Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Jürg Schweri zur Lohnstudie des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds

«Wir sehen keine Abwertung der Berufsbildung»

«Gelernte haben mehr verdient!» – so titelte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) jüngst eine Lohnanalyse von Personen mit Berufslehre und Studium. Bildungsökonom Jürg Schweri (EHB) sagt dagegen: Die Berufsbildung ermöglicht genauso attraktive Karrieren wie die Hochschulen.


Dr. Jürg Schweri, Professor an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB): «Tiefe Löhne sind kein Problem des Bildungssystems, sondern der gesellschaftlichen Wertschätzung».

Jürg Schweri, der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) stellt in einer Studie fest, dass Personen mit einer Berufslehre deutlich weniger verdienen als Leute mit Hochschulabschluss. Einverstanden?

Natürlich gibt es Lohnunterschiede zwischen Personen mit Lehr- beziehungsweise Hochschulabschluss. Nur verdienen Jugendliche, die eine Lehre absolvieren, viel früher als Studierende; der höhere Lohn von Personen mit Hochschulabschluss ist die Rendite für zusätzliche Bildungsjahre. Das berücksichtigt die Studie nicht. Ebenso zählt sie Personen, die eine Fachhochschule (FH) besucht haben, zu den Akademikerinnen und Akademikern – dabei sind das überwiegend Leute, die vorher eine Lehre machten und nun auch sehr gut verdienen. Tatsache ist: Die Löhne von beruflich und hochschulisch gebildeten Personen überschneiden sich zu einem schönen Teil. Unterschiede gibt es vor allem zwischen Branchen: Im Gastrobereich oder in der Coiffeurbranche verdienen Berufstätige eher wenig, im Finanzbereich sind die Löhne hoch. Man sollte nicht von diesen Branchen auf die Qualität des Bildungssystems schliessen.

Das tut der SGB aber. Er spricht von einem schleichenden Attraktivitätsverlust der beruflichen Bildung.

Die Studie zählt sie Personen, die eine Fachhochschule (FH) besucht haben, zu den Akademikerinnen und Akademikern – dabei sind das überwiegend Leute, die vorher eine Lehre machten und nun auch sehr gut verdienen.

Das sehe ich nicht so. In der Studie werden Löhne von Personen mit unterschiedlichen Eigenschaften verglichen – manche haben mehr Talent für eine Lehre, andere mehr Talent für ein Studium. Wenn man nur Personen vergleicht, die von ihren Fähigkeiten her für beide Wege in Frage kämen, wie es eine Studie für Finnland tut, kommt man zu anderen Schlüssen: Für die Personen, die eine Berufsbildung gewählt haben, war dies auch mit Blick auf den Lohn die bessere Entscheidung. In einer eigenen Studie fanden wir für die Schweiz zudem keine Hinweise auf eine schleichende Abwertung der Berufsbildung: Die Unterschiede im Medianlohn (die Hälfte verdient mehr, die Hälfte verdient weniger) von Personen mit einer Berufs- oder einer Allgemeinbildung waren in den letzten 30 Jahren stabil.

Trotzdem: Die Berufsbildung steht unter Druck. Heute entscheiden sich 4,6% weniger Jugendliche für eine Lehre als 2014.

Zugelegt haben vor allem die Fachmittelschulen, deren Ausbau politisch gewollt war. Das Image der Berufsbildung ist aber eine ständige Herausforderung. Der SGB kämpft für Mindestlöhne, was legitim ist. Seine Studie trägt aber unfreiwillig zu einer kritischen Wahrnehmung bei …

… die NZZ am Sonntag titelte: «Die Büezer bleiben stecken».

Ja. Dabei bleiben durchaus auch Leute mit Hochschulabschluss stecken. Die Berufsbildung leistet einen enormen Beitrag zur Integration von schwächeren oder migrierten Jugendlichen, sie bietet aber auch Bildungsgänge für schulisch starke Jugendliche an. Rund ein Drittel der Personen mit einem Fähigkeitszeugnis (EFZ) bildet sich weiter, sei es in Richtung Berufsmatura, im Rahmen einer höheren Berufsbildung oder mit einem FH-Studium. Das lohnt sich: Der Medianlohn von Personen mit einer höheren Berufsbildung beträgt gut 8000 Franken, 2000 Franken mehr als der von Personen mit einer EFZ-Lehre als höchstem Abschluss.

Warum verdienen manche Berufsleute tiefe Löhne?

Viele Leute sind nicht bereit, Arbeit wie die von Coiffeusen und Coiffeuren besser zu bezahlen. Das ist kein Problem des Bildungssystems, sondern der gesellschaftlichen Wertschätzung. Gewisse Branchen, in die man bei uns oft über eine Lehre gelangt, haben eine unterdurchschnittliche Wertschöpfung. Im Coiffeurgewerbe haben die Sozialpartner aber einen Anstieg der Mindestlöhne ab Januar 2024 vereinbart.

Wie wichtig ist der Lohn bei der Berufswahl?

Der spätere Lohn spielt durchaus eine Rolle. Er bestimmt zusätzlich zu Aspekten wie dem Interesse, der Eignung, den Beschäftigungsaussichten, dem Status oder der Sinnhaftigkeit die Berufswahl.

Würden Sie es gut finden, wenn man in der Lehre mehr verdienen würde?

Die Attraktivität der Berufsbildung hängt nicht davon ab – in einer Lehre verdient man sowieso mehr als im Gymnasium. Ich befürworte andere Verbesserungen. Viele Lernende haben nur fünf Wochen Ferien, ein anspruchsvolles Zusammenspiel von verschiedenen Lernorten mit zum Teil langen Anreisezeiten, manchmal anstrengende Arbeiten und saisonal lange Arbeitszeiten. Hier wären Erleichterungen gut.

Sie plädierten einmal für eine sechste Ferienwoche.

Personen mit einer beruflichen Bildung sind noch seltener arbeitslos als Akademikerinnen und Akademiker. Generell finden nur sehr wenige Arbeitnehmende, dass ihre Qualifikationen nicht zu ihrer Stelle passen würden.

Gewisse Betriebe gewähren sie von sich aus. Es könnten auch flexible Freitage sein, vielleicht über unbezahlte Ferienguthaben. Die Adoleszenz ist eine anspruchsvolle Phase, die Zeit für soziale Kontakte, Sport und nebenberufliche Aktivitäten braucht. Die entscheidende Qualität einer guten beruflichen Bildung aber ist ein sorgfältiger und unterstützender Umgang mit den Lernenden. Das zeigten wir in einer weiteren Studie. Lernende sind erfolgreicher, wenn der Betrieb ihnen vielfältige Aufgaben zumutet und wenn sie die Möglichkeit haben, eigene Lösungen zu finden.

Oft wird gesagt, dass man nach einer Lehre beruflich weniger mobil sei als mit einer Allgemeinbildung. Stimmt das?

Wir haben auch das untersucht und finden keinerlei Belege für diese These. Im Gegenteil: Personen mit einer beruflichen Bildung sind noch seltener arbeitslos als Akademikerinnen und Akademiker. Generell finden nur sehr wenige Arbeitnehmende, dass ihre Qualifikationen nicht zu ihrer Stelle passen würden. Vor allem akademisch Gebildete fühlen sich jedoch manchmal überqualifiziert für das, was sie tun.

Dieser Beitrag erschien zuerst in «Alpha», Tages-Anzeiger.

Literatur

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2024). «Wir sehen keine Abwertung der Berufsbildung». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(15).

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