Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Studie des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungstechnologien (IBB) der Universität St.Gallen

Wie Künstliche Intelligenz die Lernortkooperation vereinfachen könnte

Eine gelingende Zusammenarbeit der Lernorte gilt als grundlegende Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige Ausbildung. Durch die digitale Transformation verändert sie sich. Im Rahmen des vom SBFI geförderten Projekts «Zukunftsmodelle der Lernortkooperation» wurden am Institut für Bildungsmanagement und Bildungstechnologien (IBB) an der Universität St.Gallen die Potenziale der fortschreitenden Digitalisierung für die Lernortkooperation untersucht, insbesondere Data Analytics und Künstliche Intelligenz (KI). In der letzten Phase dieser Forschung wurden Handlungsempfehlungen für den Aufbau eines Ökosystems in der Berufsbildung zur Entwicklung KI-basierter Zukunftsmodelle der Lernortkooperation erarbeitet.


Ausgangspunkt: Kompetenzen als Bindeglied zwischen Beschäftigungs- und Bildungssystem

Kompetenzen spielen als Bindeglieder von Beschäftigungs- und Bildungssystemen eine entscheidende Rolle (Abbildung). Die Verbindung von Arbeitsmarkt und Bildung wird im Zuge der digitalen Transformation zu einer noch bedeutenderen Herausforderung. Aufgrund der dynamischen Entwicklungen bedarf es der Einführung zusätzlicher Mechanismen in der Berufsbildung, um einerseits die Intensität dieser Koppelung zu stärken und andererseits eine stärker personalisierte Kompetenzentwicklung im Bildungssystem zu fördern.

Abbildung 1: Kompetenzen als Bindeglied zwischen Beschäftigungs- und Bildungssystem

Im Folgenden werden zentrale Handlungsfelder präsentiert, die in der Rahmung eines digitalen Ökosystems für die Berufsbildung zusammengeführt werden können.

Aufbau «Arbeitsmarkt-Intelligenz»

Arbeitsmarktintelligenz bedeutet, dass KI-Algorithmen (z.B. Klassifizierung, Vorhersage, Regression und Clustering) eingesetzt werden können, um nach interessanten Mustern zu suchen, je nach dem Zweck der Analyse. Regelmässige aktuelle und künftige Qualifikations- und Arbeitsmarkttrends können politischen Entscheidungsträgern, Arbeitgeberinnen, Berufsbildnerinnen, Lehrern und Einzelpersonen helfen, sich auf die Veränderungen von Arbeitsplätzen und Qualifikationen durch Automatisierung vorzubereiten. Damit können auch zeitnah und effizient wertvolle Erkenntnisse zur Anpassung und Verbesserung der Relevanz und Qualität von Ausbildungsprogrammen gewonnen werden. Mit einem Kompetenz-Dashboard könnte ein Einblick in die Aufgaben und Fähigkeiten, die mit Berufen verbunden sind, vereinfacht dargestellt werden. Interaktive Dashboards mit natürlichsprachlichen Dialogsystemen würden die Nutzung ebenfalls sehr vereinfachen. Eine Weiterentwicklung des schweizerischen Observatoriums für die Berufsbildung (OBS EHB) könnte über ein kontinuierliches Trendmonitoring einen derartigen Service erbringen.

Datenbasiertes Kompetenzmanagement

Es ist langwierig, ressourcenintensiv und zunehmend komplex, Qualifikationsprofile zu entwickeln und anzupassen (in der Regel alle fünf Jahre). Mit KI-Technologien können datenbasierte Kompetenzmodelle mittels der systematischen Auswertung von Online-Stellenanzeigen erstellt werden. Der Bund könnte hierfür die Infrastruktur zur Verfügung stellen, damit die bisherigen Prozesse anhand von KI-basierten Werkzeugen durchgeführt und erheblich vereinfacht werden könnten. Durch die Verwendung zentraler Datenbanken können darüber hinaus die Entwicklung und Implementierung der Kompetenzmodelle unterstützt und mit entsprechenden Werkzeugen («Skills Tech» Lösungen) erleichtert werden. Zudem wäre es möglich, Komplexität zu reduzieren, indem man mit Kompetenztaxonomien arbeitet, die Aggregationen und Visualisierungen ermöglichen. Curriculum Design und Curriculum-Anwendung würden über digitale Kompetenzmodelle gekoppelt, die auch in Learning Experience Plattformen integriert werden können. Auch die Entwicklung einer gemein­samen Kompetenzsprache kann damit unterstützt werden, da eine vereinfachte Eingabe mit natürlicher Sprache umgesetzt werden könnte.

