Vierter Anlass aus der «Themenreihe Berufsbildung» an der PH Zürich
Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung – gekommen um zu bleiben?
Die Bildungserlasse der beruflichen Grundbildungen beschreiben Handlungskompetenzen, die die Jugendlichen erlernen sollen. Dieses Paradigma hat sich inzwischen durchgesetzt. Aber macht es wirklich Sinn? Liegt darin nicht eine Verkürzung dessen, was berufliches Lernen ausmachen sollte? Und was bedeutet eigentlich «Kompetenz» genau? Fragen wie diese waren Thema des vierten Anlasses aus der «Themenreihe Berufsbildung» an der PH Zürich.
Nachdem die Handlungskompetenzorientierung (HKO) im Rahmen der «Themenreihe Berufsbildung» aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet worden war, wurde in der Abschlussveranstaltung die Frage nach dem Mehrwert der HKO in der Berufsbildung gestellt. Die Antwort fiel trotz der Vielfalt der Umsetzungsmodelle positiv aus.
Moderator Markus Maurer wagte zu Beginn der Veranstaltung die These, dass noch nie eine Reform die Berufsbildung so stark geprägt habe wie die Einführung der HKO.
Moderator Markus Maurer wagte zu Beginn der Veranstaltung die These, dass noch nie eine Reform die Berufsbildung so stark geprägt habe wie die Einführung der HKO. Die konsequente Ausrichtung der Bildungsinhalte an den Anforderungen der Arbeitswelt erfordere erhebliche Anpassungsleistungen von allen Akteuren und an allen Lernorten der Berufsbildung. Die Frage aber stelle sich: Lohnt sich dieser Aufwand? Wo liegen die Chancen und wo die Herausforderungen der HKO?
Vielfalt im Kompetenzverständnis und in den Umsetzungsmodellen
Toni Messner stellte in seinem Referat zunächst die Rolle und das Verständnis des SBFI in Bezug auf die HKO dar. Er betonte, dass sich der Bund auf die Konzeption der Berufe beschränke. Die damit verbundenen Freiräume erklären auch die Unterschiede in der Umsetzung, wie Rolf Felser (EHB) aufzeigen konnte. Eine EHB-Studie (Strebel & Wettstein 2024) vergleicht die verschiedenen Umsetzungsvarianten und zeigt, dass Unterschiede auf allen Ebenen zu finden sind. Dies beginnt mit dem Kompetenzverständnis, das stark von der jeweiligen pädagogischen Begleitung geprägt ist, wie die folgende Abbildung verdeutlicht. Bezugspunkt ist die Definition des SBFI in der Mitte der Grafik.
Unterschiede zeigen sich auch in der Gliederungssystematik des Qualifikationsprofils. Neben Begriffen wie Lernthemen, Lernfelder, Lernbereiche etc. variiert auch der Umfang der Gliederungseinheiten. Einige Lehrberufe geben nur ein Leistungsziel vor und lassen den Schulen viel Spielraum bei der Umsetzung. Bei anderen, wie z.B. in der kaufmännischen Grundbildung, prägen mehr als 60 Praxisaufträge pro Semester den Unterricht. Eine ähnliche Vielfalt findet sich bei den didaktischen Empfehlungen, wo IPRE[1], IPERKA[2], AVIVA[3], Situationsdidaktik und andere zur Auswahl stehen. Auf der Ebene des Unterrichts hat sich vielerorts das selbstorganisierte Lernen durchgesetzt – aber auch hier gibt es eine Vielfalt. Rolf Felser: «Es gibt nichts, was es nicht gibt».
Trotz allen Diskrepanzen stellt die Studie bei allen Akteuren ein grundsätzlich einheitliches Verständnis des Kompetenzbegriffs des Bundes fest.
