Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Interview mit Rudolf Strahm, Buchautor

Das Drama akademischer Bildungsgänge

Auch wenn bereits viele eine Lehre machen: Die Berufsbildung muss weiter gestärkt werden. Rudolf Strahm hat mit einem Team ein neues Buch dazu verfasst. Er sagt: Viele Eltern und Jugendliche drängen ins Gymnasium, obwohl das gar keine bessere Karriere verspricht. Die duale Berufslehre habe zwei grosse Vorteile: Sie fördere nicht nur das schulisch-kognitive Wissen, sondern auch die praktische Intelligenz. Zudem verhindere die Berufsbildung Armut.


Rudolf Strahm, Oekonom und Spezialist in Bildungs- und Arbeitsmarktfragen: «Der Fachkräftemangel ist durch arbeitsmarktfremde Studienwahl hausgemacht.» Foto A.Boutellier

Rudolf Strahm, Sie setzen sich schon lange für die Berufsbildung ein. Warum glauben Sie, das sei noch immer nötig?

Der gesellschaftliche Druck in Richtung Gymnasium ist vor allem in den Städten gross. Das führt zu einer höheren Gymnasialquote zulasten der Berufslehre. Auf dem Land ist das anders: Hier haben die KMU-Chefs mit einer Lehre begonnen. Und man weiss: Auch auf diesem Weg kann man Karriere machen.

Aber die berufliche Grundbildung ist mit zwei Dritteln der Lernenden nach wie vor der dominante Bildungsweg. Die Gymnasien legten in den letzten vier Jahren nur um 1,4% zu.

Ein weiteres Wachstum der Gymnasialquote ist nicht erforderlich. Vielmehr braucht es eine bessere Ausrichtung auf den Fachkräftebedarf im Arbeitsmarkt. Wenn immer mehr Jugendliche ins Gymnasium gehen, gerät die Berufslehre in ein soziales Stigma. Dann gilt die Lehre als Weg für die Schwachen. Denn wenn sich talentierte Jugendliche von der beruflichen Bildung abwenden, bringt das die Firmen dazu, weniger (attraktive) Lehrstellen anzubieten. Das schwächt das ganze Berufsbildungssystem, ein Teufelskreis.

Was macht die Berufslehre besser als das Gymnasium?

Die duale Berufslehre hat zwei grosse Vorteile. Erstens fördert sie nicht nur das schulisch-kognitive Wissen, sondern auch die praktische Intelligenz. Dazu gehören handwerkliche Fertigkeiten und soziale Kompetenzen wie Selbstverantwortung oder Einsatzwille. Zweitens verhindert die Berufsbildung Armut. Länder mit einem berufsbildenden System haben eine signifikant tiefere Jugendarbeitslosigkeit. Berufslehren garantieren mehr Arbeitsmarktbefähigung.

Jeder vierte Lernende bricht die Lehre ab. Sieht so ein attraktives Bildungssystem aus?

Die Lehrabbruchquote ist verglichen mit der Zahl der Studienabbrecherinnen oder Studienwechsler an den Unis moderat.

Die meisten von diesen 16- bis 19-Jährigen setzen ihre Lehre in einem anderen Betrieb fort oder wechseln den Lehrberuf. Am Schluss fallen nur 5% ganz aus dem Ausbildungssystem. Zudem ist die Lehrabbruchquote verglichen mit der Zahl der Studienabbrecherinnen oder Studienwechsler an den Unis moderat: Nur rund 50 bis 60% der Jugendlichen, die ins Gymnasium eintreten, schaffen einen universitären Abschluss, wie der schweizerische Bildungsbericht vorrechnet. Der Rest entscheidet sich häufig, doch noch eine Berufslehre zu starten.

Sie erwähnten Kompetenzen, die man in einer Lehre erwirbt. In Ihrem Buch lese ich: «Exaktheit, Präzision, Zuverlässigkeit, Projektverantwortung sind Kompetenzen, die man aus dem Studium nicht unbedingt mitbringt.» Woher wollen Sie das wissen?

