Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Warum Jugendliche keinen nachobligatorischen Bildungsabschluss erreichen

Elterliche Zuwendung schützt vor Dropout

Eltern, die sich ihren Kindern nicht genügend zuwenden, gefährden deren Bildungserfolg. Dies zeigt die vorliegende Studie, die nach Erklärungen suchte, warum gewisse Jugendliche nach der obligatorischen Schule keinen Berufsbildungsabschluss erreichen. Die Studie zeigt auch, dass eine vorzeitige Lehrvertragsauflösung mit mehr Risiken verbunden ist als das Scheitern bei Lehrabschluss. Demgegenüber bannt es nicht die Gefahr, dass sie ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss bleiben, wenn Kinder in der 5. Klasse (gemäss Harmos 7. Klasse) an ihre Wirksamkeit glauben. Denn eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung führt nicht dazu, dass sie sich mehr anstrengen.


95% der Jugendlichen sollen bis 25 – also zehn Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule – einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen. Dieses Ziel haben Bund, Kantone und Arbeitnehmerorganisationen definiert (Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 2023). Gemäss Häfeli und Schellenberg (2009) haben Personen ohne Sekundarstufe-II-Abschluss ein erhöhtes Risiko, arbeitslos und damit von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Und sie fehlen im Arbeitsmarkt, der nach qualifizierten Personen verlangt.

Wer mit rund 21 Jahren erwerbstätig und ohne Abschluss auf Sekundarstufe II ist, wird in der Regel kein solches Diplom mehr erreichen.

Studien (etwa Meyer, 2018) haben gezeigt, dass sich die Probleme bereits fünf Jahre nach Volksschulabschluss zeigen: Wer mit rund 21 Jahren erwerbstätig und ohne Abschluss auf Sekundarstufe II ist, wird in der Regel kein solches Diplom mehr erreichen – obwohl junge Erwachsene grundsätzlich andere Pläne haben. Als Bildungsziel geben die meisten an, dass sie mindestens einen Abschluss der Sekundarstufe II erreichen möchten (Ackermann & Benz, 2023). Warum ihnen das nicht gelingt, untersucht die vorliegende Studie; sie geht den Faktoren nach, die das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses fünf Jahre nach Volksschulabschluss vorhersagen.

Weil in der Schweiz rund zwei Drittel aller Jugendlichen in eine berufliche Grundbildung übertreten, nahm die Analyse die Berufslernenden genauer unter die Lupe. Untersucht wurde die Situation von Jugendlichen, die innerhalb von fünf Jahren nach Abschluss der obligatorischen Schule in eine berufliche Grundbildung übergetreten sind. Mit verknüpften Fragebogen-Daten von 1779 jungen Erwachsenen aus den beiden Forschungsprojekten «WiSel – Wirkungen der Selektion» und «LABB – Längsschnittanalysen im Bildungsbereich» des Bundesamtes für Statistik prüften die Autoren mit einem sogenannten Strukturgleichungsmodell verschiedene Hypothesen. Zwei Aspekte wurden fokussiert.

  1. Zum einen standen mit Lehrvertragsauflösungen und Fehlversuchen im Qualifikationsverfahren zwei wichtige Indikatoren nicht-gradliniger Bildungsverläufe im Zentrum. Bis anhin war unklar, welcher der beiden Aspekte für das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses wichtiger ist. Dabei kann Wissen in diesem Bereich helfen, die heutige Sekundarstufe-II-Abschlussquote von rund 90% auf die angestrebte 95%-Marke anzuheben.
  2. Zum anderen wollten die Autoren bereits auf Primarstufe und Sekundarstufe I Faktoren identifizieren, welche das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses vorhersagen. Motivationale Aspekte sowie Faktoren aus dem unmittelbaren, nahen Kontext waren von besonderem Interesse, weil in diesen Bereichen Anpassungen gut möglich sind. Gestützt auf die sozial-kognitive Laufbahntheorie der Zufriedenheit und des Wohlbefindens im Arbeitskontext (Lent & Brown, 2008) untersuchten die Autoren die Vorhersagekraft der motivationalen Faktoren der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung und der bildungsbezogenen Werte im 5. Schuljahr (gemäss Harmos 7. Schuljahr). Die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung einer Person gibt an, wie hoch sie ihre Fähigkeiten einschätzt, Aufgaben zu bewältigen. Die bildungsbezogenen Werte der Primarschülerinnen und -schüler wurden über die angegebene Wichtigkeit von Schule erfasst («Wie wichtig ist dir die Schule?»). Hinsichtlich des nahen Kontextfaktors wurden die befragten Fünftklässler nach der elterlichen Zuwendung gefragt. Sie schätzten emotionale Aspekte ein – z.B. wie sehr ihre Eltern bei Problemen für sie da sind. Im 9. Schuljahr (11. gemäss Harmos), also am Ende der Sekundarstufe I, wurde mit der bildungsbezogenen Anstrengungsbereitschaft ein weiterer motivationaler Faktor als Vorhersagevariable verwendet. Die Jugendlichen machten hierzu Einschätzungen zu Aussagen wie «Ich strenge mich in der Schule wirklich an».

