Fachkräftemangel und Laufbahnentwicklung bei Fachpersonen Gesundheit und Betreuung
Durchgangsstation statt Traumberuf?
Rund 60% der Fachpersonen Gesundheit EFZ (FaGe) arbeiten rund vier Jahre nach Lehrabschluss in einem anderen Gesundheits- oder Sozialberuf. Vor allem der als gering wahrgenommene Handlungsspielraum, die fehlende Autonomie im Berufsalltag sowie der zu geringe Lohn sind ausschlaggebend für den Wechsel. Demgegenüber bleiben Fachpersonen Betreuung EFZ ihrem Beruf in den ersten Jahren nach dem Lehrabschluss mehrheitlich treu. Zwar fühlen sich in beiden Berufsgruppen über 80% der Befragten unterstützt und mit ihrem Beruf emotional verbunden. Im Gesundheitsbereich stellt sich aber die Frage, ob es gesellschaftlich wünschenswert ist, dass der Beruf FaGe für einen Grossteil der Fachkräfte eine Durchgangsstation ist.
Lediglich 42% der FaGe denken, dass sie im Sinne der Work-Life-Balance angenehme Arbeitsbedingungen haben werden.
Seit einigen Jahren wird in der Schwei Schweiz und in verschiedenen anderen Ländern ein Fachkräftemangel im Bereich Pflege und Betreuung verzeichnet, und es wird davon ausgegangen, dass sich die Situation noch verschärfen wird (z.B. BAG, 2013; Campbell et al., 2014; IWSB, 2016; Merçay et al., 2016). Um den steigenden Personalbedarf zu decken und gleichzeitig die Abhängigkeit von Quereinsteigenden und Fachkräften aus dem Ausland zu entschärfen, muss genügend Nachwuchs ausgebildet und dafür gesorgt werden, dass dieser im Beruf verbleibt und sich entsprechend weiterqualifiziert.
Vor diesem Hintergrund wurde in der Studie «Committed to the profession» (ProCom; Salzmann et al., 2016) die Laufbahnentwicklung von Fachfrauen/-männern Gesundheit (FaGe, n=265) und Betreuung (FaBe, n=268) EFZ in den Kantonen St.Gallen und Zürich rund vier Jahre nach Abschluss der beruflichen Grundbildung analysiert. Die Studie kommt zum Schluss, dass die emotionale Verbundenheit mit den Berufen gesamthaft hoch ist, die Mehrheit der FaGe, im Gegensatz zu den FaBe, vier Jahre nach der Zertifizierung bereits eine Tertiärausbildung – v.a. als Pflegefachfrau/-mann HF – abgeschlossen hat und dennoch rund 10% aller Fachkräfte beabsichtigen, längerfristig das Berufsfeld zu verlassen.
FaGe und FaBe: Begehrte Grundbildungen mit teilweise hohen Zugangsvoraussetzungen
Die beruflichen Grundbildungen FaGe und FaBe gehören zu den zehn am häufigsten gewählten Lehrberufen (SBFI, 2017). Die Beliebtheit zeigt sich auch in den Befunden der Längsschnittstudie LiSA1, an der ein Teil der bei ProCom befragten Fachkräfte bereits teilgenommen hatte. In LiSA (Berweger et al., 2013) wurden unter anderem 263 FaGe und 107 FaBe im Kanton St.Gallen während ihrer gesamten beruflichen Grundbildung mehrmals befragt. Rund 80% gaben zu Beginn des ersten Lehrjahres an, die Berufslehre in ihrem Wunschberuf zu absolvieren, und die meisten FaBe (80%, FaGe 27%) machten vorgängig ein meist einjähriges Praktikum im Lehrbetrieb. Nach der regulären Lehrzeit von drei Jahren schlossen rund 88% der Lernenden ihre Berufslehre erfolgreich ab. Die grosse Mehrheit äusserte sich rückblickend zufrieden mit der Ausbildung und gab an, dass sie die Ausbildung erneut wählen würde. Über 80% wussten gegen Ende der Berufslehre, wie es für sie nach dem Abschluss beruflich weitergeht. Die Mehrheit der FaGe hatte vor, eine Weiterbildung zu machen, bei den FaBe hingegen gaben die meisten an, erst einmal ein paar Jahre Berufserfahrung sammeln zu wollen.
