Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Lerninstrumente für die Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen

Digitale Kompetenzen werden auch in der Pflege immer wichtiger

Im Projekt Digi-Care wurden in enger Zusammenarbeit mit Praxispartnerinnen und -partnern Lerninstrumente entwickelt, die in der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen eingesetzt werden sollen. Diese dienen der Weiterentwicklung digitaler Kompetenzen bei der Weitergabe und Dokumentation klinischer Patienteninformationen in der Pflege. Die Entwicklung der Lerninstrumente basiert auf einem arbeitsanalytischen Ansatz ausgehend von einer ethnographischen Studie. Diese beinhaltete Beobachtungen und Datenerhebungen vor Ort in Spitälern sowie die Analyse realer Situationen der Weitergabe klinischer Informationen mit digitalen Hilfsmitteln in der Pflege. Der vorliegende Artikel stellt die Lerninstrumente vor und beschreibt, wie sie entwickelt wurden.


Es ist wichtig, in der Aus- und Weiterbildung digitale Kompetenzen zu entwickeln und den Austausch bewährter Verfahren und wirksamer Lernmethoden zu fördern. Mit der Annahme der Motion Andri Silberschmidt bekräftigen die eidgenössischen Räte diese Sicht.

Gemäss einer Analyse von eHealth Suisse[1] ist der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen ein wichtiges Thema, da Gesundheitsfachpersonen zunehmend mit der Digitalisierung von Arbeitsprozessen konfrontiert sind. Die Digitalisierung hat erhebliche Auswirkungen auf die Weitergabe und den Austausch klinischer Patienteninformationen, die für die Gewährleistung der Kontinuität und der Qualität der Pflege von entscheidender Bedeutung sind. Daher ist es wichtig, in der Aus- und Weiterbildung digitale Kompetenzen zu entwickeln und den Austausch bewährter Verfahren und wirksamer Lernmethoden zu fördern. Mit der Annahme der Motion Andri Silberschmidt bekräftigen die eidgenössischen Räte diese Sicht.[2]

Im Projekt «Digitalisierung und Weitergabe klinischer Informationen in der Pflege: Implikationen und Perspektiven (Digi-Care)» wurden folgende Themen untersucht:

  1. der Einfluss der Verwendung digitaler Hilfsmittel und klinischer Informationssysteme auf die Weitergabe klinischer Informationen in der Pflege;
  2. die damit verbundenen Anforderungen an die digitale Kompetenz von Pflegefachpersonen.

Zu diesem Zweck wurden zwei Arten von Lerninstrumenten entwickelt: ein immersives und interaktives 360-Grad-Video zum Thema Dienstübergabe sowie sechs textbasierte Lernsituationen zu weiteren Schlüsselmomenten der digitalen Weitergabe klinischer Patienteninformationen.

Zum vorliegenden Projekt

Das Projekt Digi-Care ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 77 «Digitale Transformation» des Schweizerischen Nationalfonds. Es wurde von der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Medizininformatik der Berner Fachhochschule (BFH) durchgeführt. Am Projekt beteiligten sich Spitäler und Bildungsinstitutionen in der Deutschschweiz und im Tessin. Die Studie basiert auf dem frankophonen arbeitsanalytischen «cours d’action»-Ansatz. Dessen Grundannahme besteht darin, dass die Gestaltung von Lernumgebungen und -programmen auf einem detaillierten Verständnis der Praktiken und Anforderungen der realen Arbeit beruhen muss. Denn was getan werden sollte (die vorgeschriebene Arbeit) stimmt nicht überein mit und dem, was Fachpersonen effektiv tun (die eigentliche Arbeit) und in der beruflichen Realität wissen müssen.

Die Arbeitsanalyse ist ein wesentliches Instrument zur Untersuchung beruflicher Tätigkeiten und zur Ermittlung von Lernprozessen und Strategien zur Bewältigung unterschiedlicher Arbeitssituationen. Dabei wird eng mit Fachpersonen der untersuchten Arbeitsbereiche zusammengearbeitet. Das Forschungsprojekt sah einen solchen kollaborativen Ansatz vor, bei dem «die Forschungsgruppe sowohl für die Arbeitsanalyse als auch für die Entwicklung von Lerninstrumenten die Perspektive und das Wissen der beteiligten Fachpersonen berücksichtigt» (Salzmann et al., 2024).

