Berufsbildung in Forschung und Praxis
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20 Jahre Reformen der beruflichen Grundbildung: Fragen und Handlungsbedarf

Jenseits von Versuch und Irrtum

Vor bald zwanzig Jahren trat das aktuell gültige Berufsbildungsgesetz in Kraft. Es löste eine grosse Zahl Innovationen aus, die im Bereich der Bildungspläne und Verordnungen mit einer pragmatischen Versuch-und-Irrtum-Strategie angepeilt wurden. So umfassend diese Innovationen waren, so auffällig ist es, dass bis heute keine fundierten theoretischen und empirischen Evaluationen zur Entwicklung, zur Implementation und zu den Resultaten von Verordnungen und Bildungsplänen durchgeführt worden sind. Das Paradigma der Handlungskompetenzorientierung als strukturgebendes Prinzip der Bildungserlasse konnte sich durchsetzen, ohne dass dazu eine umfassende Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Die Folgen sind u.a. eine Marginalisierung des strukturierten Wissens in Form der traditionellen Fächer, die Dominanz der extremen Lernzielorientierung und, generell, der Durchbruch einer ökonomischen Logik und Kontrolllogik in der schweizerischen Berufsbildung. Eine kritische Bilanz mit einer konstruktiven Debatte sind für die Zukunft der Berufsbildung wünschenswert.


Die berufliche Grundbildung hat in den letzten 20 Jahren eine tiefgreifende Reform erfahren. Ausgehend vom Berufsbildungsgesetz (2002) veranlasste das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI, damals BBT) die Einführung von Bildungsverordnungen (BIVO) und von Bildungsplänen. Daraus entstand eine imposante curriculare Revisionsleistung. Mittlerweile haben viele Berufe dazu bereits eine zweite oder gar eine dritte Phase eingeleitet.

Rekonstruiert man den Reformprozess, ergeben sich Befunde, die zu kritischen Fragen Anlass geben und auf Handlungsbedarf hindeuten.[1]

1. Reformen als curriculares tâtonnement

Dem Zeitgeist folgend, setzte sich auf allen Ebenen des Bildungssystems eine Logik der Rechenschaftsablegung und der Kontrolle durch. Der aufkommende Kompetenzdiskurs ergänzte und stützte diese Entwicklung.

Am Anfang des Reformprozesses waren kaum praktikable Verfahren zur Entwicklung von Berufsbildungscurricula verfügbar. Trotzdem gelang es dem BBT, einen beeindruckenden Masterplan für die Reform aufzugleisen. In Sachen Verfahren musste sich das Amt aber vortasten und versuchte die Entwicklung pragmatisch in den Griff zu bekommen. Eine Versuch- und Irrtum-Strategie, die anhand des «Handbuchs berufliche Grundbildung» (erste Version 2005, letzte 2017) bestens rekonstruierbar ist. Die begrifflichen Grundlagen, auf die sich die ersten Konzepte stützten, gingen einerseits auf die allgemeine curriculare Diskussion aus den 1970er-Jahren zurück und waren andererseits im sogenannten «Lernfeldkonzept» zu finden, das in Deutschland Mitte der 1990er-Jahre die Basis zur dortigen Reform lieferte. Darauf wird noch eingegangen. Vorerst seien aber einige, für das Verständnis der Reformen unabdingbare Begriffe in Erinnerung gerufen.

Nach einer expansiven Periode in der Nachkriegszeit spitzte sich im Bildungswesen der 1970er-Jahre eine Krise zu, die gleichermassen die Legitimation der Bildungsinhalte wie die Verkrustung des didaktischen Alltags betraf. Die Antwort suchte man u.a. in einem aus den USA stammenden curricularen Konzept: Angestrebt wurde die Überwindung der in vielfacher Hinsicht kritisierten Inhaltskataloge der Lehrpläne, u.a. mittels einer neuen, auf operationalisierte Lernziele basierenden Didaktik. Daraus ergab sich ein radikaler Paradigmenwechsel in der Steuerung der Schule: Die Sicherung von Qualität über den Input wurde durch die Kontrolle des Outputs abgelöst. Dem Zeitgeist folgend, setzte sich auf allen Ebenen des Bildungssystems eine Logik der Rechenschaftsablegung und der Kontrolle durch. Der aufkommende Kompetenzdiskurs ergänzte und stützte diese Entwicklung: Kompetenzen als neue gesellschaftliche Verständigungsformel[2] vermittelten einer steifen Lernzielpädagogik ein zeitgemässes Erscheinungsbild.

