplexe Arbeitssituation wird multimedial festgehalten und durch kurze schriftliche Beschreibung und Reflexion ergänzt. Im regelmässigen Standortgespräch validiert die Berufsbildnerin die erreichte Kompetenzstufe, basierend auf der gemeinsamen Arbeitserfahrung. Die Plattform erleichtert die Administration und ermöglicht den Fokus auf die Begleitung.

Die Berufsfachschule wird zum Reflexions- und Experimentierraum. Hier bringen Lernende ihre dokumentierten Arbeitserfahrungen in Peer-Gruppen ein – Lernende desselben Berufs, aber aus verschiedenen Lehrjahren. Sie lernen gemeinsam, diskutieren ihre Erfahrungen, entwerfen Ideen und  erarbeiten neue Entwicklungsziele. Die Lehrpersonen – Berufskunde und ABU im interdisziplinären Team – setzen theoretische Impulse, verknüpfen Praxis mit Konzepten und moderieren Vertiefungsprojekte. Zu Beginn der Lehre gibt es einen Intensivblock für systematischen Aufbau von Selbstorganisation; später arbeiten die Lernenden zunehmend flexibel, mit regelmässigen Supervisionssitzungen statt fixem Stundenplan.

Die überbetrieblichen Kurse erfüllen eine Doppelfunktion: Basis-üK vermitteln standardisiert sicherheitskritische und berufsübergreifend essenzielle Pflichtkompetenzen. Darüber hinaus entwickeln sich üK-Zentren zu Kompetenzlaboren, die Lernende nach Bedarf für Spezialisierungen buchen können, basierend auf ihrem individuellen Kompetenzprofil und Vertiefungswünschen.

Diese Transformation erfordert neue Kompetenzen: Berufsbildende, Lehrerinnen und üK-Instruktoren werden zu professionellen Lernbegleitern, die Reflexionsgespräche führen, Kompetenzen differenziert beurteilen und individuelle Entwicklungspfade mitgestalten. Die entsprechende Aus- und Weiterbildung aller involvierten Personen ist zentral für den Erfolg des Systems.

Die unverzichtbare technologische Dimension

Das vorliegende Konzept wäre noch vor wenigen Jahren technisch nicht umsetzbar gewesen. Erst die Kombination neuer Technologien und der im Aufbau befindlichen Schweizer Infrastruktur macht eine Berufsbildung möglich, die konsequent auf individuelle Kompetenzentwicklung setzt.

Das vorliegende Konzept wäre noch vor wenigen Jahren technisch nicht umsetzbar gewesen. Erst die Kombination neuer Technologien und der im Aufbau befindlichen Schweizer Infrastruktur macht eine Berufsbildung möglich, die konsequent auf individuelle Kompetenzentwicklung setzt. Die Bausteine dafür sind: E-ID für sichere Identifikation, Wallet-Systeme für digitale Nachweise und Pilotprojekte wie das digitale Maturitätszeugnis (Educa, 2025a, 2025b). Die Infrastruktur basiert auf selbstbestimmter Identität, die Lernenden behalten die Datenkontrolle.

International liefern Microcredentials-Frameworks Standards für digitale Kompetenznachweise (für eine Übersicht: Commonwealth of Learning (COL), 2025): Blockchain-basierte Zertifizierung garantiert Fälschungssicherheit, standardisierte Metadaten ermöglichen Interoperabilität, KI-Systeme können (bei transparenten Algorithmen) adaptive Unterstützung bieten. Hüter (2025) zeigt in seiner Potenzialanalyse die bereits bestehenden Konzepte und praktischen Umsetzungen auch für die Schweiz auf; diese lassen den Schluss zu, dass auch national die Voraussetzungen weitgehend bestehen.