Ergebnisse

Die folgenden Annahmen haben sich bestätigt:

Die bildungsbezogenen Werte («Wichtigkeit der Schule») der Kinder im 5. Schuljahr sagen das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses ebenfalls indirekt vorher.

  1. Sowohl die Anzahl an Lehrvertragsauflösungen als auch das Vorliegen eines oder mehrerer Fehlversuche im Qualifikationsverfahren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass junge Erwachsene fünf Jahre nach Volksschulabschluss keinen Sekundarstufe-II-Abschluss haben. Der Effekt der Lehrvertragsauflösungen ist dabei rund 1,2 Mal grösser als der Effekt des Vorliegens eines oder mehrerer Fehlversuche im Qualifikationsverfahren. Während nach einer Lehrvertragsauflösung 60% ihre Lehre in einem anderen Beruf oder Betrieb fortsetzen und schliesslich einen Abschluss erreichen, schaffen 73% der Jugendlichen nach einem Fehlversuch im Qualifikationsverfahren doch noch den Abschluss.
  2. Die bildungsbezogene Anstrengungsbereitschaft von jungen Erwachsenen im 9. Schuljahr sagt das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses fünf Jahre nach Volksschulabschluss indirekt vorher: Eine hohe Anstrengungsbereitschaft führt zu einer tieferen Anzahl Lehrvertragsauflösungen, welche wiederum die Wahrscheinlichkeit des Fehlens eines Sekundarstufe-II-Abschlusses minimiert.
  3. Die bildungsbezogenen Werte («Wichtigkeit der Schule») der Kinder im 5. Schuljahr sagen das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses ebenfalls indirekt vorher: Hohe bildungsbezogene Werte führen zu einer hohen Anstrengungsbereitschaft, welche zu einer tieferen Anzahl Lehrvertragsauflösungen führt, welche wiederum die Wahrscheinlichkeit des Fehlens eines Sekundarstufe-II-Abschlusses fünf Jahre nach Volksschulabschluss verringert.
  4. Auch die elterliche Zuwendungsorientierung bei den Studienteilnehmenden im 5. Schuljahr sagt die Wahrscheinlichkeit des Fehlens eines Sekundarstufe-II-Abschlusses indirekt vorher: Kinder, die im 5. Schuljahr Eltern mit einer hohen Zuwendungsorientierung hatten, weisen im 9. Schuljahr eine höhere bildungsbezogene Anstrengungsbereitschaft auf, die zu einer tieferen Anzahl Lehrvertragsauflösungen führt, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Sekundarstufe-II-Abschluss erreicht wird.

Nicht bestätigt wurden Hypothesen, in welchen indirekte Effekte der motivationalen und kontextuellen Faktoren über Fehlversuche im Qualifikationsverfahren auf das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses angenommen wurden. Ausserdem fanden die Autoren keine Bestätigung der Annahmen zu den Effekten der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung. Unter anderem wurde vermutet, dass Primarschülerinnen und -schüler mit einer hohen allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung im 9. Schuljahr eine hohe bildungsbezogene Anstrengungsbereitschaft aufweisen. Dem war nicht so, weshalb sich auch keine statistisch bedeutsamen Effekte der allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung auf das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses zeigten.

Schlussfolgerungen für die Praxis

Eltern sollten sich bewusst machen, wie häufig sie sich den Problemen ihres Kindes zuwenden, wie häufig sie ihm zuhören und sagen, wenn es etwas gut gemacht hat.

