Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Kolumne von Dieter Euler

Ohne Wissen in die Wissensgesellschaft?

Lassen sich Zukunftskompetenzen überhaupt in formalen Lernprozessen, in Schule und Unterricht, erwerben? Und wenn ja, wie? Klar ist: Nicht die Vermittlung eines enzyklopädisch geordneten Wissensfundus bildet den Bezugspunkt für Lehren und Lernen, sondern exemplarisch ausgewählte Inhalte, mit deren Hilfe aus dem Kennen ein Können werden soll. Aber nach welchen Kriterien können die exemplarischen Inhalte bestimmt werden? Wie kann die Förderung spezifischer Zukunftskompetenzen curricular und didaktisch in Unterricht und Lehre integriert werden? Wie kann der Transfer von Zukunftskompetenzen gefördert werden? – In seiner jüngsten Kolumne stellt Dieter Euler mehr Fragen als dass er Antworten parat hätte.


In der bildungspolitischen Diskussion verbinden sich zwei Stränge, die bei vertieftem Nachdenken nicht zusammenzupassen scheinen: Da ist zum einen die Rede von der Wissensgesellschaft, in der weniger die Kraft der Hände und eine mechanistische Güterproduktion, sondern die Generierung und Nutzung von Wissen im Vordergrund stehen. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass dieses Wissen nicht zuletzt durch die technologischen Entwicklungen immer schneller veraltet, so dass in Schule und Berufsbildung eine Verschiebung von der Wissensvermittlung zur Aneignung sogenannter Zukunftskompetenzen («future skills») erfolgen sollte. Nicht der Besitz von Wissen, sondern die Fähigkeit zu dessen Aneignung, Anwendung und Generierung bereiteten die Lernenden auf eine sich schnell wandelnde Zukunft vor. Wird daher das Wissen beliebig oder sogar überflüssig? Oder als Paradoxon formuliert: Eine Wissensgesellschaft ohne Vermittlung von Wissen?

Unscharfe Begriffe und Ideen

Begriff und Idee der Zukunftskompetenzen sind zwar nicht neu, sie bleiben jedoch trotz ihrer Entwicklungsgeschichte zumeist unscharf. Unter verschiedenen Überschriften (z. B. Schlüsselkompetenzen, «21st Century Skills», transversale Kompetenzen) werden zahlreiche Kompetenzen aufgelistet, denen jeweils eine erhöhte Bedeutung für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zugeschrieben wird. Zumeist erfolgt eine Einteilung in kognitive, intrapersonale und interpersonale Fähigkeiten, wobei Kompetenzen wie beispielsweise kritisches Denken, Kreativität, Kollaboration, Problemlösen, Selbstwirksamkeit, Selbstlernen, Meta-Kognition u.a.m. den Weg in die mehr oder weniger langen Listen finden.

Zunächst sind diese als Zukunftskompetenzen bezeichneten Fähigkeiten plausible Vorstellungen darüber, was Menschen heute lernen sollten, um gut auf die Anforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein. Als solche stellen sie mögliche Ziele auch für Schule und Berufsbildung bereit. Die Kompetenzen werden zumeist auf einem hohen Abstraktionsniveau formuliert und – dies ist hier von besonderem Interesse – sie bleiben auf einer Ebene, die in der pädagogischen Fachsprache früher als formale Bildung bezeichnet wurde. Spätestens seit den Publikationen von Wolfgang Klafki in den 1970er-Jahren besteht ein Konsens darin, dass formale Bildungsziele wie beispielsweise logisches Denken oder Abstraktionsfähigkeit ohne einen Inhaltsbezug unvollständig bleiben. Ohne einen Gegenstandsbezug sind kritisches Denken oder kreatives Problemlösen ebenso wenig denkbar wie etwa das logische Denken.

Vor diesem Hintergrund liesse sich im Hinblick auf die Propagierung von Zukunftskompetenzen kritisch anmerken, dass zunächst offenbleibt, mit welchen Wissensinhalten sie verbunden sind bzw. werden sollen. Was soll Gegenstand des Problemlösens, des kritischen Denkens, der Kollaboration etc. sein? Zugleich stellt sich die Frage nach den Inhalten dann anders als zu früheren Zeiten, wenn diese schnell veralten. Wissen und Inhalte bleiben zwar weiterhin relevant, sie stellen jedoch keinen stabilen und überdauernden Kanon an Bildungsgütern dar, sondern werden exemplarisch in die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen integriert. Nicht die Vermittlung eines enzyklopädisch geordneten Wissensfundus bildet den Bezugspunkt für Lehren und Lernen, sondern exemplarisch ausgewählte Inhalte, mit deren Hilfe aus dem Kennen ein Können werden soll. Exemplarisches Lernen ist ein Prinzip, das bereits von Klafki im Rahmen seiner kategorialen Bildung eingeführt wurde, um der Wissensexplosion und der in den Schulen beobachtbaren Fülle an Stoff entgegenzutreten.

Etliche offene Fragen

Aus diesen Überlegungen lassen sich einige offene Fragen zur Weiterentwicklung und Umsetzung des Konzepts der Zukunftskompetenzen ableiten. Neben der Ergänzung um (exemplarische) Inhalte bedarf es konkreter Überlegungen zur didaktisch-methodischen Umsetzung in Lehren und Lernen sowie zur Diagnose und Prüfung der jeweiligen Kompetenzen: Nach welchen Kriterien können die exemplarischen Inhalte bestimmt werden? Wie kann die Förderung spezifischer Zukunftskompetenzen curricular und didaktisch in Unterricht und Lehre integriert werden? Wie kann der Transfer von Zukunftskompetenzen gefördert werden? Welche Konsequenzen hat die Verlagerung auf die Aneignung von Zukunftskompetenzen für Prüfung und Zertifizierung? Inwieweit lassen sich Zukunftskompetenzen überhaupt in formalen Lernprozessen bzw. in Schule und Unterricht erwerben?

Die pädagogische Diskussion muss (mal wieder) den Weg von der Bildung von Begriffen zur Bildung der Menschen finden. Eine neue Herausforderung für Forschung und Berufsbildungspraxis!

Die vorliegende Kolumne erschien zuerst in Folio 5/23; wir danken dem BCH für die Abdruckerlaubnis.

Literatur

  • Katz, Marco (2023). Zurück in die Zukunft. Eine literaturbasierte Kritik der Zukunftskompetenzen. Online: https:// edarxiv.org/qbaze/ (22.8.2023)
  • Klafki, Wolfgang (1985). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim – Basel.
Zitiervorschlag

Euler, D. (2023). Ohne Wissen in die Wissensgesellschaft?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(11).

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