Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Erster Anlass aus der «Themenreihe Berufsbildung» an der PH Zürich

Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung – Erfahrungen aus drei Berufen

Die Handlungskompetenzorientierung ist das konstituierende Merkmal der beruflichen Grundbildung. Seit 2002 im Berufsbildungsgesetz verankert, stellt das Paradigma die Berufsfachschulen aber noch immer vor Probleme. Die Auswirkungen auf die didaktische Gestaltung des Unterrichts, die Organisation von Prüfungen oder die Weiterbildung von Lehrpersonen sind gross. Die Pädagogische Hochschule Zürich nimmt das Thema im Rahmen ihrer vierteiligen «Themenreihe Berufsbildung» auf. Die erste Veranstaltung stand im Zeichen von Berichten aus der Praxis. Eine Erkenntnis daraus: Nicht immer verläuft die Umsetzung erfolgreich. Viele Schulen wollen zu viel auf einmal. [Foto: PH Zürich]


Wenn man die Dokumente zu den aktuell anstehenden Berufsreformen liest, könnte man meinen, der Begriff der «Handlungskompetenzorientierung» sei gerade eben erst salonfähig geworden.

«Viele mögen es nicht mehr hören» war der erste Satz von Daniel Degen von der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH), als er das erste Referat an diesem Abend eröffnete. Gemeint war die Handlungskompetenzorientierung (HKO), die die Berufsbildung tatsächlich schon lange beschäftigt. Vor bald einem halben Jahrhundert zum Leitbegriff im berufspädagogischen Diskurs erhoben, ist er seit dem Berufsbildungsgesetz aus dem Jahre 2002 für alle Berufe massgebend. Wenn man allerdings die Dokumente zu den aktuell anstehenden Berufsreformen liest, könnte man meinen, der Begriff sei gerade eben erst salonfähig geworden.

Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung

Das Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung besteht, erstaunt nicht. Denn die HKO verändert viel. Sie orientiert sich nicht mehr an Fächern, sondern an einer fächerübergreifenden Situationsdidaktik. Es geht nicht mehr nur um Wissen; vielmehr werden nun an allen drei Lernorten lebensnahe Lern- und Arbeitssituationen zum Ausgangspunkt von Lernprozessen. Ziel ist, dass Lernende komplexe Situationen eigeninitiativ, zielorientiert, fachgerecht, situationsgerecht und sozial verantwortlich bewältigen können. Oder einfacher: Die Lernenden müssen nicht nur wissen wie etwas geht, sondern sie müssen es auch können. Damit werden die bisher eher vernachlässigten Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenzen stärker in den Lernprozess miteinbezogen.

Gut möglich also, dass die Auswirkungen dieses tiefgreifenden Paradigmenwechsels unterschätzt wurden. Immerhin tangiert es das Selbstverständnis der Lehrpersonen und verlangt den Schulen auf den verschiedensten Ebenen einiges ab. Festzustellen ist jedenfalls, dass die dominante Stellung der Fachkompetenz in den Bildungs- und Lehrplänen erhalten blieb und nun in vielen Berufen Nachbesserungen notwendig macht.

Einblicke in die Umsetzungsprojekte dreier Berufe

Ob man es also hören will oder nicht, der Begriff ist aktueller denn je. Dementsprechend gut besucht war die erste Veranstaltung im Rahmen der «Themenreihe Berufsbildung» 2024 an der PHZH.

Ob man es also hören will oder nicht, der Begriff ist aktueller denn je. Dementsprechend gut besucht war die erste Veranstaltung im Rahmen der «Themenreihe Berufsbildung» 2024 an der PHZH. Daniel Degen ging auf den Begriff, seine Relevanz im Arbeitsmarkt und in der Berufsbildung ein, bevor er Einblicke in Ergebnisse seiner Promotionsarbeit gab. Diese zeigen, dass Handlungssituationen in den neuen Bildungsplänen manche Lehrpersonen überfordern und dass es nicht allen leichtfällt, die Vorgaben für den eigenen Unterricht didaktisch und inhaltlich auf das Wesentliche zu reduzieren. Auch die Gestaltung einer handlungskompetenzorientierten Prüfung, so zeigt die Empirie, gehört zu den Herausforderungen, die Lehrpersonen umtreibt. Gefordert sind nun ganzheitlichere Prüfungsformen, die auf die Handlungssituationen fokussieren, was eine Erweiterung des methodischen Verständnisses erfordert.