2. Begriffe, Verfahren und Reformpraxis: Lernfeldkonzept, Triplex, CoRe, HKO

Im Berufsbildungsbereich, namentlich in der BRD, wurde die skizzierte Entwicklung erst verspätet in den 1990er-Jahren richtig wirksam und bildete in der Schweiz den Hintergrund der ab 2004 anlaufenden Revisionen. Zumindest teilweise auf das aus Deutschland stammende Lernfeldkonzept zurückgehend, kamen dabei drei bekannte Modelle zum Zuge: Vorerst Triplex, darauf als Alternative das Kompetenzen-Ressourcen-Modell (CoRe) und schliesslich als schleichende Hybridisierung die Handlungskompetenzorientierung (HKO).

Das Lernfeldkonzept wurde 1996 in der BRD durch die Kultusministerkonferenz (KMK) mit einem politisch-administrativen Akt als einzig legitimierter Ansatz zur Entwicklung von Berufsbildungscurricula eingeführt. Darin fanden u.a. die Ansprüche der sogenannten «Handlungsorientierung» Eingang, was sich insbesondere als Abkehr von der traditionellen Fächersystematik zugunsten einer Situations- und Aufgabenorientierung konkretisieren sollte. Im Wortlaut aus der KMK-Handreichung:

«Gegenüber dem traditionellen fächerorientierten Unterricht stellt das Lernfeldkonzept die Umkehrung einer Perspektive dar: Ausgangspunkt des lernfeldbezogenen Unterrichts ist nicht mehr die fachwissenschaftliche Theorie, zu deren Verständnis bei der Vermittlung möglichst viele praktische Beispiele herangezogen wurden. Vielmehr wird von beruflichen Aufgaben- oder Problemstellungen ausgegangen, die aus dem beruflichen Handlungsfeld entwickelt und didaktisch aufbereitet werden.» (KMK 2021,11)

Als Ausgangspunkt für Selektion und Strukturierung der Inhalte galt neu die berufliche Handlungslogik, was zur Entwicklungssequenz HandlungsfeldLernfeldLernsituation führte. Das Lernfeldkonzept zielte auf Kompetenzerwerb und strebte eine grundlegende Erneuerung des Unterrichts in Form von handlungsorientierten Lehr-, Lernarrangements an, wobei man im didaktischen Bereich explizit für methodische Offenheit plädierte.

Die Umsetzung des Konzepts fällt nach über 20 Jahren nicht überzeugend aus. Zwar scheint das Glas halbvoll zu sein, jedoch konnten weder die theoretischen Mängel, die Verfahrensprobleme noch die praktischen Implementationsprobleme seitens der Schulen und die Überforderung der Lehrkräfte überzeugend gelöst werden.

Die Umsetzung des Konzepts fällt nach über 20 Jahren nicht überzeugend aus. Zwar scheint das Glas halbvoll zu sein, jedoch konnten weder die theoretischen Mängel (etwa das problematische Verhältnis von Wissenschafts- und Situationsorientierung sowie Handlungs- und Fachsystematik), die Verfahrensprobleme (etwa der Übergang Handlungsfeld ➝ Lernfeld ➝ Lernsituation) noch die praktischen Implementationsprobleme seitens der Schulen und die Überforderung der Lehrkräfte überzeugend gelöst werden[3].

