Studie an der Universität Lausanne
Wie kann die Berufsbildung unfreiwillige berufliche Umorientierungen erleichtern?
Eine berufliche Bildung ermöglicht es Erwachsenen, die sich umorientieren müssen, wieder Tritt in einem Beruf zu finden. Wenn die Umorientierung allerdings unfreiwillig erfolgt, können der Zugang und die Teilnahme an einer beruflichen Bildung mit grossen Herausforderungen verbunden sein. Dies zeigt die vorliegende Studie. Sie sucht nach Antworten auf die Frage, wie berufliche Bildungen für betroffene Menschen zugänglicher und vorteilhafter gestaltet werden kann.
Dank zwei Finanzierungen durch den Schweizerischen Nationalfonds (Phase 1, 2020-2024, SNF 100019_192429; Phase 2, 2024-2028, SNF 10001_227634) hat unser Team eine qualitative Längsschnittforschung mit mehreren Studien durchgeführt. Ziel war es, die Wege und Erfahrungen von Personen zu beschreiben, die sich beruflich umorientieren müssen. Wir konnten mehrmals über einen Zeitraum von fünf Jahren Erwachsene[1] aus der französischsprachigen Schweiz befragen, die gezwungen waren, ihren Beruf zu wechseln – sei es aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Gesundheit, weil ihr Abschluss nach einer Migration in die Schweiz nicht anerkannt wurde oder wegen Arbeitslosigkeit in Branchen mit geringen Beschäftigungsaussichten.
Die Untersuchung beschreibt die Herausforderungen, die eine Umorientierung mit sich bringen kann, sei es beim Zugang zu einem Programm oder während der Ausbildung. Die Analyse gibt zudem Denkanstösse, wie diese Übergänge besser begleitet werden können.
Die Aussagen der befragten Personen zeigen, dass eine Umorientierung die mit dem alten Beruf verbundenen Kompetenzen verfallen lässt und neue, berufsbezogene Kompetenzen erworben werden müssen. Dieser Erwerb neuer Kompetenzen kann informell – durch «learning by doing» oder über Praktika – oder über eine qualifizierte Ausbildung erfolgen. Die Teilnehmenden unserer Untersuchung durchliefen Ausbildungen unterschiedlichen Niveaus, darunter berufliche Grundbildungen, aber auch höhere Bildungen. So hat Frédéric (29, ehemaliger Zimmermann, der sich wegen Rückenproblemen neu orientieren musste) eine berufliche Grundbildung als Geomatiker begonnen, während Kevin (29, ehemaliger Friseur, der wegen der Entwicklung von Allergien wechseln musste) einen eidgenössischen Fachausweis im Personalmanagement anstrebt (Brazier, Masdonati, Oliveira Borges, et al., 2024).
Die Untersuchung beschreibt die Herausforderungen, die eine Umorientierung mit sich bringen kann, sei es beim Zugang zu einem Programm oder während der Ausbildung (Abbildung). Die Analyse gibt zudem Denkanstösse, wie diese Übergänge besser begleitet werden können. Einige davon richten sich an alle Bildungseinrichtungen, die Erwachsene in der Umorientierung aufnehmen.

Überblick über die Herausforderungen der Berufsbildung für Personen, die sich unfreiwillig beruflich umorientieren müssen.
Herausforderungen im Vorfeld der Aufnahme einer (beruflichen) Ausbildung
Die erste Herausforderung für Personen, die sich beruflich umorientieren müssen, sind Hindernisse beim Zugang (Brazier, Masdonati, Oliveira Borges, et al., 2024; Masdonati et al., 2022). Diese können materieller Natur sein oder die Identität einer Person betreffen. Zu den materiellen Hindernissen gehört, dass eine Berufsausbildung zu teuer sein kann, besonders wenn es zu einem Verdienstausfall kommt. Im Gegensatz zu jungen Lernenden haben Erwachsene oft grössere wirtschaftliche Verpflichtungen – wie die Erziehung von Kindern – und können nicht so leicht auf ein Einkommen verzichten. So erging es der Bibliothekarin Nancy (41), die sich wegen Beschäftigungsmangel umorientierte. Als Mutter von kleinen Kindern fielen diverse Ausbildungen ausser Betracht, die sie eigentlich interessierten. Ebenso weisen mehrere Teilnehmende unserer Studie auf die starren Zugangsbedingungen bestimmter Bildungseinrichtungen hin, was die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen oder bereits erworbener Berufserfahrung betrifft.
