Lehrvertragsauflösung in der zweijährigen beruflichen Grundbildung
Ein Problem geringer Passung?
Bei einer Lehrvertragsauflösung (LVA) kommt es zu einer vorzeitigen Beendigung eines Lehrverhältnisses im gegenseitigen Einvernehmen oder auf Wunsch einer Vertragspartei. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die LVA in der zweijährigen beruflichen Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) und geht der Frage nach, wie es um die Passung zwischen Angebot und Zielgruppe steht. Die beiden häufigsten Gründen für eine Lehrvertragsauflösung sind gesundheitliche Probleme und eine wenig optimale Berufswahl (Notlösung).
Ein Blick auf die Bildungsverläufe der Eintrittskohorte 2018 zeigt eine Lehrvertragsauflösungs-Quote (LVA) von 24% bei den Grundbildungen mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ), bei denjenigen mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) liegt diese mit 26% etwas höher (Bundesamt für Statistik [BFS], 2023). Der vorliegende Beitrag[1] beleuchtet Lehrvertragsauflösungen ausgehend von einer Längsschnittstudie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) und der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) zur Situation von Lernenden und zur Bewältigung von Übergängen im niederschwelligen Ausbildungsbereich (Hofmann et al., 2020).
Die wahrgenommene Passung zwischen den Interessen, Werten, Bedürfnissen und Kompetenzen eines Individuums und den Anforderungen einer Ausbildung (Neuenschwander, 2014) entwickelt sich bereits vor Ausbildungsantritt. Sie beeinflusst insbesondere den Anpassungsprozess, den Umgang mit Aufgaben, die Gesundheit, die soziale Integration, das berufliche Engagement (Nägele & Neuenschwander, 2014), aber auch das Risiko einer LVA (Stalder & Schmid, 2016).
Um herauszufinden, wie weit LVA einer geringen oder fehlenden Passung zwischen Angebot und Zielgruppe geschuldet sind, wurden die aus qualitativen und quantitativen Daten abgeleiteten Frühindikatoren und Gründe für LVA beleuchtet. Darauf basierend können Massnahmen zur Vorbeugung von LVA identifiziert werden.
Methodischer Rahmen
Dieser Beitrag stützt sich auf qualitative und quantitative Daten.
Die Frühindikatoren einer Lehrvertragsauflösung wurden ermittelt, indem die Teilnehmenden einer Erhebung mittels Fragebogen in zwei Gruppen eingeteilt wurden. Die erste Gruppe umfasst jene Personen, die den Fragebogen zu Beginn (Zeitpunkt T1) und am Ende (Zeitpunkt T2) der Ausbildung ausfüllten (= die Verbliebenen), die andere Gruppe jene, die zum Zeitpunkt T2 fehlten und mutmasslich eine LVA hinter sich hatten (= die Ausgeschiedenen). Zum Zeitpunkt T1 (Oktober 2016) wurden 628 Jugendliche (62.4% männlich, 37.6% weiblich) aus vier verschiedenen Branchen (Gastgewerbe, Hauswirtschaft, Bau, Holzbearbeitung) und neun Kantonen (ZH, BE, SG, LU, SO, ZG, GE, VD, FR) befragt. Zum Zeitpunkt T2 (Mai 2018) waren es noch 494 Lernende. 134 Personen (21.3%) waren zwischen T1 und T2 aufgrund einer LVA ausgeschieden (= die Ausgeschiedenen), wobei jene, die bei der zweiten Befragung krank oder abwesend waren, nicht dieser Gruppe zugeordnet wurden.
Der Vergleich zwischen den Gruppen stützte sich auf verschiedene Indikatoren für die wahrgenommene Passung des Angebots, die zum Zeitpunkt T1 ermittelt wurden und die Ausbildungssituation (Stress und Leistung, Beziehungen am Arbeitsplatz und in der Berufsfachschule, Ausbildungsbedingungen), die Berufswahl und die persönlichen Voraussetzungen (z.B. gesundheitliche Situation/Depressivität) betrafen.
Die Gründe für eine LVA wurden aus der thematischen Analyse der leitfadengestützten Interviews abgeleitet. Da es sich als schwierig erwies, innerhalb der Umfragepopulation Freiwillige zu finden, wurde die Stichprobe auf andere Branchen ausgeweitet und schliesslich wurden 31 Personen (17 männlich, 14 weiblich) befragt. Für die LVA wurden verschiedene Gründe genannt: Ausbildungssituation (Leistung, Beziehungen, Arbeits- und Ausbildungsbedingungen), Berufswahl, persönliche Situation (Gesundheit) und äussere Umstände.
