Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Bericht zur SGAB-EHB-Tagung «Raus aus der Genderfalle»

Berufswahl: alte Denkmuster aufbrechen

«Raus aus der Genderfalle» war das Thema der EHB-SGAB Tagung vom 22. November 2019, welche die Problematik der geschlechts(un)spezifischen Berufswahl und Karriere aus der Perspektive der Berufspraxis, Forschung und Bildungspolitik beleuchtete. Welche Strategien sind hilfreich, um in der Berufsbildung der Genderfalle zu entkommen? Darüber wurde in Referaten, einem Panelgespräch und Workshops diskutiert. Ein Ergebnis: Die Schweiz nimmt in Sachen Geschlechtersegregation international einen Spitzenplatz ein. Dafür mitverantwortlich, so die Forscherin Irene Kriesi, ist der Zeitpunkt der Berufswahl im dualen Bildungssystem. «Die Berufswahl findet in einer Lebensphase statt, in der es Jugendlichen besonders schwerfällt, sich über Geschlechtergrenzen hinwegzusetzen», so Kriesi.


Frauenberufe / Männerberufe – wie Berufswahl und Geschlecht zusammenhängen

Warum ist die geschlechtertypische Berufswahl überhaupt ein Problem? Sie schafft nicht nur Ungleichheit und Diskriminierung für Individuen, sondern führt letztlich zu einer Reduktion der gesellschaftlichen Wohlfahrt, erklärte Prof. Jürg Schweri des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung EHB im Auftaktreferat. Wenn nicht Interessen die Berufswahl steuern, sondern äussere Zwänge, führt dies zu einer tieferen Produktivität, so Schweri. Historisch gesehen hat die Segregation leicht abgenommen, die Entwicklung geht jedoch sehr langsam vonstatten und ist in den verschiedenen Berufsfeldern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Solche historischen Veränderungen zeigen, dass die Ursachen für die Geschlechtersegregation in der Berufswelt nicht ausschliesslich biologischer Natur sein können. Auch kulturelle Vorstellungen und die Sozialisation, die Kosten-Nutzen-Abwägung der Jugendlichen sowie die Struktur des Bildungssystems und des Arbeitsmarkts spielen eine Rolle, erläuterte Prof. Irene Kriesi des EHB. Die Schweiz nimmt in Sachen Geschlechtersegregation international einen Spitzenplatz ein. Dafür mitverantwortlich ist der Zeitpunkt der Berufswahl im dualen Bildungssystem. «Die Berufswahl findet in einer Lebensphase statt, in der es Jugendlichen besonders schwerfällt, sich über Geschlechtergrenzen hinwegzusetzen», so Kriesi.

Schulische Anforderungsprofile für die berufliche Grundbildung auf dem Prüfstand

Das Berufswahlspektrum ist bei Frauen viel enger gefasst, als bei Männern, zeigte Lic. Phil. Nadine Wenger der Universität Basel auf. Sie führt zusammen mit Nathalie Pfiffner ein Projekt durch, in dem schulische Anforderungsprofile für die Grundbildung auf Gendergerechtigkeit hin überprüft werden. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, letztlich sollen daraus jedoch Richtlinien für die Entwicklung der noch fehlenden sowie die Überarbeitung der bestehenden Beschreibungen der Arbeitssituationen abgeleitet werden, um der Geschlechtersegregation auf dieser Ebene künftig Einhalt zu gebieten.

Die Perspektive der Berufsberatung

Martin Ziltener von ask! vertrat an der Tagung die Berufsberatung. Die Tatsache, dass 55% der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Berufswahl noch unschlüssig sind, sieht er als grosse Chance, da noch viel bewegt werden kann. Ziltener weiss aus der Praxis, dass die Eltern als Hauptbeeinflusser unbedingt in den Berufswahlprozess einbezogen werden müssen. Oft wissen sie über die Berufsvielfalt nicht Bescheid und sind überfordert mit der Informationsflut. Daneben sind die Peers die grössten Beeinflusser bei der Berufswahl. Dies kann zum Vorteil genutzt werden, wie beispielsweise das Konzept «Rent a Stift» zeigt, in dem Lernende Schülerinnen und Schülern auf Augenhöhe informieren und aus der Praxis erzählen. Auch Berufsbildner/innen nehmen bei der Genderfrage eine Schlüsselfunktion ein und müssen stärker in die Thematik einbezogen werden, so Ziltener.

Lernende in geschlechtsatypischen Berufen

In stark geschlechtersegregierten Berufen ist der Fachkräftebedarf am grössten. Ein typischer Fall ist unter anderem das ICT-Berufsfeld, das mit einem Frauenanteil von 15% als Männerberuf gilt. Ein zentrales Anliegen von ICT-Berufsbildung Schweiz ist daher, den Frauenanteil zu erhöhen. Der Verband achtet stark auf eine adäquate Sprache in Text und Bild. So beispielsweise auch im neuen Kurzfilm zum Beruf Mediamatiker/in EFZ (Video ansehen). «Durch Diversität kann die Produktivität und Kreativität in Unternehmen signifikant verbessert werden», sagt Geschäftsführer Serge Frech im Podiumsgespräch. In Zukunft will sich der Verband auch stärker auf Eltern als Schlüsselfiguren im Berufswahlprozess konzentrieren. «Jugendliche lassen sich schneller von ihrem Berufswunsch abbringen, wenn sie sich für einen geschlechtsatypischen Beruf interessieren», so Frech.
Von ihren Erfahrungen in einem geschlechterunspezifischen Beruf erzählten Clelia Meneghin, Software Development Engineer bei Adobe und Basil Schluep, Lernender Fachmann Betreuung bei der Kindertagesstätte am Waldrand im Panelgespräch. Beide hatten sich nach einer Schnupperlehre für den jeweiligen Beruf entschieden, was insbesondere bei Kolleg/innen nicht immer auf Verständnis stiess. Beide hatten jedoch mit Kommentaren gerechnet und kamen gut damit zurecht. Dennoch erfordert es Mut, sich entgegen gesellschaftlichen Konventionen für einen Beruf zu entscheiden. Auch aus Sicht der Arbeitgebenden ist es nicht ganz einfach, die gängigen Muster zu durchbrechen, wie Nadia Lüdi, die Vorgesetzte von Basil Schluep erzählte. Kitas verlieren oft Kund/innen, wenn Männer im Betrieb arbeiten, obwohl eine männliche Bezugsperson im Alltag ein grosser Mehrwert sein kann. Dank transparenter Kommunikation und einem offenen Team wurde Basil Schluep bei den Kund/innen der Kita am Waldrand jedoch willkommen geheissen.

«Es braucht Sensibilisierung und veränderte Denk- und Handlungsmuster auf verschiedenen Stufen, um der Genderfalle entgegenzuwirken», brachte es Jean-Pierre Perdrizat, Direktor ad interim des EHB auf den Punkt. Veranstaltungen wie diese, die den Austausch fördern und die Problematik aus diversen Blickwinkeln erfassen, sind ein wichtiger Schritt, um Diversität zu fördern.

Zitiervorschlag

Marti, E. (2020). Berufswahl: alte Denkmuster aufbrechen. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(1).

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