Dieter Euler
Wenn das Neue nicht ganz neu ist: Lernkulturen in der Berufsbildung
Seit einiger Zeit spricht man in der Berufsbildung von «Lernkulturen». Mit dem Begriff wird neben dem individuellen Lernen eines Menschen die Art der Interaktion mit den Lehrenden sowie die lernrelevanten Einflüsse in der Organisation bezeichnet. Mit der Verwendung des Begriffs ist eine Programmatik verbunden, die alle an der beruflichen Grundbildung beteiligten Akteure in Pflicht nimmt. Aber ist das in allen Berufen und Arbeitsbereichen gefragt? Trifft das Leitbild die Erwartungen aller Lernenden oder streben manche ein eher traditionelles Lernverhalten an? Und wird eine neue Lernkultur mit selbstverantwortlichen Lernenden und Mitarbeitenden auf den Führungsebenen geteilt?
Während die individuelle und interaktionale Dimension einer Lernkultur schon immer besondere Beachtung in der Berufsbildung fand, erweitert die besondere Hervorhebung der organisationalen Dimension des Lernorts die Perspektive.
In der Berufsbildung ist es gelegentlich wie in der Politik: Neue Begriffe können neue Perspektiven auf bekannte Phänomene auslösen. Insofern weckt die Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung (SGAB), eine Tagung mit dem Titel «Neue Lernkulturen in der Berufsbildung» auszurichten, Neugier und Erwartungen.
Der Titel lässt zunächst offen, ob der Blick auf etwas bereits Vorhandenes, bislang jedoch Übersehenes oder auf etwas neu zu Schaffendes gerichtet wird. In beiden Fällen ist zu klären, was mit dem zu Erkennenden oder dem zu Schaffenden genau gemeint ist. Wieder einmal wird deutlich, dass Begrifflichkeiten in der Pädagogik unklar oder zumindest unscharf sind. Wenn Ärztinnen sich über ein Krankheitsbild verständigen oder wenn Piloten im Cockpit eines Flugzeugs ihr Handeln abstimmen, dann arbeiten sie mit semantisch eindeutigen Fachbegriffen. Wenn Pädagogen über Schlüsselkompetenzen, digitales Lernen, Handlungsorientierung oder Lernkulturen kommunizieren, dann erfolgt dies häufig in einer Wolke des Ungefähren.
Es spricht vieles für die These, dass der Begriff der Lernkultur zwar erst vor wenigen Jahren Einzug in die Berufsbildung gefunden hat, das zugrunde liegende Phänomen jedoch bereits seit Langem besteht. Vereinfacht gesagt er- und umfasst die Lernkultur neben dem individuellen Lernen eines Menschen die Art der Interaktion mit den Lehrenden sowie die lernrelevanten Einflüsse in der Organisation. Bezogen auf die Berufsbildung bedeutet dies, dass nicht nur die individuelle Aneignung von Kompetenzen durch einen Lernenden für die Ausbildung als bedeutsam beurteilt wird, sondern zudem die Gestaltung der Interaktion mit dem Lehr- und Ausbildungspersonal sowie die für das Lernen (förderlichen oder hinderlichen) Rahmenbedingungen in den Lernorten Betrieb, Berufsfachschule und ggf. in überbetrieblichen Kursen.
Während die individuelle und interaktionale Dimension einer Lernkultur schon immer besondere Beachtung in der Berufsbildung fand, erweitert die besondere Hervorhebung der organisationalen Dimension des Lernorts die Perspektive. Mit dieser Dimension können unterschiedliche Einflussgrössen auf die Ausbildung angesprochen sein, zum Beispiel:
- Leitbilder oder informell geäusserte Erwartungen an das Lernverhalten der Mitarbeitenden;
- lernförderliche Organisationsstrukturen, z.B. durch die Gewährung von disponiblen Lernzeiten oder die Integration der Berufslernenden in herausfordernde Teams;
- ein lernorientiertes Führungsverhalten, z.B. mit der vorbildhaften Lernmotivation der Führungskräfte, der Gewährung von Verantwortungsspielräumen und konstruktivem Feedback im Umgang mit Fehlern.
Mit Blick auf diese Faktoren liesse sich sagen, dass Lernkulturen schon immer einen Teil der Berufsbildung darstellen. Man denke etwa an die Ursprünge der dualen Berufsausbildung in den mittelalterlichen Handwerkszünften: Die Lehrlinge lebten in der Familie des Meisters, passten sich in eine betriebliche Hierarchie ein und erwarben nicht nur die für das Handwerk wesentlichen Fertigkeiten, sondern auch die Einstellungen, Werte und den Habitus eines Handwerkers. Die Kultur von Lebens- und Lernort trug massgeblich zum Erlernen des Berufs und der Entwicklung der Persönlichkeit bei. Insofern sind Lernkulturen prinzipiell ein bekanntes Phänomen.
Wird das Leitbild des selbstverantwortlichen Lernenden und Mitarbeitenden auf den Führungsebenen geteilt?
Insofern sind es nicht die Lernkulturen, die neu sind, sondern eine spezifische Ausprägung von ihnen. Auch Autos gibt es schon seit langem, doch elektrogetriebene Autos sind neu. «Neue» Lernkulturen zeichnen sich auf der individuellen Ebene durch selbstwirksame Lernende aus, die ihr Lernen selbstverantwortlich und selbstorganisiert gestalten. Auf der interaktionalen Ebene wird dieses Lernverhalten durch das Bildungspersonal mit weichen Unterstützungsformen nach dem Pull-Prinzip und herausfordernden Aufgaben sowie prozessbezogenen Lernhilfen gefördert. Auf der organisationalen Ebene sind die Führungskräfte Vorbilder des angestrebten Lernverhaltens. Es bestehen für die Lernenden offene Kontakt- und Vernetzungswege und einfache Zugänge zu Wissensbeständen. Nicht der Besitz von Wissen, sondern der problembezogene Zugriff auf Information und Wissen leitet das Lernen an. Berufsbildung wird als Mittel zur Erreichung einer agilen, innovativen Unternehmung verstanden, in der die Berufslernenden darauf vorbereitet werden, sich nicht reaktiv den Vorgaben anzupassen, sondern proaktiv ihre Umwelt mitgestalten.
Es ist deutlich, dass diese Beschreibung zunächst eine Programmatik skizziert. Es ist eine anspruchsvolle Programmatik, deren Umsetzung Einstellungsveränderungen auf mehreren Organisationsebenen erfordert. Und es treten weitere Fragen hinzu: Ist die «neue» Lernkultur in allen Berufen und Arbeitsbereichen relevant? Trifft das Leitbild die Erwartungen aller Lernenden oder strebt ein Teil der Lernenden ein eher traditionelles Lernverhalten an, das durch rezeptives Lernen, vermittlungsorientiertes Lehren und hierarchische Führungsstrukturen gekennzeichnet ist? Wird das Leitbild des selbstverantwortlichen Lernenden und Mitarbeitenden auf den Führungsebenen geteilt?
Die Kolumne von Dieter Euler erschien zuerst in «Folio» des BCH.
Zitiervorschlag
Euler, D. (2024). Wenn das Neue nicht ganz neu ist: Lernkulturen in der Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9.