Die Analyse im Mixed-Methods-Ansatz verglich die beiden Ergebnisse der beiden Teilstudien und ermöglichte es, die Frühindikatoren für ein LVA-Risiko und die Gründe für eine LVA miteinander zu verknüpfen.
Wie wirkt sich die wahrgenommene Passung auf das LVA-Risiko aus?
Um die Hypothese zu prüfen, dass die Passung in der Gruppe der Ausgeschiedenen geringer ist als in der Gruppe der Verbliebenen, wurden die beiden Gruppen anhand verschiedener Indikatoren miteinander verglichen.. Die im Folgenden berichteten Ergebnisse sind statistisch signifikant.
In Bezug auf Stress und selbsteingeschätzte Leistung zeigt die Untersuchung keinen Unterschied zwischen den Ausgeschiedenen und den Verbliebenen. Letztere schätzen allerdings ihre schulischen Leistungen (Allgemeinbildung und Berufskunde) höher ein.
Die Verbliebenen bewerten die Beziehungen am Arbeitsplatz und in der Schule positiver als die Ausgeschiedenen und scheinen insbesondere mit den Kompetenzen der betrieblichen Berufsbildner/innen und der von ihnen geleisteten Unterstützung zufriedener. Überdies fühlen sich die Verbliebenen mit ihrem Betrieb stärker verbunden. In Bezug auf die Unterstützung durch Berufsfachschullehrpersonen decken sich die Wahrnehmungen der beiden Gruppen.
Die Ausbildungsbedingungen, insbesondere die Vielseitigkeit der Aufgaben im Betrieb, wurden von den Verbliebenen positiver beurteilt als von den Ausgeschiedenen. Überdies zeigen sich Erstere insgesamt zufriedener mit der schulischen und betrieblichen Situation.
In Bezug auf die Berufswahl beurteilten die Verbliebenen die Unterstützung von Lehrpersonen der obligatorischen Schule und den Eltern besser als die Ausgeschiedenen. Bei der Unterstützung durch die Berufsberater/innen und beim Wissen über den Beruf und den Lehrbetrieb zeigt sich dieser Unterschied jedoch nicht. Die Passung zwischen den eigenen Interessen und Fähigkeiten und dem gewählten Lehrberuf wird überdies schon zu Ausbildungsbeginn von den Verbliebenen positiver bewertet als von den Ausgeschiedenen.
Schliesslich zeigt der Blick auf die persönlichen Voraussetzungen, dass Anzeichen für Depressivität in der Gruppe der Ausgeschiedenen häufiger vorkommen als bei den Verbliebenen.
Bei einer logistischen Regressionsanalyse kristallisierten sich die Kompetenzen und die Unterstützung durch die betrieblichen Berufsbildner/innen (Indikator «Beziehungen im Betrieb und der Berufsfachschule») unter Kontrolle der anderen Variablen als der entscheidende und signifikante Faktor heraus. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e Lernende/r die Ausbildung abschliesst, war fast doppelt so hoch, wenn dieser Indikator bei der ersten Befragung (T1) positiv bewertet wurde.
Angegebene Gründe für eine LVA
Die Gründe für eine LVA wurden aus den leitfadengestützten Interviews abgeleitet und in verschiedene Kategorien eingeteilt (Lamamra & Masdonati, 2009):
- Der Kategorie schwache Leistungen werden Probleme in der Berufsfachschule (ungenügende Noten, Probleme in Sprache und Mathematik, kognitive Probleme) und im Lehrbetrieb (negative Feedbacks) zugeordnet.
- In die Kategorie Beziehungen fallen Probleme mit dem Arbeitgeber, dem/der betriebliche/n Berufsbildende/r, Arbeitskolleginnen/-kollegen und Kunden in Form von Konflikten, fehlender Unterstützung und Diskriminierung.
- Der Kategorie Arbeitsbedingungen werden formale Bedingungen im Betrieb (Arbeitszeiten, Überstunden), beschwerliche/schwierige Arbeiten sowie Arbeitsdruck (Zeitmangel, Stress) zugeordnet.
- In die Kategorie Ausbildungsbedingungen fallen die pädagogische Gestaltung der Ausbildung, die Kompetenzen und das Engagement der Berufsbildner/innen.
- Den äusseren Umständen zugeordnet werden Gründe, die über den reinen Ausbildungskontext hinausgehen (Konkurs des Lehrbetriebs), oder Prioritäten in anderen Lebensbereichen (Familie).