So beschrieben einige unserer Teilnehmenden die Schwierigkeit, den ambivalenten Status des «Senior Novice» anzunehmen, also gleichzeitig als Individuum relativ alt zu sein (im Vergleich zu Lernenden mit einer linearen Laufbahn), aber als Lernende jung.
Eine zweite Herausforderung besteht darin, dass eine neue Ausbildung die persönliche Identität in Frage stellt und das Gefühl bedroht, dass das Leben kontinuierlich verlaufe (van Doeselaar et al., 2018). Das kann sich wie ein biografischer Bruch anfühlen, wie eine «Rückkehr zum Ausgangspunkt» oder gar wie ein Ausdruck des Versagens (Brazier et al., in press; Brazier, Masdonati, & Parmentier, 2024). So beschrieben einige unserer Teilnehmenden die Schwierigkeit, den ambivalenten Status des «Senior Novice» anzunehmen, also gleichzeitig als Individuum relativ alt zu sein (im Vergleich zu Lernenden mit einer linearen Laufbahn), aber als Lernende jung. Diese Diskrepanz kann dazu führen, dass einige Personen den Beginn der Ausbildung hinauszögern und es dann vorziehen, Praktika aneinanderzureihen.
Eine Ausbildung kann nur dann wirklich als Chance für den Wiederaufbau einer beruflichen Identität wahrgenommen werden, wenn sich die Betroffenen auf der Ebene der Identität bereit fühlen, einen anderen Beruf zu erlernen. Dieser Prozess kann langwierig sein, zumal bei unfreiwilligen Umorientierungen. Dies war bei Daniel der Fall (58, ehemaliger Geschäftsführer in der Logistikbranche). Er weigerte sich lange Zeit, eine neue Ausbildung in Betracht zu ziehen, weil er sich nicht von seiner Identität als Unternehmer verabschieden konnte.
Herausforderungen während der Berufsbildung
Abgesehen von ihren Zweifeln an der Durchführbarkeit ihres Ausbildungsvorhabens berichteten mehrere Teilnehmende, die eine Ausbildung gestartet hatten, von den Herausforderungen während der beruflichen Bildung. Einige Personen kritisierten, dass die absolvierte Ausbildung zu starr sei. Ein Beispiel sind Lehrpläne, die den besonderen Herausforderungen von Erwachsenen zu wenig Rechnung tragen. Dies kann Kurszeiten betreffen, die wenig an die Erwachsenenrealität angepasst sind, hohe Anforderungen an die Beherrschung der französischen Sprache bei Migrantinnen und Migranten sowie – bei Personen, die sich aufgrund von Gesundheitsproblemen umorientieren – die Nichtberücksichtigung ihrer körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Der ehemaligen Lkw-Fahrer Jean (31) sollte sich wegen der Folgen eines Unfalls abwechselnd bewegen und setzen; aber während der Kurse, die er zur Vorbereitung der eidg. Berufsprüfung besucht, muss er den ganzen Tag sitzen bleiben. Die erwachsenen Lernenden werden zum Teil auch nicht über die Möglichkeiten informiert, die zur Verfügung stehen, um den Lehrgang auf ihre Bedürfnisse abzustimmen (Brazier, Masdonati, & Parmentier, 2024; Masdonati et al., 2022).
Herausfordernd kann aber auch der Schulalltag selber sein. So erleben manche Betroffene den Altersunterschied in ihrer Klasse als problematisch. Erwachsene können ihre Erfahrungen nicht immer mit Gleichaltrigen in ähnlichen Situationen teilen und haben möglicherweise Schwierigkeiten, sich innerhalb der Klasse und der Schule zu sozialisieren. Béatriz (29) war früher Verkäuferin; sie musste sich wegen einer chronischen Krankheit umorientieren und eine Lehre als Kauffrau starten. Sie berichtet von Integrationsproblemen und erwähnt Motivationsunterschiede zwischen ihr und ihren Klassenkameraden. Aber nicht alle Teilnehmerinnen unserer Untersuchung erleben das so: Einige von ihnen empfanden den Altersunterschied und die unterschiedlichen Anliegen als Bereicherung.