Trotz allen Diskrepanzen stellt die Studie bei allen Akteuren ein grundsätzlich einheitliches Verständnis des Kompetenzbegriffs des Bundes fest. Auch die Orientierung am beruflichen Handeln scheint sich bei allen durchzusetzen. Damit sei «aber auch schon fertig» mit den Gemeinsamkeiten, wie Rolf Felser meinte.
Chancen und Herausforderungen
Rolf Häner sieht in der HKO vor allem eine Chance, die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden zu erhöhen und die Lernortkooperation zu stärken. Das unterschiedliche Verständnis von HKO wird für ihn erst dann zum Problem, wenn es zu Qualitätsverlusten in den Bildungsprozessen führt. Wichtig ist für ihn der Umgang mit den Veränderungen. Viele der offenen Fragen, die die Reformen mit sich bringen, werden vor Ort in den Schulen selbst gelöst. Dabei müssen neue Wege beschritten werden – nicht nur vom pädagogischen Personal. Die Schulleitung muss die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Eine klare Strategie, geeignete Strukturen und vor allem eine vertrauensfördernde Fehlerkultur sind dafür Grundvoraussetzungen.
Für Nicole Ackermann ist offen, wie aufgrund der unterschiedlichen Logiken von Betrieb und Schule eine inhaltliche Abstimmung in der Lernortkooperation gelingen kann. Zu befürchten ist eine funktionale Verengung des Unterrichts (Dubs, 2000, S. 21), wenn vor allem Arbeitsprozesse eingeübt werden, die unmittelbar im Betrieb verwertbar sind. Es stellt sich die Frage, wie der Lernort Schule unter diesen Bedingungen seine eigenständige Bildungsfunktion bewahren kann.
Im Anschluss an die Studie der EHB bzw. aufgrund der teilweise gegensätzlichen Auffassungen von HKO stellt sich die Frage nach der Definitionsmacht: Wer sagt, was HKO ist? Während für die Politik HKO durch das Vorhandensein von Bildungsplänen, Qualifikationsprofilen und HKO-orientierten Prüfungen gegeben ist, sind für die Schulen Merkmale wie offene Lernräume, digitale Lernwege und interdisziplinäre Lehrerteams zentral. Auf der Ebene des Unterrichts sind es das begleitete selbstorganisierte Lernen (BGSOL) und ein konstruktivistisches Verständnis von Lehren und Lernen, die der Definition von HKO entsprechen.
Eine weitere Herausforderung sieht Nicole Ackermann in der Abkehr von der Fächerorientierung und damit von der Vorstellung isolierten Wissens.
Eine weitere Herausforderung sieht Nicole Ackermann in der Abkehr von der Fächerorientierung und damit von der Vorstellung isolierten Wissens. Damit werden aber auch vernetzte und elaborierte Wissensstrukturen in Frage gestellt. Denn wenn im Unterricht an einer Stelle der Lehrvertrag und an einer anderen der Kaufvertrag behandelt wird, sind die Grundlagen des Vertragsrechts noch nicht verstanden.
Auch bei den Prüfungen gibt es Fragezeichen. Praktische Prüfungsformate bringen lösungsoffene Aufgabenstellungen und damit interpretationsfähige Beurteilungskriterien mit sich. Damit stellt sich die Frage, wie objektive, reliable und valide Leistungsbeurteilungen sichergestellt werden können.
Einen Mehrwert sieht Nicole Ackermann in der Orientierung des Unterrichts an den didaktischen Prinzipien der Kompetenz-, Situations- und Handlungsorientierung. Dazu gehört ein ganzheitliches Kompetenzverständnis, das kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten umfasst und sowohl die Person als auch den Gegenstand und die Gruppe adressiert. Die Situationsorientierung wiederum erfordert eine ausgewogene Gewichtung von Wissen, Situation und Persönlichkeit. Dies setzt ein fundiertes Praxiswissen voraus, das die Transformation von realen Arbeitssituationen in didaktisch sinnvolle Lernsituationen erst ermöglicht. Schliesslich stellt sich bei der Handlungsorientierung die Frage nach der Definition von Handlung. Diese lässt sich nicht allgemein formulieren bzw. hängt vom jeweiligen Beruf ab. Nicole Ackermann empfiehlt, sich didaktisch am Konzept der vollständigen Handlung zu orientieren, das Handlungen in fünf Phasen unterteilt. Dabei geht es nicht nur um die isolierte Anwendung und Umsetzung von Wissen; der Lernprozess erfordert vielmehr das Durchlaufen aller Phasen. Dieses Konzept ist auch bei der Formulierung von Handlungskompetenzen und Leistungszielen zu berücksichtigen.