- Die Kategorie Berufswahl vereint Gründe, die mit dem Prozess zu tun haben, der zur Berufs-/Ausbildungswahl führte. Hier sind insbesondere die Notlösung (Wahl wenn keine andere Möglichkeit passt) und das Gefühl einer fremdbestimmten Berufswahl massgeblich.
- Der Kategorie Gesundheit werden körperliche und mentale Probleme (Depression, Isolation, Angst) zugeordnet. Waren Jugendliche schon vor Ausbildungsbeginn anfällig für Probleme, verstärken sich diese oft während der Ausbildung, andere kämpfen wegen der Ausbildung mit gesundheitlichen Problemen. Folgen davon sind u. a. Absentismus und schwache Leistungen.
Die Notlösung (Beruf und Bildungsgang) und die Gesundheit fallen in dieser Population als markante und bisher kaum beschriebene Gründe für eine LVA auf.
Bei der Analyse der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gründen kristallisieren sich zwei Problemkonstellationen heraus. Die erste wurde bereits im Zusammenhang mit den EFZ-Ausbildungen identifiziert (Lamamra & Masdonati, 2009) und vereint Arbeitsbedingungen, Ausbildungsbedingungen und Beziehungen. Hier zeigt sich, wie wichtig die Beziehungsebene in der Berufsausbildung ist. Die zweite Konstellation umfasst die Elemente Gesundheit, Leistungen und Berufswahl und ist typisch für die hier untersuchte Population. Sie betont die wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Dimensionen: Schlechte schulische Leistungen und gesundheitliche Probleme können die Berufs-/Ausbildungswahl in bestimmte Bahnen lenken, diese Wahl wiederum kann aber ebenso die Leistungen und die Gesundheit beeinträchtigen (Bosset et al., 2020).
Passung als wichtiger Erfolgsfaktor
Die Analysen machen den Zusammenhang zwischen geringer Passung und LVA deutlich.
Es wurden fünf Typenpaare geringe Passung identifiziert:
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- Geringe Passung zwischen den Interessen der Jugendlichen und dem Beruf: Insgesamt ergibt die quantitative Untersuchung, dass die Ausgeschiedenen die Passung von Anfang an schlechter bewerten. Die qualitative Analyse verdeutlicht die Häufigkeit von schwierigen Berufswahlprozessen: wahrgenommene Dringlichkeit (schnell eine Lehrstelle finden), wenige Chancen, eingeschränkte Wahlfreiheit in Bezug auf Beruf/Bildungsgang, wenig Selbstbestimmung.
- Geringe Passung zwischen den Kompetenzen der Jugendlichen und den Ausbildungsanforderungen: Die quantitativen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verbliebenen ihre schulischen Leistungen zu Ausbildungsbeginn höher einstufen als die Ausgeschiedenen. Die qualitativen Resultate verdeutlichen diese Probleme: ungenügende Grundkompetenzen in Sprache und Mathematik, kognitive Probleme (Konzentration, Verständnis, Gedächtnis) und Probleme beim Wechsel zwischen Berufsfachschule und Lehrbetrieb.
- Geringe Passung zwischen dem Unterstützungsbedarf der Jugendlichen und den Ausbildungsbedingungen: Die quantitativen Resultate machen deutlich, wie wichtig die Unterstützung durch die Berufsbildner/innen und die entsprechenden Kompetenzen schon ab Ausbildungsbeginn sind. Die qualitative Untersuchung legt denselben Schluss nahe und betont überdies den Stellenwert der Beziehungsebene.
- Geringe Passung zwischen dem Bedürfnis nach Identifikation mit der gewählten Ausbildung und der gesellschaftlichen Anerkennung der zweijährigen Berufsbildung: Die EBA-Ausbildung wurde bewusst niederschwellig und einfacher gestaltet als die EFZ-Ausbildung, die aber nach wie vor die Referenz bleibt. Die EBA-Ausbildung geniesst innerhalb des Berufsbildungssystems weniger Anerkennung. Viele Jugendliche fühlen sich dementsprechend stigmatisiert und haben Mühe, zu ihrem Bildungsweg zu stehen, insbesondere in ihrem Umfeld.
- Geringe Passung zwischen dem Gesundheitszustand der Jugendlichen und den Ausbildungsanforderungen: Die zweijährige Ausbildung richtet sich an eine verletzliche Zielgruppe, die häufig mit gesundheitlichen Problemen kämpft. Werden diese Probleme bei der Festlegung der Ausbildungsanforderungen nicht berücksichtigt, stellt dies die gesamte Berufswahl in Frage. Gesundheitliche Probleme können auch während der Lehre auftreten und betreffen insbesondere die psychische Gesundheit (Depressivität, Erschöpfung). Sie können also sowohl Grund für als auch Folge einer LVA sein.