Triplex – CoRe – HKO

Die erste Fassung (2005)[4] des erwähnten Handbuchs des SBFI hielt fest, dass die Lernenden zur Bewältigung von «Handlungssituationen» befähigt werden sollten und knüpfte die Reformen an den Kompetenzbegriff. Die Bezugnahme zum «Lernfeldkonzept» wurde zwar nicht expliziert, war aber nahliegend. Bald zeigte sich allerdings, dass die «Triplex-Methode», die anfänglich zur Anwendung kam, nur marginal mit den bekundeten Ansprüchen etwas zu tun hatte: Der Ansatz entsprang nämlich der orthodoxen, verhaltenstheoretisch fundierten Lernzieldidaktik aus den 1970er-Jahren und führte das Deduktionsprinzip auf den drei Niveaus der Leit-, Richt-, und (operationalisierten) Leistungszielen ein. Ein Verfahren, das sich in Form von Schreibtischarbeit ohne zwingenden Bezug zur Arbeitsrealität umsetzen liess. Deshalb wurde im Handbuch mit CoRe bereits eine Alternative in Aussicht gestellt:

«Dieses Modell wird vom SIBP im Verlaufe des Jahres 2005 im Rahmen einiger neuer Verordnungen über die berufliche Grundbildung weiterentwickelt. Danach soll es als Alternative zur Triplex-Methode für kommende Reformen eingesetzt werden können» (Handbuch 2005, 11) 

Schon in der Handbuch-Ausgabe von 2006 stellte man CoRe vor. Damit wurde u.a. der Situationsbegriff als analytisches Instrument für die Curriculumentwicklung eingeführt:

«Zu Beginn gilt es, konkrete Situationen, in denen ausgebildete Berufsleute heute arbeiten, zu sammeln und zu beschreiben. Die beschriebenen Berufssituationen dienen als Grundlage für alle weiteren Arbeiten am Bildungsplan.» (Handbuch 2006)

Diese Wende markierte nicht nur den Übergang zur Eruierung der Anforderungen im Handlungsfeld und im Arbeitsprozess, sie wertete den Situationsbegriff für die gesamte curriculare Architektur und für den didaktischen Alltag auf[5]. Es waren die ersten Schritte jenseits einer curricularen Logik, die an die Stelle eines deduktionistischen Lernzielmodells die konkrete berufliche Tätigkeit als unabdingbaren Ausgangspunkt statuierte. Die Kritik an der Lernzieldidaktik war naheliegend und führte zur Verwendung eines neuen, von der französischen Tradition geprägten Kompetenzbegriffs: Lernende sollen mit den notwendigen Ressourcen – Kenntnisse, Fähigkeiten, Haltungen – zur Bewältigung von (beruflichen) Handlungssituationen ausgestattet werden. Ressourcen traten an die Stelle von operationalisierten Lernzielen. Gleichzeitig plädierte CoRe für flexible, bildungsgangabhängige Curricula, die sowohl kompetenzorientierte Einheiten (Module) als auch traditionelle Fächer berücksichtigen. Strukturiertes Fachwissen wurde als genauso sinnvoll betrachtet wie situationsorientiertes Kompetenzwissen. Das Ziel: Ein nach den Anforderungen des jeweiligen Berufs auszutarierender Ausgleich von Fach- und Handlungssystematik.

Neben der Beschreibung von Triplex enthielt das Handbuch nun eine ausführliche Darstellung von CoRe, das damit institutionell anerkannt wurde und für eine Öffnung bzw. für eine minimale Vielfalt im Reformprozess Gewähr bot.

Die Einsicht, dass Triplex kaum den gestellten Anforderungen entsprach, führte dann rasch auch zu dessen institutionellen Relativierung zugunsten des Prinzips der Handlungskompetenzorientierung:

«Für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner und die Lernenden sind handlungskompetenzorientierte Bildungserlasse aussagekräftiger und sie entsprechen eher der Berufspraxis als die in der Vergangenheit oft verwendeten lernzielorientierten Beschreibungen auf der Basis des Triplex-Modells. Aus diesem Grund fördert das SBFI die Handlungskompetenzorientierung. Das Triplex-Modell kann aber grundsätzlich weiterhin verwendet werden.» (Handbuch 2017)