Podiumsdiskussion
In der anschliessenden Podiumsdiskussion stellte Markus Maurer zunächst die Frage nach dem Stellenwert des Fachwissens im HKO-Unterricht. Für Toni Messner hat sich daran nichts geändert. Lediglich die Ausrichtung des Wissens auf die berufliche Situation müsse stärker betont werden. Für die Schulen stellt sich die Situation anders dar, wie Rolf Felser mit Blick auf das Qualifikationsverfahren (QV) anmerkt. Hier gehe es vor allem um die Erfahrungsnoten, bei denen sich die Frage stelle, inwiefern eine zusätzliche Überprüfung der Berufskenntnisse im QV als Misstrauen der Berufsverbände gegenüber den Schulen und ihren Lehrpersonen zu verstehen sei. Dem kann entgegengehalten werden, dass die praktischen, handlungskompetenzorientierten Prüfungen heute mehr denn je theoretisches Fachwissen voraussetzen und damit faktisch das Fachwissen im Sinne einer Fallnote geprüft wird.
Für Martin Schönbächler ist die Abschaffung der Fächer kein Thema. Die FutureMEM-Berufe, die er begleitet, basieren auf einem naturwissenschaftlichen Verständnis. Für ihn stehen vielmehr die fachsystematischen Strukturen im Zentrum. Wie müssen diese aufgebaut sein, damit sie situationsgerecht dargestellt und aufgebaut werden können? Als Schlüssel nennt er gut gestaltete didaktische Lernsituationen, die dazu geführt haben, dass für FutureMEM zuerst ein Ausbildungskonzept und erst danach der dazugehörige Bildungsplan erstellt wurde. Eine Teilprüfung sowie die Vernetzungsarbeit sichern aber weiterhin die Fachkompetenzen im QV.
Auch für Rolf Häner gibt es kein Handeln ohne Wissen. Im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz stellt sich für ihn eher die Frage nach der Qualität und dem Umgang damit. Nicole Ackermann gibt zu bedenken, dass im Hinblick auf die QV geklärt werden muss, welches Wissen in welcher Form und auf welchem Anspruchsniveau geprüft werden soll. Für Rolf Felser ist diese Frage berufsspezifisch zu beantworten.
Thema war schliesslich auch die Vielfalt in der Umsetzung. Für Martin Schönbächler ist dieser Freiraum notwendig, um ein kohärentes und bedürfnisgerechtes didaktisches Konzept entwickeln zu können. Auch Rolf Häner kann mit dieser Vielfalt gut leben, da die Schulen vermehrt von Anfang an in die Entwicklungsprozesse der Berufe einbezogen werden und so ihre Bedürfnisse einfliessen. Nicole Ackermann genügt es ebenfalls, wenn sich der Bund auf das Qualifikationsprofil und die Bildungsverordnung beschränkt. Nur in diesem Freiraum entstehen Innovationen auf allen Ebenen.
Aus dem Publikum kam die Frage, wie man mit all den neuen Begriffen und dem veränderten Bildungsverständnis die Lernenden oder deren Eltern erreichen könne.