Der Wunschberuf als Durchgangsstation oder Einbahnstrasse?
Rund jede zehnte Person gibt an, den Gesundheits- und Sozialbereich verlassen und in ein anderes Berufsfeld wechseln zu wollen.
Dass die Zukunftspläne auch tatsächlich umgesetzt werden, zeigen nun die Ergebnisse der Studie ProCom. Rund 90% der zum Zeitpunkt der Befragung erwerbstätigen FaBe blieben ihrem erlernten Beruf treu, rund 60% der FaGe hingegen arbeiten rund vier Jahre nach Lehrabschluss in einem anderen Gesundheits- oder Sozialberuf, gut zwei Drittel davon als diplomierte Pflegefachkräfte. Entsprechend hoch (56%) ist der Anteil an FaGe, die bereits einen Abschluss auf Tertiärstufe vorweisen können. Vor allem der als gering wahrgenommene Handlungsspielraum und die fehlende Autonomie im Berufsalltag waren ausschlaggebend für den Berufswechsel der FaGe innerhalb des Gesundheitsbereichs. Eine FaGe, die sich zur Pflegefachfrau weitergebildet hat, schrieb: «Ich wollte mehr Anerkennung und höheres Mitspracherecht. Ich wollte ‚wichtigere’ Arbeiten erledigen sowie Weisungsbefugnis haben und nicht mehr ‚nur’ Assistenz sein». Ein weiterer wichtiger Grund für den Berufswechsel war der als zu gering eingeschätzte Lohn. Bei den ehemaligen FaBe hat «nur» rund jede fünfte Fachkraft bereits eine Tertiärausbildung abgeschlossen, v.a. im Bereich Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Zum Zeitpunkt der Befragung sind 21% der FaBe in einer Aus- und Weiterbildung (FaGe 28%), mehrheitlich auf Tertiärstufe B und ausschliesslich im Sozial- und Gesundheitsbereich. Während die Ausbildung zur FaGe folglich eher eine Durchgangsstation zu spezialisierten Berufen zu sein scheint, bleiben FaBe ihrem Beruf in den ersten Jahren nach dem Lehrabschluss mehrheitlich treu.
Jede zehnte Fachperson denkt an einen Wechsel
Rund vier Jahre nach Abschluss der beruflichen Grundbildung hat nur ein kleiner Teil der Befragten (rund 3%) den Gesundheits- und Sozialbereich verlassen und arbeitet in einem anderen Berufsfeld (z.B. Verkauf, Gastgewerbe). Die Fachkräfte, die im Berufsfeld geblieben sind, beschreiben ihre berufliche Situation im Durchschnitt eher positiv. In beiden Berufsgruppen fühlen sich über 80% der Befragten unterstützt und mit ihrem Beruf emotional verbunden. Gefühle der emotionalen Erschöpfung sind zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt eher niedrig und werden von 7% berichtet.
Fachpersonen Gesundheit schätzen die Entwicklungs-Möglichkeiten im Berufsfeld signifikant positiver ein als Fachpersonen Betreuung. Bei den Arbeitsbedingungen ist es gerade umgekehrt.
Signifikante Unterschiede zwischen den Berufsgruppen zeigen sich hinsichtlich der Erwartungen an die Zukunft im Gesundheits- und Sozialbereich, dies sowohl im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen als auch im Hinblick auf die Entwicklungsmöglichkeiten im Berufsfeld. Letztere schätzen FaGe signifikant positiver ein als FaBe, bei den Arbeitsbedingungen ist es gerade umgekehrt. Lediglich 42% der FaGe denken, dass sie im Sinne der Work-Life-Balance angenehme Arbeitsbedingungen haben werden. 22% der FaBe erwarten, dass sie in ihrem Berufsfeld (eher) keine guten Möglichkeiten haben werden, beispielsweise ihr Fachwissen und ihre Fähigkeiten laufend weiterzuentwickeln. Die berufliche Selbstwirksamkeit ist in beiden Berufsgruppen im Durchschnitt (eher) hoch; die grosse Mehrheit der Befragten traut sich zu, neue Herausforderungen aktiv, durch kompetentes Handeln zu bewältigen.