Um die Wahrscheinlichkeit eines Sekundarstufe-II-Abschlusses zu erhöhen, sollte die Zuwendungsorientierung der Eltern von Primarschülerinnen und -schülern gefördert werden. Eltern sollten sich bewusst machen, wie häufig sie sich den Problemen ihres Kindes zuwenden, wie häufig sie ihm zuhören und sagen, wenn es etwas gut gemacht hat. Nützlich sind Weiterbildungsprogramme zur Förderung eines autoritativen Erziehungsstils, der sich bekanntlich durch eine hohe Zuwendungsorientierung auszeichnet (siehe Kauser & Pinquart, 2019).

Mit Blick auf die wichtige Rolle der bildungsbezogenen Werte der Primarschülerinnen und -schüler können sowohl Eltern als auch Lehrpersonen unterstützend wirken. Schiefele und Schaffner (2015) konnten zeigen, dass die bildungsbezogenen Werte von Primarschülerinnen und -schülern besonders hoch ausgeprägt sind, wenn Lehrpersonen selber hohe bildungsbezogene Interessen aufweisen (d.h. sie haben hohe Einschätzungen bei Aussagen wie «Der interessanteste Aspekt meiner Arbeit bezieht sich auf den pädagogischen Umgang mit Schülern»). Eltern können die Sekundarstufe-II-Abschlussquote nicht nur mit einer hohen emotionalen Zuwendung steigern, sondern auch, indem sie ausreichend Zeit mit ihrem Kind in leistungsbezogenen Aktivitäten verbringen (McNair & Johnson, 2009). Auch dadurch, so konnte in der Studie von McNair und Johnson gezeigt werden, schätzen Kinder die Wichtigkeit der Schule eher als hoch ein. Dies wirkt sich positiv auf ihre spätere Anstrengungsbereitschaft aus, welche wiederum zu einer tieferen Anzahl Lehrvertragsauflösungen und einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Fehlens eines Sekundarstufe-II-Abschlusses führt.

Zusammenfassung

In der vorliegenden Studie wurde das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses fünf Jahre nach Volksschulabschluss vorhergesagt. Dabei wurde die Situation in der beruflichen Grundbildung in den Blick genommen. Zwei Fragestellungen waren leitend:

  • Inwieweit lässt sich das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses durch Lehrvertragsauflösungen und Fehlversuche im Qualifikationsverfahren vorhersagen?
  • Inwieweit können motivationale und kontextuelle Faktoren auf Primarstufe und Sekundarstufe I das Fehlen eines Sekundarstufe-II-Abschlusses vorhersagen?

Gestützt auf die sozial-kognitive Laufbahntheorie der Zufriedenheit und des Wohlbefindens im Arbeitskontext wurden die Konzepte allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung und bildungsbezogene Werte als motivationale Faktoren auf Primarstufe untersucht. Die elterliche Zuwendungsorientierung der Primarschülerinnen und -schüler stellte den untersuchten Kontextfaktor dar. Auf Sekundarstufe I wurde der Einfluss der bildungsbezogenen Anstrengungsbereitschaft als weiterer motivationaler Faktor geprüft. In einem Strukturgleichungsmodell wurden die Daten von 1779 jungen Erwachsenen ausgewertet. Lehrvertragsauflösungen und Fehlversuche im Qualifikationsverfahren sagten die Wahrscheinlichkeit eines fehlenden Abschlusses positiv vorher, wobei Lehrvertragsauflösungen den grössten Effekt hatten. Die Anstrengungsbereitschaft hatte über die Lehrvertragsauflösungen einen negativen indirekten Einfluss auf das Fehlen eines Abschlusses auf Sekundarstufe II. Die bildungsbezogenen Werte und die Zuwendungsorientierung der Eltern hatten negative indirekte Effekte auf die Wahrscheinlichkeit des Fehlens eines Abschlusses über die Anstrengungsbereitschaft und die Lehrvertragsauflösungen. Die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung hatte keinen Einfluss. Frühzeitige Interventionen zur Verbesserung der Abschlussquote auf Sekundarstufe II werden diskutiert.

Literatur

Zitiervorschlag

Hofmann, J., Neuenschwander, M. P., & Ramseier, L. (2024). Elterliche Zuwendung schützt vor Dropout. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(10).

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