Autor Gianni Ghisla anlässlich der Vernissage der EHB des Buches Didaktik und Situationen. Ghisla ist Co-Herausgeber des Werks. Im Bild von links: Stephan Schori, Dr. Laura Perret Ducommun, Dr. Barbara Fontanellaz, Dr. Gianni Ghisla, Georg Berger. Bild: EHB

Freilich, Handlungskompetenzorientierung ist de facto lediglich ein Begriff, bestenfalls die Definition eines Bestrebens, aber noch kein Verfahren der Curriculumentwicklung. Deshalb bemühte man sich um Präzisierung und begann vom HK(O)-Modell zu sprechen:

«Das HK-Modell beschreibt als Weiterentwicklung des Triplex-Modells Handlungskompetenzen in den vier Dimensionen Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. Die Handlungskompetenzen werden als Leistungsziele konkretisiert und den Lernorten zugewiesen.» (Handbuch 2017)

Die Wortwahl ist aussagekräftig: «Die Handlungskompetenzen werden als Leistungsziele konkretisiert und den Lernorten zugewiesen.» (Hervh. GG) HKO hat so Triplex einverleibt, die Kompetenzen nehmen die Rolle der Leistungsziele ein, die Operationalisierung und die drei Ebenen werden beibehalten. In didaktischer Hinsicht entscheidend ist auch, dass die operationalisierten Leistungsziele auf der dritten Ebene nach der sogenannten Bloomschen Taxonomie hierarchisiert werden müssen.

Aber das Unbehagen gegenüber der begrifflichen und inhaltlichen Fragilität des HKO-Modells war nicht zu tilgen, v.a. angesichts der gesetzten Ansprüche an eine handlungsrelevante Konzeption von Berufsbildung. Pragmatisch wurde deshalb eine einschneidende Erweiterung vorgenommen. Die ursprüngliche Definition von «Handlungskompetenz» ­(handlungskompetent ist «wer berufliche Aufgaben und Tätigkeiten eigeninitiativ, zielorientiert, fachgerecht und flexibel ausführt» / Handbuch 2017) präzisierte man grosszügig dahingehend, dass eine Person «…in der Lage sein (muss), spezifische Ressourcen situationsgerecht zu gebrauchen.» (Hervh. im Original[6]):

«Eine Person handelt demgemäss kompetent, wenn sie situationsgerecht a) die richtigen Ressourcen b) in einer sinnvollen Kombination und c) auf adäquate Art und Weise gebraucht resp. aktiviert». (ibid)

Damit fanden der Situationsbegriff und die CoRe-Definition von Kompetenz in das HKO-Konzept Eingang. Die Hybridisierung wurde vollzogen: Aus der Handlungsorientierung qua Lernfeldkonzept, der Lernzielorientierung gemäss Triplex und der Situationsorientierung nach CoRe entstand schliesslich HKO. Das ist in pragmatischer und eklektizistischer Absicht eine legitime Operation. Es bleibt jedoch offen, ob damit ein Modell entstand, das theoretisch, begrifflich und v.a. praktisch den minimalen Anforderungen der Reformvorhaben genügen kann[7]. Es ist wohl kein Zufall, dass das Modell in keiner zugänglichen Publikation fundiert diskutiert wird[8]. Ebenso nicht zufällig ist, dass quasi als Nebenprodukt der Handlungsorientierung das Ende des strukturierten Wissens eingeläutet wird. Gemäss HKO werden die Fächer durch «zusammengehörende Handlungskompetenzen» ersetzt und als Handlungskompetenzbereiche ausgewiesen. Diese dienen «…als Strukturierungseinheit der Ausbildung an den drei Lernorten und der Qualifikationsverfahren.» (Hervh. GG, Handbuch 2017)

Demnach hat Wissen keinen Wert mehr an sich, sondern wird nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner Verwendungszwecke verstanden, was eine weitgehende Ökonomisierung von Schule und Bildung zur Folge.