Für eine Berufsausbildung, die unfreiwillige Umorientierungen erleichtert
Insgesamt kann eine berufliche Bildung als ein Weg zur Verwirklichung einer Umorientierung angesehen werden (Cournoyer et al., 2017). Sie erfüllt diese Rolle bei unfreiwilligen Umorientierungen aber nicht immer optimal. Die in unserer Forschung gesammelten Aussagen zeigen, dass der Zugang und der Besuch zusätzliche Hindernisse für einen bereits komplexen Übergang darstellen können. Wie also kann die Berufsbildung zu einem echten Weg für Menschen werden, die sich beruflich umorientieren müssen? Unsere Forschung macht einige Hinweise zur Beantwortung dieser Frage.
Die Stärkung des Stipendiensystems oder abgespeckte/verlängerte Ausbildungsprogramme für Erwachsene könnten Hemmnisse im Vorfeld des Eintritts in die Berufsbildung abbauen.
Die Stärkung des Stipendiensystems oder abgespeckte/verlängerte Ausbildungsprogramme für Erwachsene könnten Hemmnisse im Vorfeld des Eintritts in die Berufsbildung abbauen. Dasselbe gilt für einen erleichterten Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen und eine Lockerung der Aufnahmebedingungen, insbesondere für Personen mit Migrationshintergrund. Dazu gehört die Konsolidierung und Ausweitung der Validierung von Bildungsleistungen. Was die Identitätshemmnisse betrifft, so wäre es sinnvoll, Personen, die sich beruflich neu orientieren müssen, zu unterstützen. Das könnte es betroffenen Personen erleichtern, nicht nur über ihren beruflichen Plan und dessen Umsetzung nachzudenken, sondern sich mit einem neuen Beruf zu identifizieren. Das kann auch eine Begleitung durch Fachleute sein, die auf berufliche Übergänge spezialisiert sind, und die vor der Berufsausbildung beginnt und sich über die gesamte Dauer der Berufsausbildung erstreckt.
Um Hindernisse beim Besuch der beruflichen Bildung zu beseitigen, wären eine flexiblere Gestaltung der Lehrpläne sowie die Entwicklung geeigneter Ressourcen (z.B. intensive Sprachkurse für Migrantinnen oder Anpassungsmassnahmen für Personen mit gesundheitlichen Herausforderungen) nützlich. Auch sollten bereits vorhandenen Ressourcen besser sichtbar gemacht werden (z.B. IV oder RAV). Schliesslich würde die Einrichtung von Netzwerken oder Klassen für Erwachsene, die in die Ausbildung zurückkehren, die Bildung von Gruppen mit denselben Herausforderungen ermöglichen und den gegenseitigen Austausch fördern. Dies könnte auch dem Gefühl der Isolation entgegenwirken, das Personen haben können, sie sich unfreiwillig beruflich umorientieren müssen (Masdonati et al., 2022).
Website des Projekts und Pressemitteilung
[1] 45 Personen in Phase 1 (2021), 33 ein Jahr später und 23 zwei Jahre später.Bibliografie
- Brazier, C. É., Masdonati, J., Oliveira Borges, A., Fedrigo, L., & Cerantola, M. (2024). Drivers of involuntary career changes: A qualitative study of push, pull, anti-push, and anti-pull factors. Journal of Career Development, 51(3), 303–326.
- Brazier, C. É., Masdonati, J., & Parmentier, M. (2024). Chronicles of involuntary career changes: A qualitative longitudinal analysis. Journal of Career Assessment. Advance online publication.
- Brazier, C. É., Parmentier, M., & Masdonati, J. (in press). Navigating involuntary career changes: Emotional dynamics during work-related identity loss and recovery. Journal of Career Development.
- Cournoyer, L., Fournier, G., & Masdonati, J. (2017). Going back-to-school in vocational education and training: Introduction. International Journal for Research in Vocational Education and Training, 4(3), 196–205.
- Masdonati, J., Frésard, C. É., & Parmentier, M. (2022). Involuntary career changes: A lonesome social experience. Frontiers in Psychology, 13, 899051.
- van Doeselaar, L., Becht, A. I., Klimstra, T. A., & Meeus, W. H. J. (2018). A review and integration of three key components of identity development. European Psychologist, 23, 278-288.
Zitiervorschlag
Masdonati, J., Brazier, C. ., & Coquoz, R. (2025). Wie kann die Berufsbildung unfreiwillige berufliche Umorientierungen erleichtern?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(10).