Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Wissenstransfer statt Systemexport

Wege in eine dualisierte Berufsausbildung

Man weiss es inzwischen: Das Berufsbildungssystem in der Tradition von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland lässt sich nicht «exportieren»; viele Projekte haben sich als wenig nachhaltig erwiesen. Was aber möglich ist, ist der Transfer von Elementen dualer Berufsbildung. Prof. em. Dieter Euler beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie das gelingen könnte. Im vorliegenden Beitrag analysiert er die Wege und Themen möglicher Transfers. Er begreift das Anliegen nicht als Systemexport, sondern als schrittweisen Wissenstransfer.


Verfolgt man die internationale Diskussion über die Entwicklung von Berufsausbildungssystemen, so fallen drei Sachverhalte ins Auge: (1) Das duale System schweizerischer oder deutscher Prägung stellt eine rare Ausnahme dar. In den meisten Ländern dominieren schulisch- oder marktgesteuerte Ausbildungsformen. (2) Viele Länder mit diesen Formen äussern eine grosse Sympathie für das duale System und streben einen Transfer in das eigene Land an. (3) Trotz des verbreiteten Lobes hat ein Transfer des dualen Systems in andere Länder bislang nicht stattgefunden. Pointiert könnte man das duale System als einen «Exportschlager ohne Absatz» (Euler 2013) bezeichnen.

Diese Beobachtungen bilden den Hintergrund für eine Studie (Euler 2023), auf deren Grundlage u.a. die folgenden Fragen diskutiert werden:

  1. Warum besteht in vielen Ländern ein Interesse an der dualen Berufsausbildung?
  2. Wie vollziehen sich mögliche Transferprozesse?
  3. Wie könnte der Transfer nicht als Systemexport, sondern als ein inkrementeller Wissenstransfer erfolgen?

Warum besteht in vielen Ländern ein Interesse an der dualen Berufsausbildung?

Die duale Berufsausbildung wird zumeist mit Leistungsvorteilen verbunden, die sich auf die Erreichung ökonomischer, gesellschaftlicher und individueller Ziele beziehen. Aus der Sicht von Unternehmen entwickelt die duale Ausbildung Fachkräfte auf einem mittleren Qualifikationsniveau, die Tun und Denken, Aktion und Reflexion, Know-How und Know-Why, Praxis und Theorie gut miteinander verbinden. Für Schwellen- und Entwicklungsländer ist die Bereitstellung qualifizierter Fachkräfte bedeutsam, um ausländische Investoren in ihr Land anzuziehen. Für Staat und Gesellschaft bietet die duale Ausbildung ein System, das einerseits jungen Menschen mit Startnachteilen eine Chance zur Teilhabe an Beschäftigung und Gesellschaft ermöglicht, andererseits im Vergleich zu einer schulbasierten Ausbildung die staatlichen Ausgaben niedrig hält. Für junge Menschen bietet die duale Ausbildung eine Brücke in Arbeit und Beschäftigung, die zudem häufig mit einer Vergütung verbunden ist.

Eine zentrale Voraussetzung bildet die Bereitschaft der Wirtschaft, die Entwicklung der dualen Ausbildung in ihrem Land zu unterstützen.

Die skizzierten Punkte bieten Potenziale, deren Nutzung an verschiedene Voraussetzungen gebunden ist. Eine zentrale Voraussetzung bildet die Bereitschaft der Wirtschaft, die Entwicklung der dualen Ausbildung in ihrem Land zu unterstützen. Dabei können zahlreiche Hindernisse auftreten. So mag das Anforderungsprofil vieler Stellen im Betrieb nicht mit dem mittleren Qualifikationsniveau korrespondieren, sondern entweder eher auf un- und angelerntes Personal oder Hochschulabsolventen passen. Auch hält sich in vielen Ländern die Annahme, dass Bildung und damit auch Berufsbildung durch den Staat bereitzustellen und zu finanzieren sei. Betriebe sehen für sich eine Gefahr darin, dass die Ausbildung für sie Nettokosten verursacht und das von ihnen ausgebildete Personal von Wettbewerbern abgeworben wird. Wieder andere betrachten eine mehrjährige Ausbildung als zu lang und wenig kompatibel mit der eigenen Personalplanung. Auch von gesellschaftlicher und individueller Seite können Zweifel an dem Mehrwert einer dualen Berufsausbildung geäussert werden. Lehrkräfte an Berufsschulen befürchten u.U. durch die Verschiebung von Teilen der Ausbildung in die Betriebe eine Reduzierung ihrer Beschäftigung. Kritische Stimmen zweifeln an der Qualität der betrieblichen Ausbildung und befürchten eine Ausnutzung der Lernenden als billige Arbeitskraft.