Die curricularen Reformen wurden in den letzten Jahrzehnten im gesamten Bildungssystem schweizweit weitgehend von derselben Logik geprägt[9]. Demnach hat Wissen keinen Wert mehr an sich, sondern wird nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner Verwendungszwecke verstanden, was eine weitgehende Ökonomisierung von Schule und Bildung zur Folge. In der beruflichen Grundbildung setzt sich diese Tendenz in der Anwendung des HKO-Modells durch. Seitens des SBFI erfolgte eine entsprechende administrative Verfügung mittels präziser Leitvorgaben für die BIVO und für die Bildungspläne. Gerade diese Vorgaben statuieren nicht nur die Lernzielformulierung gemäss Triplex und die taxonomische Klassifizierung, sondern auch der absolute Verzicht auf traditionelle Fächer(-bezeichnungen), mit Ausnahme des Sports, zugunsten von «Kompetenzbereichen»[10]. Abweichungen von diesen Vorgaben sind offensichtlich auch als Ausnahme nur schwer denkbar. Dies auch weil die mögliche Alternative, die Leitvorlage CoRe, auf der Homepage des SBFI schon länger nicht mehr abrufbar ist[11].

Die für die Revision und für Anpassungen zuständigen Kommissionen für Berufsentwicklung und Qualität der einzelnen Berufe haben so kaum die Möglichkeit, sich anders zu orientieren, auch wenn sie dies wollten. Ihre Arbeit wird auch dadurch nicht erleichtert: Zu Erfolg und Wirksamkeit der Revisionen und der angewendeten Ansätze liegen nämlich keine (vergleichende) Untersuchungen und keine empirischen Befunde vor[12],[13].

3. Handlungsbedarf

Die hier resümierte Rekonstruktion der curricularen Revisionen kann einerseits einen Beitrag zur kritischen Reflexion leisten, andererseits weist sie auf Bereiche hin, wo Handlungsbedarf besteht. Im Folgenden sollen drei davon im Sinne einer minimalen Auslegeordnung skizziert und mit einigen Ideen ergänzt werden.

Curriculare Modelle und Ansätze: Ein Plädoyer für Vielfalt

Mit den Revisionen wurde weitgehend Neuland betreten, deshalb liegen Unsicherheiten und Entwicklungsprobleme in der Natur der Sache. Das Fehlen von wissenschaftlich abgesicherten Modellen und Verfahren, eine wenig interessierte akademische Pädagogikcommunity, aber auch die komplexe Realität mit mannigfaltigen Interessen haben die Konzipierung und die administrative Steuerung der curricularen Entwicklung nicht erleichtert. So erklärt sich, dass die anfänglich angestrebte Offenheit zunehmend eingeengt wurde. Die gewachsene Dominanz des HKO-Modells unterminiert die an sich willkommene curriculare und didaktische Vielfalt.

Curriculare Konzepte und Modelle sind weder pädagogisch noch didaktisch neutral, sie repräsentieren Konzeptionen der Arbeit, des Lehrens und des Lernens, ja sie sind Ausdruck zeitgeistlicher Strömungen. Deshalb scheint es bildungspolitisch und im Sinne der angestrebten Berufs- und Qualitätsentwicklung besonders wichtig, dass eine minimale Offenheit und Vielfalt in den angewendeten curricularen Paradigmen gewährleistet werden können. Berufsbildung soll die Lernenden landesweit vergleichbar auf hohem Niveau qualifizieren. So sind der Vielfalt auch Grenzen gesetzt, die aber mit – teilweise schon bestehenden – Qualitätskriterien bzw. Standards gesichert werden können.

Wenn heute berufliche Bildung die Aneignung von Kompetenzen voraussetzt, so kann die Art und Weise, wie man diese definiert, erfasst, beschreibt und dann v.a. in Bildungspläne und Unterricht umsetzt, erheblich variieren. Zwar können die Kompetenzen formal in den Verordnungen durchaus einheitlich erfasst bzw. definiert werden, entscheidend ist jedoch, dass die Strukturierung der Bildungspläne eine ausreichende Gestaltungsfreiheit sichert. Die zur Zeit verfügbare Leitvorlage des SBFI (Stand 2.5.2019) bezieht sich ausschliesslich auf das HKO-Paradigma und den damit verbundenen didaktischen Konzepten, insbesondere die rigide, auf detaillierte Operationalisierung basierende Ausrichtung auf Lernziele.