Der entscheidende Schritt liegt in der Integration: Eine nationale Berufsbildungsplattform dokumentiert multimedial Arbeitserfahrungen, ermöglicht asynchrone Koordination zwischen den drei Lernorten und macht Kompetenzentwicklung über Berufsgrenzen hinweg transparent. Die Technologie ersetzt keine Menschen, aber sie schafft die Voraussetzungen, damit sich Berufsbildnerinnen, Lehrpersonen und üK-Instruktoren auf das Wesentliche konzentrieren können: Die Begleitung individueller Lernprozesse und die Beurteilung authentischer Kompetenzen.

Fazit: Gestalten wir den Wandel

Die Schweizer Berufsbildung steht an einem spannenden Punkt. Während das System in seinen Grundfesten funktioniert, geraten seine Anpassungsmechanismen zunehmend unter Druck. Totalrevisionen dauern Jahre, Koordinationsversuche zwischen den Lernorten scheitern strukturell und selbst ambitionierte Reformvorhaben wie Berufsbildung 2030 bringen nur bescheidene Resultate. Gleichzeitig beschleunigt sich der technologische und gesellschaftliche Wandel. Wer heute in eine Lehre eintritt, wird in einem Berufsleben Transformationen erleben, die wir noch nicht absehen können. Die entscheidende Frage lautet: Wie bereiten wir junge Menschen zwischen 16 und 25 – in einer kritischen Entwicklungsphase – darauf vor, selbstbestimmt und kompetent mit ständig wechselnden Rahmenbedingungen umzugehen?

Die hier skizzierte Vision antwortet darauf mit einem Paradigmenwechsel beim Lernen selbst: weg von statischen Titeln hin zu sichtbaren, dynamischen Kompetenzprofilen. Ein nationales Kompetenzkatalog-System würde es ermöglichen, authentische Arbeitserfahrungen zu dokumentieren, individuell zu validieren und über einen evolutiven Kompetenzausweis nachzuweisen. Dies ist kein Selbstzweck, sondern ermöglicht Flexibilität in der Ausbildung und im Berufsleben. Dabei bleiben die Stärken des Systems erhalten: die Dualität, die Verbundpartnerschaft, die Praxisorientierung.

Realistisch betrachtet ist dies eine Herkulesaufgabe. Die Interessen von OdAs, Kantonen, Lehrbetrieben, Schulen und Verbänden unter einer Vision zu versammeln erfordert enorme Koordination. Die Erfahrungen mit bottom-up Reformansätzen zeigen die Grenzen verbundpartnerschaftlicher Konsensfindung. Möglicherweise braucht es daher einen gesetzlichen Rahmen, eine BBG-Revision, die Strukturen vorgibt, kombiniert mit verbundpartnerschaftlicher Umsetzung in der Praxis. Parallel dazu sind grundlegende Fragen zu klären: Datenschutz, transparente KI-Modelle, Digital Divide, Finanzierung. Diese sind keine Hindernisse, sondern Gestaltungsaufgaben, für die wir heute Lösungen entwickeln können, die unseren Werten entsprechen.

Es ist jetzt an der Zeit, eine mutige Vision anzugehen und erste Projekte umzusetzen. (…) Der Moment, diese Diskussion gesamtschweizerisch zu führen, ist jetzt – bevor uns die technologische Entwicklung überholt.

Es ist jetzt an der Zeit, eine mutige Vision anzugehen und erste Projekte umzusetzen. Mit educa, der EHB und weiteren Forschungsinstitutionen verfügt die Schweiz über starke Akteure, die an solchen Konzepten arbeiten und diese entwickeln können. Der Moment, diese Diskussion gesamtschweizerisch zu führen, ist jetzt – bevor uns die technologische Entwicklung überholt. Diese Vision mag radikal erscheinen, aber sie baut auf Bestehendem auf und macht es zukunftsfähig. Die Frage ist nicht ob, sondern wie wir den Wandel gestalten.

Bibliographie

Zitiervorschlag

Chalupny, U. (2025). Von der linearen Lehre zur personalisierten Lernbegleitung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10 (13).

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