Die unterschiedlichen Perspektiven lassen sich so zusammenfassen, dass einerseits gute Argumente für die duale Ausbildung vorgetragen werden, andererseits in deren Umsetzung mehr oder weniger begründete Hindernisse auftreten können.

Wie vollziehen sich mögliche Transferprozesse?

Selbst wenn sich ein Land in Abwägung der skizzierten Potenziale und Hindernisse entscheidet, das eigene Ausbildungssystem in Richtung eines dualen Systems zu entwickeln und dabei auch auf die Erfahrungen anderer Länder zurückzugreifen, vollzieht sich der Transfer nicht in Form einer kopierenden Übernahme. Erfahrungen aus anderen Ländern sind «Angebote» für ein potenzielles Empfängerland, die von diesem im Rahmen der spezifischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen auf ihre (sachliche) Relevanz und (normative) Zielvereinbarkeit geprüft werden. Bewährte Erfahrungen aus einem Land können im besten Fall den Rohstoff für die Entwicklung angepasster Massnahmen in anderen Ländern bilden. In Anlehnung an Gessler (2017) können dabei drei Formen des Transfer wirksam werden:

  • Disseminativ: Neues fügt sich Bestehendem hinzu oder ersetzt es (teilweise). Beispiel: Es werden neue Berufsbilder eingeführt und dabei Curricula aus einem anderen Land in das eigene System eingepasst.
  • Adaptiv: Neues wird aufgenommen und auf die bestehenden Bedingungen angepasst. Beispiel: In einer schulbasierten Berufsausbildung werden betriebliche Lernphasen aufgenommen und in Dauer und Inhalt an die bestehenden Rahmenbedingungen in den kooperierenden Betrieben angepasst.
  • Transformativ: Neues wird als Ausgangsimpuls zur Veränderung des Bestehenden aufgenommen und führt dabei zu Innovationen. Beispiel: Der Grundgedanke einer Sozialpartnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft wird aufgenommen und führt zur Gründung neuartiger Konsultativ- und Entscheidungsgremien.

Ein Land, das seine Berufsausbildung reformieren will und dabei aus den Erfahrungen anderer Länder lernen möchte, wird den Blick zunächst auf jene Bereiche im eigenen System richten, in denen ein wesentlicher Reformbedarf gesehen wird oder für deren Veränderungen gute Voraussetzungen bestehen. Ausgehend von der Verfolgung eigener Ziele und vor dem Hintergrund bestehender Rahmenbedingungen wird ein Land prüfen, welche Elemente gut in die bestehenden Strukturen integrierbar sind – ggf. mit Anpassungen, Modifikationen und Erweiterungen. Man wird sich zudem Beispiele aus verschiedenen Ländern ansehen und möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, die angestrebten Reformprozesse im eigenen Land auf eine Kombination von Ansätzen aus verschiedenen Ländern zu stützen. Kurz: Die Transferfrage wird auf der Ebene spezifischer Systemkomponenten reflektiert, dabei werden die Erfahrungen verschiedener Länder verglichen und ggf. jene Elemente aufgenommen und angepasst, die am besten mit den eigenen Zielen, Strukturen und Kulturen harmonieren.

Wie könnte der Transfer nicht als Systemexport, sondern als ein inkrementeller Wissenstransfer erfolgen?

Reformprozesse in einem komplexen System wie der Berufsausbildung erfolgen über die Adressierung und Priorisierung einzelner Komponenten des Systems.