Im Anschluss führte Janine Allimann von der Berufsschule für Mode und Gestaltung in Zürich durch das Projekt an ihrer Schule, in der drei Berufe im Sommer 2024 mit einer neuen Bildungsverordnung an den Start gehen, die konsequent auf die HKO setzen. Sie machte deutlich, dass ihre Schule diese Entwicklung als eigentlichen Kulturwandel versteht, der Jahre dauern werde und als Schulentwicklungsprozess verstanden werden müsse. Zentral dabei sei das Commitment der Schulleitung und ein auf längere Zeit ausgerichtetes agiles Projektmanagement; etwas, das noch nicht bei allen Schulen zur Selbstverständlichkeit gehöre.

Nahtlos schloss Nicola Snozzi vom Berufsbildungszentrum Gesundheit und Soziales in Sursee mit ihrem Referat zu den Erfahrungen mit dem Wechsel zur HKO in den Berufen Fachfrau/Fachmann Betreuung und Gesundheit an. Sie strich heraus, dass sowohl die digitale Transformation als auch das begleitete selbstorganisierte Lernen eher eine Kultur- und Haltungsfrage sind, der sich die Lehrpersonen stellen müssten. Sich von Glaubenssätzen zu verabschieden, wie «ich kenne die beste Methode für die Lernenden», «alle müssen vor Ort sein», «Schwächere brauchen mehr Kontrolle» etc. sieht Snozzi dabei als zentrale Herausforderung.

Organisatorische Herausforderungen für die Schulen

Sich von Glaubenssätzen zu verabschieden, wie «ich kenne die beste Methode für die Lernenden», «alle müssen vor Ort sein», «Schwächere brauchen mehr Kontrolle» etc. sieht Snozzi dabei als zentrale Herausforderung.

Den Abschluss machten Valentin Böhm und Cornelia Thaler von der Berufsfachschule Uster mit der kaufmännischen Ausbildung. Sie gingen auf die organisatorischen Aspekte bei der Umstellung vom Fachunterricht auf einen interdisziplinären HKO-Unterricht ein. Die Herausforderungen waren und sind die Lektionenzuteilungen, die Notengebung in Handlungskompetenzbereichen, der Umgang mit dem Wahlpflichtbereich, die Anpassung der Schnittstelle zur integrierten Berufsmaturität und der Ablauf des neuen Qualifikationsverfahrens.

Wie andere Schulen sehen Valentin Böhm und Cornelia Thaler diesen Wandel aber auch als Chance für einen Schulentwicklungsprozess, mit dem auch andere Aspekte mit aufgegriffen werden können. Stichworte seien hier die Förderung der Methodenvielfalt, die Profilierung als Schule und eine Etablierung einer agilen und interdisziplinären Arbeitsorganisation.

Die Erfahrungen, die die PHZH in der Begleitung von Reform-Projekten gemacht hat, zeigen allerdings, dass die Umsetzungsformen nicht in allen Fällen erfolgreich verlaufen. Viele Schulen wollen zu viel auf einmal. Zeitgleich zu den Projekten, die schon vor längerer Zeit ihren Anfang nahmen, noch eine so tiefgreifende Reform zu stemmen, braucht eine intakte Schulkultur, freie Ressourcen und ein solides Projektmanagement. Denkt man an Themen wie Futuremem, ABU 2030 oder die BM-Reform, dürfte die Gleichzeitigkeit von Projekten noch zunehmen und zu einem fortwährenden komplexen Prozess führen, der mehr Ressourcen verlangt als es für die Sicherstellung des Kernauftrags vielleicht gut ist.

Valentin Böhm und Cornelia Thaler (Berufsfachschule Uster) stellten auch ihre «HIP-Module» vor. HIP steht für handlungskompetenzorientiert, interdisziplinär und problembasiert. Jedes HIP-Modul wird zwei bis drei Mal pro Semester als Block in den Semesterplan integriert und dauert drei Wochen. Es besteht aus einem Vorbereitungscase, einer Transferphase und einer individuellen Lernphase. Der Vorbereitungscase knüpft an Problemstellungen aus der Lebenswelt der Lernenden an –  z.B mit der Frage, welche Erwartungen an die Jugendlichen in der Lehre gestellt werden. Im Transfercase schaffen die Lernenden den Bezug zu ihrer persönlichen Berufswelt der Frage etwa, wie man sich am Telefon verhält. In der individuellen Lernphase vertiefen sie die erworbenen Kenntnisse und die gemachten Erfahrungen. Abgeschlossen wird ein Modul mit der Reflexion über das Gelernte, über neu angeeignete Verhaltens- und Arbeitsweisen sowie über dazu gewonnene Erkenntnisse. Erstellt und unterrichtet werden die Module durch Lehrpersonen in interdisziplinär zusammengesetzten Teams verschiedener Fachrichtungen. An einem Unterrichtsmodul arbeiten beispielsweise Sprach- und Wirtschaftslehrpersonen zusammen, unterstützt durch Lehrpersonen der Technik und Personen aus der Berufspraxis.