Offene Fragen und Schlussfolgerungen
Die methodisch kombinierte Analyse trägt zu einem besseren Verständnis der zweijährigen beruflichen Grundbildung bei. Sie liefert insbesondere Erkenntnisse zu den zwei häufigsten Gründen für eine LVA (Notlösung und gesundheitliche Probleme), zu einer spezifischen Problemkonstellation (Gesundheit, Leistungen und Berufswahl) und zu den zwei bisher wenig genannten Problemen der mangelnden Selbstbestimmung und der wahrgenommenen Stigmatisierung.
Sie bestätigt somit den Zusammenhang zwischen geringer Passung und LVA. Eine gute Passung bei Ausbildungsbeginn ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Ausbildung zu Ende geführt wird. Indirekt gefährden die Notlösung und die fehlende Selbstbestimmung diese Passung und wirken sich somit negativ auf die Motivation und das Engagement der Jugendlichen aus. Die Passung ist zudem multidimensional und umfasst die Kompetenzen der Jugendlichen, ihren Gesundheitszustand und ihre Identifikation mit dem Bildungsgang ebenso wie die Kompetenzen der betrieblichen Berufsbildner/innen und die Beziehungen der Jugendlichen am Arbeitsplatz und in der Schule.
Aus den Ergebnissen lassen sich drei Massnahmen zur Vorbeugung von LVA ableiten:
- Stärkung der Selbstbestimmung der Jugendlichen im Berufswahlprozess: Hier gilt es, die Motivation der Jugendlichen besser zu berücksichtigen und mit ihnen über ihre Vorstellungen zu sprechen, sie stärker in die Berufswahl einzubinden und die Unterstützung durch Eltern und Lehrpersonen zu verstärken.
- Anerkennung der zentralen Rolle der Berufsbildungsverantwortlichen bei der Vorbeugung von LVA: Insbesondere gilt es, Berufsbildungsverantwortliche so zu schulen, dass sie psychosoziale Risiken erkennen und mit schwierigen Situationen umgehen können, und diese Kompetenzen auch entsprechend zu würdigen.
- Erhöhung der Anerkennung der EBA-Bildung unter Einbezug aller Berufsbildungsakteure. Dabei müssen auch der Zweck der EBA-Bildung und die heterogenen und komplexen Bedürfnisse deren Zielgruppe bedacht werden.
[1] Der Beitrag übernimmt die Hauptelemente von Bosset et al. (2022).
Literatur
- BFS (2023). Lehrvertragsauflösungen, Wiedereinstiege, Zertifikationsstatus – Ergebnisse zur dualen beruflichen Grundbildung (EBA und EFZ). Bundesamt für Statistik.
- Bosset, I., Duc, B. & Lamamra, N. (2020). La formation professionnelle en Suisse : des limites révélées par les résiliations de contrat d’apprentissage. Formation Emploi, 149, S. 39-60.
- Bosset, I., Hofmann, C., Duc, B., Lamamra, N. & Krauss, A. (2022). Premature interruption of training in Swiss 2-year apprenticeship through the lens of fit. Swiss Journal of Educational Research, 44(2), 277-290.
- Hofmann, C., Häfeli, K., Krauss, A., Müller, X., Duc, B. & Lamamra, N. (2020). Situation der Lernenden und Bewältigung von Übergängen im niederschwelligen Ausbildungsbereich (LUNA). Schlussbericht. Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik und Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB.
- Lamamra, N. & Masdonati, J. (2009). Arrêter une formation professionnelle : mots et maux d’apprenti-e-s.
- Nägele, C. & Neuenschwander, M. P. (2014). Adjustment processes and fit perceptions as predictors of organizational commitment and occupational commitment of young workers. Journal of Vocational Behavior, 85(3), S. 385–393.
- Neuenschwander, M. P. (2014). Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Arbeitsmarkt im Vergleich. In M. P. Neuenschwander (Hrsg.). Selektion in Schule und Arbeitsmarkt (S. 63–97). Rüegger Verlag.
- Stalder, B. E. & Schmid, E. (2016). Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg – kein Widerspruch. Wege und Umwege zum Berufsabschluss. hep.
Zitiervorschlag
Duc, B., Bosset, I., Hofmann, C., & Lamamra, N. (2024). Ein Problem geringer Passung?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(11).