Die Leitvorlage liesse sich ohne Probleme offener konzipieren. Die erwünschte Unterstützung der zuständigen B&Q-Kommissionen könnte auch so mit adäquaten Beispielen, Handreichungen bzw. Begleitungen gesichert werden.

Das vermittelte Wissen: Für ausgleichende, flexible und sich ergänzende Formen

Die Entwicklung der letzten Jahre hat sogenannte Handlungskompetenzbereiche zur vorherrschenden Strukturierungseinheit der Bildungspläne und der Ausbildung gemacht.

Die Entwicklung der letzten Jahre hat sogenannte Handlungskompetenzbereiche zur vorherrschenden Strukturierungseinheit der Bildungspläne und der Ausbildung gemacht. Dem strukturierten Wissen in Form der traditionellen Fächer droht eine verhängnisvolle Marginalisierung. So berechtigt eine gewisse Kritik der Trägheit und Transferresistenz tradierter Wissensvermittlung auch sein mag, so problematisch ist deren strukturellen Vernachlässigung und so unglücklich sind absolute Formen der Handlungs- und Situationsorientierung.

Demgegenüber wäre es besonnen, nach ausgleichenden, flexiblen und sich ergänzenden Formen der inhaltlichen Gliederung der Bildungspläne zu suchen. Damit könnte auch der intrinsische, ästhetische und spielerische Wert des Wissens bewahrt werden, ohne dabei dessen instrumentelle Verwendung und damit den homo faber links liegen zu lassen. Wissen ist zugleich faszinierend und nützlich: Die Berufsbildung befindet sich in der bemerkenswerten, privilegierten Lage, beide Dimensionen bedienen zu können.

Man sollte aber auch den Lehrkräften entgegengekommen. Es ist hinlänglich bekannt, dass die situationsorientierte Vermittlung des Wissens eine der grössten didaktischen Herausforderungen darstellt. Und für ihre Ausbildung ist die Beibehaltung der tradierten, epistemologisch fundierten Fächer eine kaum wegzudenkende Voraussetzung.

Die Berufsbildungsverordnung (BBV, 2003/Stand 1.4.2022) bietet dazu optimale Bedingungen. Zu den Inhalten schreibt sie nämlich vor (Art. 12), dass die Verordnungen der einzelnen Berufe «mögliche Organisationsformen der Bildung in Bezug auf die Vermittlung des Stoffes und auf die persönliche Reife [regeln], die für die Ausübung einer Tätigkeit erforderlich ist».

Dies ist die Basis für eine durchaus legitime und leicht zu vollziehende Auflockerung der zur Zeit äusserst einschränkenden Leitvorlage des SBFI zu den BIVOs der beruflichen Grundbildung (Stand 1.9.2021[14]). Diese verlangt nämlich für die Berufsfachschule die Bestimmung der Anzahl Lektionen ausschliesslich pro Handlungskompetenzbereich (HKB). Fächer, ausser Sport, sind nicht mehr vorgesehen.

Mit einer derartigen Auflockerung wäre eine sinnvolle und flexible Kombination von HKB und Fächer je nach den Anforderungen und Bedürfnissen der einzelnen Berufe wieder möglich.

Evaluation der Revisionen: Empirische Studien und theoretische Vertiefungen

Die Berufsentwicklung steht und fällt mit der kritischen Auseinandersetzung und mit der Fähigkeit zum konstruktiven Dialog unter den verschiedenen Playern, genauso wie über die Berufsbereiche und – besonders wichtig in unserem Land – über die sprachregionalen Grenzen hinweg. Dazu müssen aber umfassende Grundlagen bereitgestellt werden. Seit dem Inkrafttreten des neuen Berufsbildungsgesetzes sind in 20 Jahren enorme Anstrengungen unternommen worden, um die berufliche (Grund-)Bildung zu erneuern und auf hohem Niveau zukunftsfähig zu machen. Jetzt ist es an der Zeit, einen kritisch-evaluativen Blick über diese Erfahrungen streifen zu lassen. Denn: Mit wenigen Ausnahmen sind zu den Reformen, zur Entwicklung und Implementation von BIVOs und Bildungsplänen keine systematischen, empirischen Evaluationen durchgeführt, keine Vertiefungstexte oder kritische Abhandlungen verfasst worden.