Reformprozesse in einem komplexen System wie der Berufsausbildung erfolgen über die Adressierung und Priorisierung einzelner Komponenten des Systems. Dazu ist es zunächst erforderlich, die relevanten Komponenten einer dualen Berufsausbildung zu bestimmen und zu beschreiben. Die Gestaltung dieser Komponenten kann in unterschiedlicher Ausprägung und Reichweite erfolgen. Beispielsweise sollen schulbasierte Ausbildungsgänge durch praktische Lern- und Arbeitsphasen in Betrieben dualisiert werden. Die Reichweite dieses Ansatzes kann zunächst auf bestimmte Branchen, Regionen und Betriebsgrössen begrenzt bleiben. Die Umsetzung in den Betrieben kann curricular verbindlich gesteuert werden oder auf der Grundlage branchenspezifischer Empfehlungen erfolgen. Daraus folgt, dass der Transfer nicht notwendigerweise das umfassende Gesamtsystem einer (idealtypischen) dualen Berufsausbildung zum Gegenstand haben muss, sondern je nach Rahmenbedingungen und Zielsetzung auf die Erreichung von Zwischenstufen gerichtet sein kann.

Im Rahmen der eingangs erwähnten Studie (Euler 2023) werden insgesamt elf Komponenten als mögliche Gegenstände für die Gestaltung eines Berufsbildungstransfers unterschieden. Die einzelnen Komponenten werden jeweils erläutert, begründet und über Beispiele veranschaulicht. Schliesslich werden für jede Komponente vier Entwicklungsstufen im Sinne von Realisierungsoptionen vorgeschlagen, die zugleich mögliche Etappen eines Transfers hin zu einem denkbaren Idealzustand markieren. Die Entwicklungsstufen werden definiert als Nähe der jeweiligen Ausprägung zu dem Idealtypus eines dualen Systems.

Im Überblick können die unterschiedenen elf Komponenten mit den jeweiligen Entwicklungsstufen über den folgenden Bezugsrahmen dargestellt werden:

Abbildung: Bezugsrahmen zur Analyse und Gestaltung von Ausbildungssystemen am Richtmass «duales System»

Zwei Beispiele sollen die Handhabung des Bezugsrahmens im Rahmen eines Berufsbildungstransfers veranschaulichen. Ausgangspunkt ist dabei jeweils ein schulbasiertes Ausbildungssystem. In einer ersten Reform­etappe sollen über die Komponenten 3 (duales Prinzip) und 4 (Partnerschaftskultur) Schritte hin zu einer dualen Ausbildung eingeleitet werden. Für die Komponente 3 (duales Prinzip) könnten vier Entwicklungsstufen den Weg von einem rein schulbasierten zu einem dualen System markieren:

1 Praxis als Unterrichtsgegenstand: Schulbasierter Ausbildungsgang stellt in den Fächern bzw. Lerneinheiten zwar Bezüge zur jeweiligen Praxis her, vollzieht dies jedoch ohne Einbeziehung von Praktikern.
2 Punktuelle Einbeziehung der Praxis in den Unterricht: Schulbasierter Ausbildungsgang ermöglicht den Lernenden durch die Einbeziehung der Praxis in den Unterricht (z. B. in Form von Betriebsbesuchen, Präsentationen von Praktikern) punktuelle Einblicke in die Praxis.
3 Abgestimmte Praxisphasen innerhalb des Ausbildungsgangs: Innerhalb des schulbasierten Ausbildungsgangs sind mehr oder weniger umfangreiche Praxisphasen vorgesehen (Praktika), die mit den Lerninhalten des Curriculums abgestimmt sind und deren Erfahrungen durch die Schule reflektiert und ausgewertet werden.
4 Alternierende Ausbildungsstrukturen mit umfangreichen Praxisphasen: Die Praxisanteile umfassen innerhalb des Ausbildungsgangs mindestens 40%. Sie sind curricular verbindlich spezifiziert, werden in ihrer Qualität überwacht und bilden einen Teil der Abschlussprüfungen.