Beobachtungen in den Spitalabteilungen

An der Studie beteiligten sich sechs Spitäler und vier Bildungsinstitutionen in der italienisch- und deutschsprachigen Schweiz. Diese Zusammenarbeit ermöglichte es, 24 Pflegefachpersonen während je drei Schichten (Früh- oder Spätdienst) zu beobachten und zu filmen (Job Shadowing). Die beteiligten Pflegefachpersonen wurden anschliessend gebeten, in sogenannten Autokonfrontationsinterviews Ausschnitte ihrer gefilmten Tätigkeit zur Weitergabe klinischer Patienteninformationen zu kommentieren, um ihre Perspektive einzubringen. Anschliessend ermittelte die Forschungsgruppe typische Situationen der digitalen Informationsweitergabe und diskutierte und validierte diese in Workshops mit Personen aus den beteiligten Spitälern und Bildungsinstitutionen. Diese Situationen bildeten die Grundlage für die Entwicklung der Lerninstrumente.

Schlüsselmomente der Weitergabe klinischer Patienteninformationen mit digitalen Hilfsmitteln

Für die Datenanalyse wurden die beobachteten und validierten Situationen detailliert beschrieben und in vier Hauptkategorien unterteilt:

  1. Austausch mit Patientinnen und Patienten
  2. intraprofessioneller Austausch (zwischen Pflegefachpersonen)
  3. interprofessioneller Austausch (mit Ärztepersonal und anderen Gesundheitsfachpersonen)
  4. Pflegedokumentation (Einlesen, Einfügen und Bearbeiten von Informationen im klinischen Informationssystem, asynchron zu den drei Kategorien des Austausches)

Innerhalb dieser Kategorien wurden Schlüsselmomente der digitalen Weitergabe klinischer Patienteninformationen identifiziert. Schlüsselmomente im intraprofessionellen Austausch sind beispielsweise die Dienstübergabe sowie der Eintritt, Übertritt und Austritt von Patientinnen und Patienten.

Entwicklung von Lerninstrumenten für die Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen

Auf der Grundlage der beobachteten und validierten Situationen wurden zwei Arten von Lerninstrumenten entwickelt: ein immersives und interaktives 360-Grad-Video zum Thema Dienstübergabe sowie sechs textbasierte Lernsituationen zu weiteren Schlüsselmomenten der Weitergabe klinischer Patienteninformationen.

Die Entwicklung des immersiven und interaktiven 360-Grad-Videos und der textbasierten Lernsituationen wurde von Personen aus den beteiligten Spitälern und Bildungseinrichtungen eng begleitet. In einem Abschlussworkshop pro Sprachregion hatten die Praxispartnerinnen und -partner die Möglichkeit, das 360-Grad-Video mit einer Virtual-Reality-(VR)-Brille anzuschauen und die textbasierten Lernsituationen kennen zu lernen und ihr Feedback dazu abzugeben.

Das interaktive 360-Grad-Video

Insbesondere die Betrachtung mit VR-Brille vermittelt den Nutzenden das Gefühl, sich in der Situation zu befinden.

Das immersive und interaktive 360-Grad-Video zum Thema Dienstübergabe basiert auf einer im Spital real beobachteten Situation, die von Schauspielerinnen und Schauspielern nachgestellt wurde. Die Szenen wurden mit einer omnidirektionalen Kamera aufgenommen, die gleichzeitige Aufnahmen in alle Richtungen ermöglicht. Die Nutzerinnen und Nutzer kontrollieren bei der Betrachtung des Videos über eine Computermaus (Desktop-Version) oder über eine VR-Brille, in welche Richtung sie schauen möchten. Insbesondere die Betrachtung mit VR-Brille vermittelt den Nutzenden das Gefühl, sich in der Situation zu befinden. Zudem beinhaltet das Video sogenannte interaktive Punkte, die Zugang zu zusätzlichen Inhalten wie Illustrationen und Lernaufgaben bieten und eine aktive Nutzerinteraktion ermöglichen.

Das Video ist in zwei Szenen gegliedert. Diese zeigen unterschiedliche Facetten der Informationsweitergabe mit digitalen Hilfsmitteln während einer Dienstübergabe zu Beginn der Spätschicht. Es reflektiert die Gepflogenheiten in der Pflegepraxis und beinhaltet einige Aspekte, die je nach Kontext von der vorgeschriebenen Praxis abweichen können, und die Studierenden zum Nachdenken anregen sollen. Die Inhalte der interaktiven Punkte dienen der Weiterentwicklung von digitalen Kompetenzen bei der Weitergabe und Dokumentation klinischer Patienteninformationen. Die Forschungsgruppe hat drei Arten von Aktivpunkten unterschieden:

  1. Zusätzliche Inhalte anschauen, wie Videos oder Bilder
  2. Fragen beantworten, die zur Reflexion anregen und
  3. Zusätzliche Inhalte anschauen und dazu Aufgaben lösen.