All diese Aspekte haben gemäss der sozial-kognitiven Laufbahntheorie (SCCT, Lent et al., 1994, 2000) einen (in-)direkten Einfluss auf das Laufbahnverhalten bzw. auf die Entscheidung, im Berufsfeld zu bleiben oder dieses zu verlassen. Trotz der mehrheitlich positiven Einschätzung der aktuellen beruflichen Situation und der im Durchschnitt eher positiven Zukunftserwartungen der befragten Fachkräfte, gibt rund jede zehnte Person an, den Gesundheits- und Sozialbereich verlassen und in ein anderes Berufsfeld wechseln zu wollen. Werden die Berufsgruppen separat betrachtet, so zeichnet sich dies bei den FaBe in grösserem Ausmass ab als bei den FaGe (12% vs. 8%). Die Ergebnisse der ProCom-Studie zeigen, dass diese Absicht am stärksten mit der emotionalen Verbundenheit mit dem Beruf zusammenhängt.
Berufslaufbahnen von FaGe und FaBe – Fazit und Folgerungen
Die Resultate der ProCom-Studie zeigen, dass sich Personen, die Autonomie-Unterstützung durch Vorgesetze erleben, weniger erschöpft fühlen.
Mit Blick auf den eingangs erwähnten Fachkräftemangel zeichnen die berichteten Befunde eine tendenziell positive Ausgangslage. So ist vier Jahre nach Abschluss der beruflichen Grundbildung die grosse Mehrheit der FaGe und FaBe noch im Gesundheits- und Sozialbereich tätig. Allerdings arbeiten rund 60% der FaGe bereits nicht mehr im erlernten Beruf, bei den FaBe sind dies weniger als 10%. In beiden Berufsgruppen dürften diese Anteile in Zukunft noch deutlich steigen, da rund ein Viertel der Fachkräfte eine Ausbildung auf Tertiärstufe B absolviert. Im Gesundheitsbereich stellt sich die Frage, ob es gesellschaftlich wünschenswert ist, dass der Beruf FaGe für einen Grossteil der Fachkräfte eine Durchgangsstation ist, zumal die als eingeschränkt wahrgenommene Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen als wichtiger Grund für den Berufswechsel angegeben wurde. Im Sozialbereich drängt sich die Frage auf, weshalb die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für FaBe eine vergleichsweise deutlich geringere Attraktivität aufweisen, und wie sich dies auf den weiteren Verbleib im Berufsfeld auswirken wird. Eine bedeutsame Abwanderung ausgebildeter Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Sozialbereich hat vier Jahre nach Lehrabschluss zwar noch nicht stattgefunden, dürfte gemäss vorliegender Befunde jedoch mittelfristig und im Sozialbereich im höheren Ausmass zum Thema werden.
Die Absicht, das Berufsfeld zu verlassen, steht in Zusammenhang mit der erlebten Unterstützung, den Erwartungen an die eigene Selbstwirksamkeit und an die Zukunft im Gesundheits- und Sozialbereich, der emotionalen Erschöpfung sowie der Verbundenheit mit dem Beruf. Letztere zeigt mit Abstand den grössten Zusammenhang mit der Absicht eines Berufsfeldwechsels. Es gilt deshalb zu überlegen, wie die emotionale Verbundenheit mit dem Beruf gestärkt und dazu beigetragen werden kann, dass Fachkräfte ihren Beruf als bedeutungsvoll wahrnehmen. Ergebnisse aus der LiSA-Studie (Salzmann et al., 2017) zeigen, dass eine gute Passung zwischen Person und Lehrberuf sowie das Erleben von Kompetenz in der Ausbildung einen wichtigen Beitrag zur emotionalen Verbundenheit von Lernenden mit ihrem Beruf leisten. Die ProCom-Studie liefert Hinweise, dass das Kompetenzerleben sowie Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme auch später im Berufalltag bedeutsam sind, damit die Berufe FaGe und FaBe längerfristig attraktiv bleiben.
