Berufsbildung in Forschung und Praxis
Herausgeberin SGAB Logo

Dieter Euler

Berufswahl: Wenn die Wünsche nicht zu den Möglichkeiten passen

Immer mehr Jugendliche machen erst mal ein Zwischenjahr, bevor sie in eine Lehre eintreten, und zwar unabhängig von konjunkturellen Schwankungen. Im Jahr 2000 waren dies 12.4% aller Lernenden im ersten Jahr einer Lehre, 2018 14,9%, und laut BFS-Prognosen dürften es 2029 15,6% sein. Was ist hier los? In seiner jüngsten Kolumne fragt Dieter Euler nach den Gründen und erörtert Lösungsmöglichkeiten. Aber er warnt: Nach Einschätzung der befragten Jugendlichen ist der Einfluss der Schule und eines guten Berufswahlunterrichts gegenüber dem von Eltern, Freunden und digitalen Medien auf den Berufswahlprozess recht gering.


Während auf der einen Seite viele Betriebe ihre Ausbildungsstellen nicht besetzen können, gelingt auf der anderen Seite einem Teil der Jugendlichen der Weg in eine berufliche Grundbildung nicht.

Ob IT-Spezialisten, Pflegepersonal oder Serviceangestellte, die Fachkräfte sind knapp in der Schweiz. Bis 2030 soll sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht entspannen, sondern in einigen Branchen sogar noch verschärfen. Umso wichtiger scheint es, dass alle Schulabgänger ohne Matura möglichst schnell den Weg in eine Berufslehre finden. An dieser Stelle hakt es jedoch immer häufiger. Während auf der einen Seite viele Betriebe ihre Ausbildungsstellen nicht besetzen können, gelingt auf der anderen Seite einem Teil der Jugendlichen der Weg in eine berufliche Grundbildung nicht. Angebot und Nachfrage passen auf dem Ausbildungsmarkt häufig nicht zusammen! Lehrstellen bleiben leer, die Jugendlichen suchen in einer Zwischenlösung nach neuen Brücken in eine Ausbildung.

Im Detail ist die Situation differenziert. Betroffen von den Besetzungsproblemen sind insbesondere als weniger attraktiv wahrgenommene Berufe, zudem unterscheidet sich die Lage je nach Region und Kanton. Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass die Jugendlichen durchaus kompromissbereit sind, wenn ein Wunschberuf für sie nicht erreichbar ist (Ahrens et al. 2021). Zugleich weisen die Analysen darauf hin, dass Ausbildungsabbrüche insbesondere dann wahrscheinlicher werden, wenn die Ausbildung in einem Beruf fern der beruflichen Aspirationen aufgenommen wurde.

Eine grosse Hoffnung zur Bewältigung der Passungsproblematik liegt auf der Berufsorientierung und dem Berufswahlunterricht in den Schulen. Ist diese Hoffnung berechtigt? Welchen Einfluss hat die Schule auf die Entwicklung einer Berufswahl bei ihren Schülern?

Berufsorientierung und -wahl sind ein Entwicklungsprozess, der schon früh beginnt. Kinder lernen bereits vor dem Schuleintritt, dass Berufe wichtige Rollen von Erwachsenen sind. Es entwickeln sich Phantasieberufe, andere Berufe werden im Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbst- und Geschlechtskonzepts ausgeschlossen. Soziale Herkunft, die Wahrnehmung von Wertschätzung und Status einzelner Berufe bei Eltern und Freunden, die Berufe der Eltern u.a.m. erhalten in der Berufsorientierung eine zunehmende Bedeutung. Mit diesen mehr oder weniger entwickelten Einstellungen und Umfeldeinflüssen treten die Schülerinnen und Schüler in den Berufswahlunterricht in der Sekundarstufe. Studien zeigen dabei, dass nach Einschätzung der befragten Jugendlichen der Einfluss der Schule gegenüber dem von Eltern, Freunden und digitalen Medien im Berufswahlprozess recht gering ist (Anders et al. 2023).

Wie ist angesichts der doch langwierigen und durch viele Akteure unterstützten Entwicklungsprozesse die fehlende Passung zwischen Wunsch und Möglichkeit bei vielen Jugendlichen zu erklären? Ein Erklärungsansatz besteht darin, dass sich das in dem Passungsproblem enthaltene Spannungsverhältnis von individuellem Interesse und Arbeitsmarktbedarfen im Berufswahlprozess bei vielen Jugendlichen letztlich nicht auflöst. Wunsch und Möglichkeiten sind zu weit voneinander entfernt, als dass es zu einer Passung kommt. Sie suchen lieber weiter und verschieben den Einstieg in die Berufslehre, als dass sie sich für eine aus ihrer Sicht unattraktive Lösung entscheiden.

Als Ziel von Berufsorientierung und Berufswahl wird häufig die Entwicklung einer «beruflichen Souveränität» verstanden (Anders et al. 2023, 55). Damit ist die Fähigkeit einer Person bezeichnet, ihren Beruf selbstbestimmt zu wählen und auszuüben. In diesem Prozess geht es für die jungen Menschen zum einen darum, ihre Interessen und Neigungen zu erkunden und sich diese bewusst zu machen. Zum anderen liegt ein Schwerpunkt darauf, diese Interessen auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen, Restriktionen zu erkennen und ggf. Alternativen zu erwägen. Ein Aspekt wird dabei auf die Erweiterung des Berufswahlspektrums gelegt, indem die Aufmerksamkeit auf solche Berufe gelegt wird, die für die Schülerinnen und Schüler bislang ausserhalb ihrer Wahrnehmung lagen.

Jugendliche machen bei der Berufswahl Kompromisse, aber nicht unbegrenzt. Als unattraktiv geltende Berufe haben es dabei schwer.

Jugendliche machen bei der Berufswahl Kompromisse, aber nicht unbegrenzt. Als unattraktiv geltende Berufe haben es dabei schwer, auf die Wunsch- oder Akzeptanzliste der Jugendlichen zu kommen. In diesem Prozess hat die Schule gegenüber dem persönlichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler und den digitalen Medien nur einen begrenzten Einfluss. Je besser die Berufsorientierung und -wahl gelingt, desto stabiler sind die Berufswünsche – und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche ohne Ausbildung in eine noch offene Ausbildungsstelle hinein «überredet» werden können.

Betriebe haben die Freiheit, Ausbildungsstellen anzubieten und über deren Besetzung zu entscheiden. – Jugendliche haben die Freiheit, sich für einen Beruf bzw. einen Betrieb zu entscheiden oder Angebote abzulehnen. Bringt der Markt die beiden Seiten nicht gut zusammen, dann sind neue Wege erforderlich. Aber dies ist ein neues Thema!

Literatur

Zitiervorschlag

Euler, D. (2023). Berufswahl: Wenn die Wünsche nicht zu den Möglichkeiten passen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(1).

Das vorliegende Werk ist urheberrechtlich geschützt. Erlaubt ist jegliche Nutzung ausser die kommerzielle Nutzung. Die Weitergabe unter der gleichen Lizenz ist möglich; sie erfordert die Nennung des Urhebers.