Das sind jene Schlüsselqualitäten, dank denen die Schweiz funktioniert! Ich kenne das berufliche und das akademische Bildungssystem und war in beiden selber als Dozent aktiv. Natürlich gibt es viele Studierende, die exakt arbeiten, zuverlässig sind und verantwortlich handeln. Aber diese Qualifikationen werden im akademischen Bologna-System nicht gezielt geübt. Man konzentriert sich auf das Sammeln von ECTS-Punkten. Zum manifesten Problem wird dieses Verhalten erst auf dem Arbeitsmarkt. Dieser bevorzugt Fachkräfte mit höherer Weiterbildung, die vorgängig eine Berufslehre durchlaufen oder in einem Betrieb praktisch gearbeitet haben.

Sie schreiben, dass der Fachkräftemangel durch arbeitsmarktfremde Studienwahl hausgemacht ist. Können Sie das erläutern?

Wir haben nicht generell zu wenige Akademiker. Wir haben aber zu wenige Ärztinnen, Informatiker, Ingenieurinnen und verwandte MINT-Berufe. Dieser Mangel ist zurückzuführen auf den Numerus clausus in der Medizin und auf das sprachlastige Gymnasium, wo drei von fünf Fallnoten Sprachfächer betreffen. Zu viele drängen dann in Wohlfühlfächer wie Psychologie oder die Geistes- und Sozialwissenschaften. Heute haben fünf Jahre nach Uni-Abschluss 28% der Diplomierten gemäss BFS-Hochschulabsolventenbefragung immer noch keine feste Anstellung. Viele hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, während andernorts Fachkräfte fehlen. Das ist für die Betroffenen enorm belastend.

Zwei von drei Jugendlichen mit Berufslehre machen nur den Lehrabschluss. In Zukunft braucht es aber Leute, die sich weiterbilden. Jugendliche mit schulischer Bildung tun das öfter.

Sie erfassen hier nur die Abschlüsse bis 25 Jahren. Aber jede vierte Person mit Berufsabschluss absolviert die Berufsmaturität, häufig mit nachfolgender Fachhochschule. Und Jahre später nach der Lehre absolviert ein Drittel berufsbegleitend eine höhere Berufsbildung oder eine andere Spezialisierung. Dies sind heute die begehrten mittleren Kader, Teamchefinnen und Techniker in der Privatwirtschaft. Bei diesen ist der Fachkräftemangel heute statistisch am grössten.

In Ihrem Buch machen Sie auch Vorschläge zur Reform der Berufsbildung. Welche sind am dringendsten?

In den Kantonen muss das Lehrplan-Fach «berufliche Orientierung» gestärkt werden – auch in der Lehrer-Ausbildung an den PH.

In den Kantonen muss das Lehrplan-Fach «berufliche Orientierung» gestärkt werden – auch in der Lehrer-Ausbildung an den PH. Zweitens sollte man den allgemeinbildenden Unterricht der beruflichen Grundbildung moderat ausbauen, um die Deutschkompetenzen und das Gesellschaftswissen der jungen Erwachsenen zu stärken. Drittens braucht es eine Aufwertung der Abschlüsse der höheren Berufsbildung mit dem Titel des «Professional Bachelor». Diese sind heute die begehrtesten Fachkräfte. Wer einen eidg. Fachausweis oder ein eidg. Diplom erwirbt, kann einen Lohnsprung von 2000 bis 3000 Franken im Monat erwarten. Deshalb ist heute der Einstieg in eine Berufslehre mit Weiterbildungen der Königsweg zur Berufskarriere.

Der vorliegende Beitrag erschien zuerst in Alpha, Tagesanzeiger.

Ea Eller, Rudolf H.Strahm, Jörg Wombacher: «Karriere mit Berufsbildung». Warum der  Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufsbildung am meisten begehrt.  hep Verlag 2023, 203 Seiten, CHF 29.– / e-Book CHF 21.–.

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2023). Das Drama akademischer Bildungsgänge. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(11).

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