Es wäre deshalb mehr als angebracht, gezielte Forschungsprojekte und Analysen zur theoretischen Grundlegung, zum verfahrenstechnischen Werdegang und zur Implementation der Curricula in die Wege zu leiten.

Es wäre deshalb mehr als angebracht, gezielte Forschungsprojekte und Analysen zur theoretischen Grundlegung, zum verfahrenstechnischen Werdegang und zur Implementation der Curricula in die Wege zu leiten. Es müssten berufsspezifische und insbesondere vergleichende Untersuchungen vorgenommen werden, die z.B. die Probleme bei der Entwicklung und Umsetzung der Bildungspläne, die Einschätzungen und Erwartungen der Beteiligten (OdA, Lernorte, Lehrkräfte, …), die Erfolge der Lernenden, usw. usf. unter die Lupe nehmen. Auch die Erfahrungen und das Material, die sich bei den B&Q-Kommissionen angehäuft haben, wären aufzuarbeiten. Eine solche Lagebeurteilung müsste ziemlich breit aufgegleist werden und würde die Berufsbildungsforschung herausfordern. Dazu bieten sich 20 Jahre Berufsbildungsgesetz als gute Gelegenheit an.

[1] Dieser Beitrag basiert auf folgender Studie, die online zugänglich ist: Ghisla, G. Curriculare Architekturen: Lernfeldkonzept – CoRe – HKO-Modell. Kritische Gedanken zum Durchbruch der ökonomischen Logik und der Kontrolllogik in der schweizerischen Berufsbildung. Extra-Onlineausgabe mit Texten zum Buch: Ghisla, G. et al. (2022) Didaktik und Situationen Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung. hep Verlag
[2] Künzli, R. (2016). Verschiebungen der gesellschaftlichen Bildungserwartungen. Zur «Kompetenz» als gesellschaftliche Verständigungsformel. (Letzter Zugriff: 15.12.2022
[3] Man vgl. für die kritische Betrachtung des Lernfeldkonzepts und seiner Implementierung u.a.:
  • Reinisch, H. (1999): Probleme „lernfeldorientierter“ Curriculumentwicklung und -implementation. Eine historisch-systematische Analyse aus wirtschaftspädagogischer Sicht. In: HUISINGA, R./ LISOP, I./ SPEIER, H.-D. (Hrsg.): Lernfeldorientierung. Konstruktion und Unterrichtspraxis. Frankfurt a. M., 85-119.
  • Tramm, T., Kremer, H. & Ralf Tenberg (Hrsg.): Lernfeldansatz – 15 Jahre danach. bwp@, Ausgabe 20, 2011 (bwpat.de).
  • Riedel, A. & Schelten  (2013).  Grundbegriffe der Pädagogik und Didaktik beruflicher Bildung. Franz Steiner Verlag. Stuttgart
  • Backes-Haase, A. & Bathelt, M. Lernfeld Innovation? Eine Bilanz nach 20 Jahren mit Fokus auf das Verhältnis von Fach- und Handlungssystematik. Wirtschaft & Erziehung (2016) 4, S. 123-128
[4] Die letzte Version des Handbuches (2017) findet sich auf der SFBI-Seite (20.12.2022)
[5] Vgl. dazu das Konzept der Situationsdidaktik, das im Band Ghisla, G. et al. Didaktik und Situationen (hep Verlag 2022) ausführlich und erfahrungsbezogen dargestellt wird.
[6] Die Definition wurde im breit angelegten, von der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz (SBBK) 2017 in Auftrag gegebene, vom SBFI unterstützten und von der EHB durchgeführte Projekt «Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung» angewendet. Die offizielle Dokumentation dazu (Information und Fragebogen) ist auf der SBBK-Homepage abrufbar: https://www.edk.ch/de/sbbk/dokumentation/projekte (20.12.2022)