Im Hinblick auf die emotionale Erschöpfung gilt es die bei einigen bereits vorhandenen Warnzeichen frühzeitig wahrzunehmen und die Fachkräfte so zu stärken, dass sie in ihrem Beruf nicht ausbrennen. Die Resultate der ProCom-Studie zeigen, dass sich Personen, die Autonomieunterstützung durch Vorgesetze erleben, weniger erschöpft fühlen. Auch dürften sich Arbeitsbedingungen, die den Fachkräften die Vereinbarkeit von Beruf und privaten sowie familiären Verpflichtungen erleichtern, positiv auf die Gesundheit als auch die Verbleibsmotivation auswirken.
Studie EHB und OdASanté: Ähnliche Ergebnisse
Auch die kürzlich in Bern präsentierte vom OBS EHB und der OdASanté durchgeführte Laufbahnstudie FaGe zeigt, dass die Mehrheit der FaGe fünf Jahre nach Abschluss der beruflichen Grundbildung bereits in einem anderen Gesundheitsberuf arbeitet. Diese Studie kommt zum Schluss, dass rund ein Fünftel der Fachkräfte die Gesundheitsbranche ganz verlassen hat, wobei Berufe im Sozialbereich oder im Bildungswesen die beliebtesten Ziele der Aussteigerinnen und Aussteiger sind. Die Zahlen zu den Ausgestiegenen der beiden Studien sind jedoch nur bedingt vergleichbar, da die Kategorie der Aussteiger/innen unterschiedlich definiert wurde.
Die Studie wurde von der Stiftung Suzanne und Hans Biäsch zur Förderung der Angewandten Psychologie und vom Bundesamt für Gesundheit, Abteilung Gesundheitsberufe, mitfinanziert.
1 LiSA = Lernende im Spannungsfeld von Ausbildungserwartungen, Ausbildungsrealität und erfolgreicher Erstausbildung.Literatur
- BAG = Bundesamt für Gesundheit (2013). Bericht Gesundheit2020. Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates.
- Berweger, S., Krattenmacher, S., Salzmann, P. & Schönenberger, S. (2013). LiSA – Lernende im Spannungsfeld von Ausbildungserwartungen, Ausbildungsrealität und erfolgreicher Erstausbildung. Projektbericht. Pädagogische Hochschule St.Gallen.
- Campbell, J., Dussault, G., Buchan, J., Pozo-Martin, F., Guerra Arias, M., Leone, C., Siyam, A., & Cometto, G. (2013). A universal truth: No health without a workforce. Forum Report, Third Global Forum on Human Resources for Health, Recife, Brazil. Geneva, Global Health Workforce Alliance and World Health Organization, 2013.
- IWSB = Institut für Wirtschaftsstudien Basel (2016). Fachkräfte- und Bildungsbedarf für soziale Berufe in ausgewählten Arbeitsfeldern des Sozialbereichs. Olten: SAVOIRSOCIAL.
- Lent, R. W., Brown, S. D., & Hackett, G. (1994). Toward a Unifying Social Cognitive Theory of Career and Academic Interest, Choice, and Performance. Journal of Vocational Behavior, 45(1), 79-122. doi:10.1006/jvbe.1994.1027
- Lent, R. W., Brown, S. D., & Hackett, G. (2000). Contextual supports and barriers to career choice: A social cognitive analysis. Journal of Counseling Psychology, 47(1), 36-49.
- Merçay, C., Burla, L. & Widmer, M. (2016). Gesundheitspersonal in der Schweiz. Bestandesaufnahme und Prognosen bis 2030 (Obsan Bericht 71). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
- Salzmann, P., Berweger, S. & Ark K., T. (2017). Apprentices’ affective occupational commitment during vocational education and training: A latent growth curve analysis. Journal of Career Development. Prepublished January, 1, 2017.
- Salzmann, P., Berweger, S., & Bührer, Z. (2016). ProCom: Committed to the profession – Berufslaufbahnen von Fachkräften im Bereich Pflege und Betreuung. Wissenschaftlicher Schlussbericht. Pädagogische Hochschule St. Gallen.
- SBFI = Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (2017). Berufsbildung in der Schweiz. Fakten und Zahlen 2017. Bern: SBFI.
Zitiervorschlag
Berwerger, S., Salzmann, P., & Bührer, Z. (2017). Durchgangsstation statt Traumberuf?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(3).