Beispielsweise zeigt der erste interaktive Punkt im Video einen Verlaufseintrag zu einem Patienten im klinischen Informationssystem, den die Pflegefachfrau zu Beginn der Dienstübergabe schreibt, während sie zuhört, was ihr Kollege zu einer anderen Patientin berichtet, für die sie im Spätdienst verantwortlich ist. Dieser interaktive Punkt soll die  Studierenden dazu anregen, den geeigneten Zeitpunkt für die Erfassung der elektronischen Pflegedokumentation zu erkennen, um den Informationsfluss in Echtzeit zu gewährleisten, Fehler zu minimieren und die Datentransparenz zu fördern.

Das 360-Grad-Video mit aktiver Nutzerinteraktion ist aktuell auf Anfrage über die Projektwebsite verfügbar; es steht auf Italienisch und Deutsch zur Verfügung. Ein Erklärvideo, ein Benutzerhandbuch und eine Übersicht über die interaktiven Punkte sind ebenfalls verfügbar.

Die textbasierten Lernsituationen

Für weitere Schlüsselmomente der Weitergabe klinischer Patienteninformationen – wie zum Beispiel die Medikamentengabe – wurden textbasierte Lernsituationen entwickelt.

Jede Lernsituation enthält zudem Beispiele für Lernaufgaben und situierte digitale Kompetenzen, die anhand der Lernsituation weiterentwickelt werden können.

Die textbasierten Lernsituationen bestehen aus einer Situationsbeschreibung, die auf den Beobachtungen in den Spitälern basiert. Die Situationsbeschreibungen sind mit Visualisierungen angereichert. So enthält die Lernsituation Medikamentengabe eine Darstellung der Vitalzeichenkontrolle und Medikamentengabe mithilfe des Smartphones. Jede Lernsituation enthält zudem Beispiele für Lernaufgaben und situierte digitale Kompetenzen, die anhand der Lernsituation weiterentwickelt werden können. Auch die textbasierten Lernsituationen sind keine best practice-Beispiele. Sie enthalten pflegerische Aspekte, die von der idealen Praxis abweichen und die in der Aus- und Weiterbildung didaktisch genutzt werden können.

Bewertung der entwickelten Lerninstrumente

Das 360-Grad-Video und die textbasierten Lernsituationen wurden in den Abschlussworkshops sowohl hinsichtlich Benutzerfreundlichkeit und realistische Darstellung als auch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Aus- und Weiterbildung positiv bewertet. Die textbasierten Lernsituationen wurden von einigen als zu lang und komplex empfunden. Es wurde vorgeschlagen, für mehr Situationen Videos oder sogar immersive 360-Grad-Videos zu erstellen.

Erprobung der Lerninstrumente in der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen

Die Erprobung des 360-Grad-Videos und der textbasierten Lernsituationen im Ausbildungskontext ist ein nächster wichtiger Schritt, den das Forschungsteam aktuell vorbereitet. Dazu soll ein methodisch-didaktisches Konzept erarbeitet werden, das interessierten Bildungsinstitutionen Pflege frei zur Verfügung gestellt wird. Die Ergebnisse der Erprobung werden zudem konkrete Informationen über die praktische Wirksamkeit der Lerninstrumente liefern.

[1] eHealth Suisse (2018). Strategie eHealth Schweiz 2.0 2018–2024. Bern: eHealth Suisse – Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen.
[2] Mit der Motion wird der Bundesrat beauftragt, dem Parlament eine Revision der Rechtsgrundlagen zu unterbreiten, damit in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Gesundheitsfachpersonen (Medizinal-, Psychologie- und Gesundheitsberufe) die in der Berufspraxis erforderlichen Kompetenzen im Bereich der digitalen Transformation gelehrt werden. Neben angemessenen Kenntnissen im Umgang mit digitalen Instrumenten sollen weitere damit verbundene Kompetenzen in den Bereichen interprofessionelle Zusammenarbeit, Kommunikation, Diagnostik, Monitoring von Patientinnen und Patienten und Wissensaneignung sichergestellt werden.
 

Literatur

Zitiervorschlag

Volpe, A. C., Salzmann, P., Amenduni, F., Löffel, K., & Blanc, G. (2024). Digitale Kompetenzen werden auch in der Pflege immer wichtiger. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(9).

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