Die Ergebnisse der Umfrage sind in einem Bericht festgehalten: Schuler, M. & Wettstein, F. (2020). Ergebnisbericht. Zur Standortbestimmung HKO für Lehrpersonen und Schulkader. EHB. Abrufbar:  https://docplayer.org/203060753-E-r-g-e-b-n-i-s-b-e-r-i-c-h-t.html (20.12.2022)
[7] Rolf Dubs spricht mit Bezug zur Revision im kaufmännischen Bereich von einem «grundlegenden Konstruktionsmangel». Vgl. Grundlegender Konstruktionsmangel: Zur Reform Kaufleute 2022. In: Transfer, (3/2021), SGAB. 15.12.2022. Dieter Euler mahnt mit Verweis auf die dogmatische Lernzielorientierung die Deprofessionalisierung der Lehrkräfte an. Vgl. Euler, D. (2016). Lehrpersonen in der Berufsbildung auf dem Weg zur Deprofessionalisierung? Folio, August 2016
[8] Jedenfalls ist dem Autor keine solche umfassende Publikation bekannt. R. Dörig hat zwar die Handlungsorientierung als Unterrichtsansatz diskutiert (Dörig, R. (2006). Gestaltung der Lernpotenziale in spezifischen Lernkontexten (schulische Akzentuierung. In: Euler, D. (Hrsg.). Facetten des beruflichen Lernens. hep. 315-350. Als Ausnahme gelten Schori Bondeli, R. et al., die eine Grundlegung spezifisch für den ABU-Unterricht entwerfen. (Schori Bondeli, R. et al. (2017): Unser Leben-Unsere Welt-Unsere Sprachen. Quality Teaching im allgemeinbildenden Unterricht. ABU an den Berufsfachschulen. hep) Die begriffliche Unschärfe und die vage theoretische Fundierung der Definition bzw. des HKO-Konzepts sind jedenfalls nicht zu übersehen. Aufschlussreich diesbezüglich ist die Verwendung der Definition in der erwähnten Studie «Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung».
[9] Dies lässt sich an der Rekonstruktion von besonders aussagekräftigen Fällen aufzeigen wie der Lehrplan 21 für die obligatorische Schule oder, für die Berufsbildung, z.B. die kaufmännische Ausbildung, Fachmann/Fachfrau Gesundheit oder die Entwicklung bei Kaufmann/Kauffrau Apotheke. Letzterer Fall ist besonders interessant, weil er den Übergang von CoRe zu HKO markiert. Eine differenzierte Analyse dieser Beispiele ist Rahmen dieses Beitrags nicht ermöglicht, wird aber im eingangs erwähnten Grundlagenbeitrag (Fussnote 1) geleistet.
[10] Mit Ausnahme von Sport und ABU sieht die Vorgabe der Bivo, Art. 7, keine Fächer mehr vor.
[11] Dass CoRe gewissermassen marginalisiert wird mag selbstredend viele Gründe haben, die auch mit dem Ansatz selbst zu tun haben. Aber gerade deswegen wäre eine kritische Auseinandersetzung auf der Basis von Daten mehr als notwendig.
[12] Auch sind Untersuchungen nicht bekannt oder zumindest zugänglich, die die Berichte und Argumentationen der Anträge seitens der OdAs untersucht hätten.
[13] Diese Situation wird dadurch abgerundet, dass die in den letzten Jahren entstandenen privaten Beratungsstellen kaum ein Interesse haben, nicht SBFI-Verfahren zur Anwendung zu bringen. Sie versuchen u.a. mit überzeugenden Digitalisierungsprodukten zu punkten, was sich mit detaillierten Lernzielen nach Triplex einfacher erreichen lässt als mit anspruchsvolleren Ansätzen.
[14] Auch die Erläuterungen zum Leittext sind genauso limitierend.
Zitiervorschlag

Ghisla, G. (2023). Jenseits von Versuch und Irrtum. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(1).

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