Die Loft School zeigt auf, dass neue Unterrichtsformen auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Schulräumlichkeiten haben.

Natürlich durfte in der Präsentation auch das Projekt Loft School der BFSU Uster nicht fehlen. Im Obergeschoss eines schmucklosen Zweckbaus im Zellweger-Areal steht seit letztem Sommer die grösste Lernlandschaft im deutschsprachigen Raum mit mehr als tausend Quadratmetern Fläche für über hundert Lernende der kaufmännischen Ausbildung zur Verfügung. Die Loft School zeigt auf, dass neue Unterrichtsformen auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Schulräumlichkeiten haben. So wie es die KV-Reform vorsieht, sollen durch die offen gestalteten Lernräume ein vermehrtes Arbeiten in Gruppen, Projekten und selbstorganisiertem Lernen ermöglich werden, so wie sie es auch in der realen Arbeitswelt vorfinden.

Podiumsdiskussion

Im Anschluss moderierte Markus Maurer von der PHZH das Gespräch auf dem Podium. Die erste Frage zielte auf das Verhältnis von Fachlehrpersonen zum handlungskompetenzorientierten Unterricht. Für Nicola Snozzi und Janine Allimann stellt sich diese Frage weniger, da alle Fachlehrpersonen ohnehin alle Fächer unterrichten. Valentin Böhm stellt die Rolle der Fachlehrpersonen grundsätzlich in Frage, da diese ja nicht zwingend vorgeschrieben sei. Aber Allrounder wären sicher auch keine Lösung für den kaufmännischen Beruf. Grundlagen müssten jedenfalls weiterhin vermittelt werden.

Bei der Frage zum Verhältnis zwischen Autonomie der Lehrperson und dem gemeinsam zu erarbeitenden Unterricht sieht Cornelia Thaler aus Uster deutliche Vorteile bei Letzterem. Die gemeinsame Arbeit sei für viele Lehrpersonen bereichernd. Während Nicola Snozzi auch schon Lehrpersonen weiterziehen lassen musste, die diese Arbeitsweise nicht schätzten, legte Janine Allimann Wert darauf festzustellen, dass es die Persönlichkeiten der Lehrpersonen sind, die den Unterricht prägen und sie unter Einhaltung von Minimalstandards über ein Maximum an Autonomie verfügen müssen.

Zur Frage, was denn die zentralen Aspekte seien, die man bei der neuen Prüfungsart berücksichtigen muss, wies Daniel Degen auf die Einhaltung der Gütekriterien sowie auf die Prüfungs- und Beurteilungsformen hin; gute Musterprüfungen würden helfen und mündliche Prüfungen werden wichtiger werden.

Dem Einwand, dass mündliche Prüfungen weniger glaubwürdig seien, hielt Daniel Degen entgegen, dass man sich bewusst sein müsse, dass die Berufsbildung für den Arbeitsmarkt ausbildet, wo beides, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gefragt ist. Wolle man konsequent eine Performanz beurteilen, die der beruflichen Realität nahekommt, brauche es ein Wechselspiel zwischen mündlichen und schriftlichen Anteilen.

Aus dem Publikum kam der Einwand, dass die Lernenden Orientierung und Sicherheit suchen, die durch die Auflösung der Fächer erschwert werde.

Aus dem Publikum kam der Einwand, dass die Lernenden Orientierung und Sicherheit suchen, die durch die Auflösung der Fächer erschwert werde. Auch die Anschlussfähigkeit an weiterführende Fachhochschulen, die ja immer noch grösstenteils disziplinär organisiert sind, müsse sichergestellt werden. Valentin Böhm und Nicola Snozzi sehen aus Sicht der Lernenden dabei keine Probleme. Sie wüssten sich zu organisieren und im KV, wo die integrierte und notabene fachorientierte Berufsmaturität neben der handlungskompetenzorientierten EFZ-Ausbildung mitläuft, scheint diese Problematik eingedämmt zu sein. Wie das die abnehmenden Hochschulen einschätzen, werde sich erst noch zeigen.