Personalisierte Lernumgebung: Learning Experience Plattform

Eine Learning Experience Plattformen (LXP) kann als übergeordnetes Lernportal Bildungsangebote von anderen Systemen der unterschiedlichen Lernorte kuratieren.

An den Lernorten werden häufig unterschiedliche Lernplattformen verwendet. Lernende müssen sich nach den unterschiedlichen Logiken der Lernorte orientieren. Im Extremfall wechseln sie von Lernort zu Lernort und müssen sich jeweils in anderen Lernmanagementsystemen zurechtfinden, was eine lernortintegrierende Kompetenzentwicklung eher erschwert. Um die Lernenden ins Zentrum der Kompetenzentwicklung zu stellen, benötigt es entsprechende Unterstützung in Form von lernenden-zentrieren Ökosystemen, wie es sogenannte Learning Experience Plattformen zum Ziel haben. Learning Experience Plattformen (LXP) dienen als attraktive Lernportale und nutzen die Möglichkeiten der KI, um Prozesse intelligent zu automatisieren und personalisierte Lernerlebnisse zu schaffen (z.B. Lernempfehlungen, Micro-Coachings). Ein LXP kann als übergeordnetes Lernportal Bildungsangebote von anderen Systemen der unterschiedlichen Lernorte kuratieren. Es können zudem KI-Services für eine stärkere personalisierte Kompetenzentwicklung entwickelt werden, ohne die Systemvielfalt in den Lernorten zu schmälern. Derartige lernenden-zentrierte Ökosysteme schaffen die Basis, um sukzessive personalisierte Services (z.B. Empfehlungen, Aufzeigen von Kompetenzfortschritten) für Lernende, aber auch für Lehrende zu entwickeln. Auch können natürlichsprachliche Interaktionen genutzt werden, um Dialog- und Assistenzsysteme als «Co-Piloten» für Lernende und Lehrende bereitzustellen.

Bildungsstufenübergreifende Förderinstrumente (Mathematik, Sprachen)

Wenn Lernende Kompetenzlücken haben, so fehlen im Schulsystem häufig integrative, personalisierte Fördermassnahmen. Betriebe sind dann gefordert, nachzuqualifizieren. Um bessere Voraussetzungen für eine LOK zu schaffen, kann auch die vorgelagerte Bildungsstufe unterstützend wirken. Gezielte Fördermassnahmen könnten in Form von adaptiven Lern- und Testsystemen digital ausgebaut werden, die dann auch den Berufsfachschulen als personalisierte Förderinstrumente zur Verfügung gestellt werden. Adaptive Lerntechnologien identifizieren und verstehen die Lernmuster jedes Einzelnen. Inhalte und Schwierigkeitsgrad passen sich automatisch und in Echtzeit an die Bedürfnisse des Lernenden an. Automatisiertes Feedback ist zeitnah und präzise. Adaptive Förderinstrumente eignen sich besonders für Mathematik- und Sprachkompetenzen für ein «Mastery Learning». Lernende gehen nicht zu neuem Material über, bevor sie nicht den vorhergehenden und grundlegenden Stoff beherrschen. Bildungsstufenübergreifende Kooperationen können mit diesen Förderinstrumenten erleichtert werden.