Aus dem Publikum kam die Frage, wie man mit all den neuen Begriffen und dem veränderten Bildungsverständnis die Lernenden oder deren Eltern erreichen könne. Rolf Felser kann diese Frage nachvollziehen und weiss von vielen Betrieben, die damit ebenfalls Mühe haben. Einige Versuche der EHB, alle Bildungsverantwortlichen für eine einheitliche Begriffsverwendung zu gewinnen, seien bisher gescheitert. Seiner Meinung nach hätten es die Kantone in der Hand, hier lenkend einzugreifen. Zu viel Freiheit könne der Sache auch schaden.
Vom Publikum kam die Feststellung, dass der Reformprozess der kaufmännischen Grundbildung unglücklich verlaufe. Neben den stossenden Seilschaften mit privaten Anbietern sind es der Wirrwarr bei den Leistungszielen und ungenügende Vorgaben für das QV, welches die Lehrpersonen stark fordern, weil man einfach nicht einordnen könne, «was die da wollen». Rolf Häner stimmte zu, dass einige Reformen besser verlaufen könnten. Er wies aber darauf hin, dass es auch an den Schulen liege, bei den kantonalen Vertretungen Überzeugungsarbeit zu leisten und sie fachlich zu unterstützen.
Zum Abschluss der Veranstaltung stellte Nicole Ackermann fest, dass trotz aller Missverständnisse, Unklarheiten, Differenzen und Kompetenzfragen die HKO eine Chance für einen zukunftsfähigen und ganzheitlichen Unterricht bietet.
[1] Informieren, Planen/Entscheiden, Realisieren/Ausführen, Evaluieren/Reflektieren/Bezug) [2] Informieren, Planen, Entscheiden, Realisieren, Kontrollieren und Auswerten) [3] Ausrichten: Bereitschaft herstellen, sich auf Neues einzulassen; Vorwissen aktivieren: Ansatzpunkt des Lernens; Informieren: das «eigentliche» Lernen; Verarbeiten: Festigen des Gelernten über Anwendung, Vertiefung und Übung; Auswerten: (Selbst-)Überprüfung, ob das (Lern-)Ziel erreicht wurdeDie Themenreihe Berufsbildung – im nächsten Jahr zum Thema Prüfen und Beurteilen
Die «Themenreihe Berufsbildung» feierte dieses Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Mit jährlich vier Veranstaltungen zu einem Dachthema hat sich das kostenlose Abend-Format, dass die PHZH in Kooperation mit der Table Ronde berufsbildender Schulen organisiert, gut etabliert und erreicht ein breites Publikum.
Im kommenden Jahr steht das Thema Prüfen und Beurteilen in der Berufsbildung im Zentrum. Die Qualifikationsverfahren in der Berufsbildung haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Handlungskompetenzorientierung. Sind Qualifikationsverfahren heute fair und glaubwürdig? Wir diskutieren diese und weitere Fragen mit Blick auf alle drei Lernorte und verschiedene Berufe. Anmeldung hier.
Die Gäste der vierten Veranstaltung waren:
- Nicole Ackermann, Professorin Berufspädagogik, PHZH
- Rolf Felser, Bereichsleiter Zentrum für Berufsentwicklung, EHB
- Rolf Häner, Rektor der Berufsfachschule BBB Baden
- Toni Messner, Ressortleiter Berufliche Grundbildung, SBFI
- Martin Schönbächler, Co-Bildungsverantwortlicher, aeB
Moderation: Markus Maurer, Professur Berufspädagogik, PHZH
Literatur
- Strebel, A. & Wettstein, F. (2024). Modellübersicht Handlungskompetenz-Orientierung: Zusammenstellung für ein gemeinsames Begriffsverständnis in der schweizerischen Berufsbildung. Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK).
- Dubs, R. (2000). Lernfeldorientierung: löst dieser neue curriculare Ansatz die alten Probleme der Lehrpläne und des Unterrichts an Wirtschaftsschulen? Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 15. Beiheft, 15-32.
Zitiervorschlag
Schneebeli, R. (2024). Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung – gekommen um zu bleiben?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(1).