Die Rolle der Ausbildungsanbieter

Die HKO ist auch in der Ausbildung von Berufsfachschullehrpersonen an der PHZH ein zentrales Thema. In vielen Fällen werden beispielhafte Situationen aus dem Berufsalltag als Ausgangspunkt von Unterricht betrachtet. Die Herausforderung dabei ist, dass die Lernenden nicht nur stückhaft und loses Wissen zu einzelnen Handlungssituationen erwerben, sondern die fachlichen Zusammenhänge ganzheitlich begreifen.

Eine zusätzliche Bedeutung erhält auch die Reflexion beruflichen Handelns durch die Lernenden im Unterricht. Es braucht entsprechende Lernformen, in Gruppen, Partnerarbeiten, solche jedoch auch, die weiterhin eine hohe Verbindlichkeit haben, produktorientiert sind und letztlich auch eine Grundlage für die Bewertung schulischer Leistungen ermöglichen.

Besonderes Augenmerk gilt dem handlungskompetenzorientierten Prüfen. Es sind sicherlich andere, ganzheitlichere Prüfungsformen, die jetzt im Zentrum stehen, die stärker auf die Handlungssituationen fokussieren und bei denen Fachwissen weiterhin die zentrale Grundlage bildet.

Die Rolle der Weiterbildungsanbieter

Aus der Sicht als Weiterbildungsanbieter fühlte sich die PHZH in ihrer Beobachtung durch den Anlass bestätigt, dass der Weiterbildungsbedarf an den Schulen vermehrt durch die Dynamik der Reformen als durch individuelle Bedürfnisse geprägt wird. Der Bedarf wird primär auf der institutionellen Ebene generiert, ist Teil eines Prozessgeschehens, betrifft alle oder bestimmte Lehrpersonen, ist unmittelbar betriebsnotwendig und findet kontinuierlich statt. Der Alltag wird so zu einem steten Wandel, mit immer weniger statischen Phasen. Organisations- und Personalentwicklung rücken dabei näher zusammen.

Diese Entwicklungen machen es notwendig, dass sich Weiterbildungsangebote mehr als Dienstleistungen und weniger als punktuelle und thematisch begrenzte Holangebote definieren.

Diese Entwicklungen machen es notwendig, dass sich Weiterbildungsangebote mehr als Dienstleistungen und weniger als punktuelle und thematisch begrenzte Holangebote definieren. Wirksam sind Angebote, die sich auf die schulspezifischen Bedürfnisse abstimmen und den Entwicklungsprozess kontinuierlich begleiten. Startpunkt sind oft thematische Anfragen, die im Kontext betrachtet, oft vielfältige Bezugspunkte zu anderen Themen haben. Dann gilt es im Wust der Reformen und Entwicklungen die Übersicht zu behalten, Prioritäten zu setzen, Aktivitäten sorgfältig abzustimmen und die Interventionen prozesshaft zu gestalten. Erst so können die Auswirkungen einzelner Massnahmen abgeschätzt und die Nachhaltigkeit gesichert werden. Die HKO zeigt, wie notwendig eine professionelle Begleitung ist, wenn man später nicht nachbessern will.

Foto: PH Zürich

Zur «Themenreihe Berufsbildung»

Die «Themenreihe Berufsbildung» der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) feiert dieses Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Mit jährlich vier Veranstaltungen zu einem Dachthema hat sich das kostenlose Abend-Format, dass die PHZH in Kooperation mit der Table Ronde berufsbildender Schulen organisiert, unterdessen gut etabliert und erreicht ein breites Publikum.

Die nächste Veranstaltung zum Thema Handlungskompetenzorientierung findet am 4. Juni 2024 in Präsenz auf dem Campus der PHZH statt. Thema ist die Höhere Berufsbildung, die zunehmend konfrontiert wird mit Studierenden, die aus einer handlungskompetenzorientierten Grundbildung kommen. Was heisst das für den Unterricht und die Positionierung der Anbieter? Anmeldung hier.

Die Gäste der ersten Veranstaltung waren:

  • Janine Alliman, Rektorin Schule für Mode und Gestaltung, Zürich
  • Nicola Snozzi, Rektorin Berufsbildungszentrum Gesundheit und Soziales, Sursee
  • Valentin Böhm, Abteilungsleiter Wirtschaft, Berufsfachschule Uster
  • Daniel Degen, Zentrumsleiter Berufs- und Erwachsenenbildung (ZBE), PHZH
  • Dr. Markus Maurer, Professur Berufspädagogik, PHZH
Zitiervorschlag

Schneebeli, R. (2024). Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung – Erfahrungen aus drei Berufen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(6).

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