Open Education Strategien für transversale Kompetenzen

In der Berufsbildung (generell im Bildungssystem) existieren derzeit noch kaum Strategien für Open Educational Resources (OER) wie Online-Kurse oder MOOCs (Massive Open Online Courses). Gerade in den Berufsfachschulen bestehen jedoch erhebliche Potenziale, um insbesondere berufsübergreifende, transversale Kompetenzen zu fördern. Die Auswertung erhobener Daten (Learning Analytics) selbst kann verschiedene Ziele verfolgen:

  • Lernprozesse besser verstehen und darauf aufbauend besser unterstützen: Wie unterscheiden sich die Lernaktivitäten von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Lernenden?
  • Lernmaterialien, didaktische Designs und Lernenden-Betreuung besser gestalten: An welchen Stellen brechen viele Lernende die Betrachtung der Lernvideos ab und wie können wir das ändern?
  • Lernprozesse besser personalisieren: Welche Empfehlungen zu nächsten Lernaktivitäten können für welche Lernenden ausgesprochen werden?

Die Zuordnung zu Kompetenzmodellen und transversalen Kompetenzen würde darüber hinaus die Lehrpersonen darin unterstützen, geeignete OER-Lerninhalte zu finden, um diese in den Unterricht in Blended Learning Szenarien (z.B. im Sinne von Flipped Classroom) zu integrieren.

KI-basierte Portfoliosysteme für eine lernortintegrierende Kompetenzentwicklung

Portfolios erlauben, die individuelle Kompetenzentwicklung aufzuzeigen. Sie sind ein vielversprechender Weg, um erworbene Kompetenzen im Laufe der Grundbildung sichtbar zu machen.

Portfolios erlauben, die individuelle Kompetenzentwicklung aufzuzeigen. Sie sind ein vielversprechender Weg, um erworbene Kompetenzen im Laufe der Grundbildung sichtbar zu machen. Allerdings sind die damit verbundenen Aktivitäten sehr aufwendig. Vielen Lernenden fällt es schwer, nicht nur Erlerntes zu dokumentieren, sondern auch über die eigenen Ressourcen und Schwächen wahrzunehmen und darüber zu kommunizieren. Auch für die Berufsbildungsakteure ist es herausfordernd, die Lernenden dabei zu unterstützen. Die Kompetenzen, Reflexionsprozesse bei Lernenden zu unterstützen und generell zu coachen, sind bei den Lehrpersonen aufgrund ihrer Qualifikation ausgeprägter vorhanden. Allerdings finden die entsprechenden Lernerlebnisse am Arbeitsplatz statt, wodurch die Berufsbildnerinnen näher am Geschehen sind.

Ein ePortfolio dient zur Dokumentation und zur Reflexion der eigenen Kompetenzen sowie als Entwicklungsportfolio der Lernprozessbegleitung. Es stellt ein starkes lernortübergreifendes Instrument dar und könnte flächendeckend stärker genutzt werden, um einen gemeinsamen Erfahrungs­raum zu gestalten und Lehrpersonen in ihrer Coaching-Rolle stärker einzubinden. KI-basierte Portfoliosysteme, die auch Dialog-/Assistenzsysteme in natürlicher Sprache enthalten (z.B. Fragen zur Durchführung, Fragen zum Bezug zu Ausbildungszielen oder Fragen und Erkenntnisse für die Zukunft), können künftig somit eine zentrale Komponente einer personalisierten Lernumgebung darstellen. Derartige Systeme dienen nicht als Ersatz für Berufsbildner, sondern als Entlastung und sinnvolle Ergänzung für eine individuelle Ausbildung. Mit der Blockchain Technologie könnte darüber hinaus die Dokumentation lebenslanger Lernbiografien erfolgen.