Für die Komponente 4 (Partnerschaftskultur) liessen sich die vier Entwicklungsstufen wie folgt unterscheiden:

1 Pionierunternehmen: Eine relativ kleine Zahl von Unternehmen engagiert sich in begrenztem Rahmen in der Durchführung betrieblicher Ausbildungsphasen und/oder unterstützt die Entwicklung dualer Ausbildungsangebote in weiteren Handlungsfeldern (z. B. Entwicklung von Curricula).
2 Punktuelle Verankerung in Wirtschaftsbranchen: In einzelnen Wirtschaftssektoren wird die duale Berufsausbildung für die Unternehmen zu einer verbreiteten Option in der Rekrutierung von qualifiziertem Fachpersonal.
3 Nachhaltige Verankerung: Die Mitwirkung von Unternehmen in verschiedenen Handlungsfeldern auf der institutionell-organisatorischen und der Ausbildungsebene erfolgt kontinuierlich und nachhaltig.
4 Institutionalisierte Sozialpartnerschaft: Das Zusammenwirken zwischen Staat und Wirtschaft wird in vereinbarten Handlungsfeldern in niedrig- und hochschwelligen Beteiligungsformen institutionalisiert. Die Beteiligung der Wirtschaft kann dabei von Formen des Informationsaustauschs bis zu Übertragung von staatlichen Aufgaben in die (Mit-)Verantwortung von korporatistischen Organisationen der Wirtschaft reichen.

Die vier Entwicklungsstufen dienen zum einen der Positionsbestimmung im Hinblick auf die jeweiligen Komponenten, zum anderen der Zieldefinition für den Reformprozess. Dabei wäre nicht notwendigerweise die Stufe 4 der ausgewählten Komponenten als Reformziel anzusteuern – denkbar wäre je nach Kontext beispielweise zunächst ein Sprung auf die Stufen 2 oder 3. Für die Gestaltung von Interventionen zur Erreichung der angestrebten Entwicklungsstufen könnten sodann Beispiele und Erfahrungen aus anderen Ländern aufgenommen und im Rahmen der drei oben skizzierten Transferformen reflektiert werden.

Abschluss

Die Entwicklung einer dualen Berufsausbildung ist je nach Ausgangssituation ein komplexes und langfristiges Projekt, das nur schrittweise realisiert werden kann.

Die Entwicklung einer dualen Berufsausbildung ist je nach Ausgangssituation ein komplexes und langfristiges Projekt, das nur schrittweise realisiert werden kann. Seine Durchführung erfordert eine konzeptionelle Fundierung und eine strategische Planung («Masterplan») mit einer Skizzierung der angestrebten Entwicklungsstufen, Meilensteine und Interventionen.

Der skizzierte Bezugsrahmen mit seinem Entwicklungsstufen-Ansatz ist ein Instrument, das wesentliche Schritte eines Reformprozesses unterstützen kann. Es dient zur Analyse des Status quo, bietet Optionen für die Definition von möglichen Entwicklungsstufen als angestrebte Zielzustände und kann die Entwicklung zielbezogener Interventionen anregen. Zudem kann der Bezugsrahmen den Vergleich von Realisationsvarianten einzelner Entwicklungsstufen in unterschiedlichen Ländern oder Sektoren unterstützen und damit die empirische Basis in der deskriptiven Erfassung von Berufsbildungsbildungssystemen erweitern. Der Blick auf die Praxis anderer Länder bietet ferner eine Grundlage für mögliche Transferüberlegungen in der Gestaltung des eigenen Systems.

Transferprozesse werden dabei nicht als die kopierende Übernahme einer funktionierenden Praxis in einem Land durch ein anderes Land verstanden. Oft werden Aspekte einer «guten Praxis» aufgenommen und auf die Bedingungen in der eigenen Praxis angepasst. Manchmal wird auch «nur» ein Grundgedanke oder eine Grundphilosophie aufgenommen, führt dann aber zu eigenständigen und spezifischen Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund ist das Lernen aus guten Beispielen im Sinne eines «Benchlearning» für die Entwicklung des eigenen Systems sehr wertvoll, sollte aber nicht durch unrealistische Ergebniserwartungen überfordert werden. In diesem Sinne vollzieht sich die Unterstützung bei der Entwicklung von Berufsbildungssystemen nicht im Sinne eines Systemexports, sondern als Wissenstransfer. Der Transfer richtet sich dabei auf die Rahmenbedingungen im Empfängerland aus und wird möglichst umfassend durch die Akteure im Land gesteuert.

Literatur

Zitiervorschlag

Euler, D. (2023). Wege in eine dualisierte Berufsausbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(12).

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