Qualifikationsverfahren mit KI-basierten Assessments

Qualifikationsverfahren in Schulen werden überwiegend als grosse Schlussprüfungen durchgeführt; diese sind kostenintensiv und erschweren handlungskompetenzorientierte Prüfungsformen. Mit KI-Funktionalitäten können offene Aufgaben in Tests handlungsorientierter gestaltet werden. Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt wird der Arbeitsalltag immer stärker technologiebasiert. Das konnektive Pädagogikmodell geht über die Prinzipien dualistischer Modelle hinaus und vertritt eine grundlegend andere Annahme über Lernen und Entwicklung. Danach sind alle Formen des Lernens «situiert», und Wissen wird in Interaktion zu einer sozialen Umwelt konstruiert und transformiert. Authentische Lern- und Testumgebungen (z.B. Simulationssysteme oder Augmented, Virtual, Mixed Realities Anwendungen), welche konkrete Arbeitsszenarien verwenden, können diese Konnektivität zwischen den Lernorten erhöhen. Auch für die vereinfachte Erstellung von Prüfungen wäre der Mixed Reality Service von Vorteil; so könnten anspruchsvolle Arbeitsszenarien als Videos beispielsweise für Situational Judgement Tests entwickelt werden. In Zukunft könnten digitale Prüfungssysteme, welche KI-Funktionalitäten beinhalten, auch offene Fragen einbinden (nicht nur Multiple Choice). Mittels KI könnten die Systeme Korrekturhilfen etabliert werden, die Lehrkräften erheblich entlasten (z.B. durch Vorschläge für die Bewertung). Der Nachweis erworbener Kompetenzen könnte während der Grundbildung für einen fortlaufenden Berufsabschluss teil-automatisiert stattfinden. Eine konsequent nach Handlungskompetenzorientierung aufgebaute individuelle praktische Arbeit würde dann als Schlussprüfung dienen, die gemeinsam von Berufsbildnerinnen und Lehrern bewertet werden könnte.

Zusammenfassung: Aufbau eines Ökosystems für die Berufsbildung

Eine im Rahmen des vorliegenden Projekts im Februar durchgeführte Umfrage unter Berufsbildungsakteuren aus allen Lernorten (n = 111) ergab eine deutliche Zustimmung zu den hier skizzierten Anwendungsfällen.

Das übergeordnete Ziel besteht zusammenfassend darin, ein Ökosystem für die Berufsbildung als Rahmung aufzubauen, um die Lernortkooperation zu stärken (vgl. Abbildung 2). Es erhöht die Konnektivität zwischen Beschäftigungs- und Bildungssystem und schafft den Rahmen für eine stärkere personalisierte Kompetenzentwicklung. Bildungsprozesse können zwischen den Lernorten stärker abgestimmt werden, wenn der Lernprozessorganisation ein lernenden-zentriertes Ökosystem zugrunde liegt. Wie derzeit aufgrund der Entwicklungen generativer KI (z.B. ChatGPT) deutlich wird, haben diese grosses Potenzial, als Assistenzsysteme für Berufsbildungsakteure zu fungieren. Die Möglichkeiten der KI können genutzt werden, um eine noch effektivere personalisierte Kompetenzentwicklung zu fördern. Für die lernortintegrierende Kompetenzentwicklung werden flexiblere Modelle der Lernprozessorganisation ermöglicht, welche partnerschaftlich als LOK-Zukunftsmodelle entwickelt werden können.

Eine im Rahmen des vorliegenden Projekts im Februar durchgeführte Umfrage unter Berufsbildungsakteuren aus allen Lernorten (n = 111) ergab eine deutliche Zustimmung zu den hier skizzierten Anwendungsfällen sowie eine starke Befürwortung für den Aufbau eines Ökosystems für die Berufsbildung. In Meilenstein 4 sind darüber hinaus auch klare Handlungsempfehlungen veröffentlicht, die bereits dem Steuergremium Tripartite Berufsbildungskonferenz (TBBK) präsentiert und miteinander diskutiert wurden. Um ein lernenden-zentriertes Ökosystem in der Berufsbildung aufbauen zu können, sind entsprechende Rahmenbedingungen und nationale Infrastrukturen auf strategischer Ebene zu schaffen.

Abbildung 2: Aufbau eines Lernenden-zentrierten Ökosystems für die Berufsbildung

Projekt-Website:
https://lernortkooperation.ch/

Literatur

Zitiervorschlag

Seufert, S. (2023). Wie Künstliche Intelligenz die Lernortkooperation vereinfachen könnte. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(6).

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