Dieter Eulers Kolumnen sind nun endlich als Buch erhältlich
Erfolge und Probleme der Berufsbildung in der Schweiz
Kritische Kommentare zur Berufsbildung in der Schweiz sind eher selten. Eine Ausnahme bilden Kolumnen von Dieter Euler, die soeben in Buchform erschienen sind. Euler unterstreicht die hohe Qualität der Berufsbildung in der Schweiz – und macht zugleich auf ihre Schattenseiten aufmerksam. So weist er darauf hin, dass die Stärke der Berufsbildung auf einer rigiden Auslese der Lernenden in Richtung Gymnasium basiere; das möge ökonomisch sinnvoll sein, geschehe aber auf Kosten der Chancengerechtigkeit.
Dieter Euler, Sie verfassen seit über zehn Jahren Kolumnen zur Schweizer Berufsbildung. Was charakterisiert diese Dekade?
Die Berufsbildung hat sich angesichts der Ereignisse dieser Jahre – die Migrationswelle oder die Pandemie – erstaunlich robust gezeigt.
Die Berufsbildung hat sich angesichts der Ereignisse dieser Jahre – die Migrationswelle oder die Pandemie – erstaunlich robust gezeigt. Diese Stabilität verdankt sich unter anderem der guten Steuerung. Dank der grossen Arbeitsmarktnähe der Berufsbildung gelingt einer grossen Zahl von Lernenden der Eintritt in den Lohnerwerb. Und sie sind mobil: Etwa zwei Drittel verlässt kurz nach Lehrabschluss den Betrieb und knapp die Hälfte wechselt innerhalb von fünfeinhalb Jahren den Beruf.
Dann lernt man in einer Lehre mehr als nur den eigenen Beruf?
Die grosse Mobilität scheint das zu bestätigen. Offenbar ist die Berufsfeldbreite ein Merkmal der Schweizer Berufsbildung und nicht die spezifische Vorbereitung auf eine betriebliche Tätigkeit. Typisch dafür ist die kaufmännische Lehre (KV), die als «Allbranchenlehre» angelegt ist, während es in Deutschland knapp 40 verschiedene kaufmännische Grundbildungen gibt. Gültige Antworten auf Ihre Frage erhält man aber erst, wenn man die curriculare Ebene anschaut und untersucht, wie transferfähig die vermittelten Inhalte sind.
Sie erwähnten die Steuerung der Berufsbildung. Warum?
Im Berufsbildungsgesetz sind die grundsätzlichen Dinge der Berufsbildung zentral geregelt – auch die Frage, wofür dann die Kantone und die nachgeordneten Ebenen zuständig sind. In diese klaren Mechanismen sind auch die Lernorte einbezogen. In Deutschland sind die Zuständigkeiten völlig zersplittert, mit der Berufsbildung beschäftigen sich unzählige Ministerien auf Bundes- und Landesebene, zahlreiche Gremien, die Sozialpartner und nicht zuletzt die Kammern.
Das waren jetzt lauter gute Nachrichten für die Schweiz.
Aber sie haben ihren Preis. Die Stärke der Schweizer Berufsbildung verdankt sich in vielen Kantonen einer rigiden Auslese der Lernenden in Richtung Gymnasium; so führt man der Berufsbildung relativ viele schulisch begabte Lernende zu. Das mag ökonomisch sinnvoll sein, und vielleicht trägt es auch zur hohen Qualität beruflicher Grundbildungen bei. Aber es geschieht auf Kosten der Chancengerechtigkeit. Wir wissen, dass die Selektion in die Leistungszüge der Sekundarstufe I und die folgende Rekrutierungslogik herkunftsbedingte Leistungsunterschiede verstärkt anstatt sie zu glätten. Die soziale Herkunft wirkt – unabhängig von den schulischen Leistungen – erheblich auf den Bildungserfolg der Jugendlichen ein.
Wo sehen Sie Entwicklungspotenziale für die Berufsbildung?
Die Unterscheidung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung ist angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr tragfähig.
Ein Thema ist die Unterscheidung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung, die angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr tragfähig ist. Berufliche Kompetenzen veralten immer schneller, immer dringender ist die Forderung, den Unterricht so zu gestalten, dass die Jugendlichen selbstgesteuert lernen, exemplarisch lernen – also Dinge zu tun, die man traditionell der Allgemeinbildung zuschreibt. Umgekehrt gibt es in der Allgemeinbildung viele Bereiche, die berufsbildend sind – wirtschaftliche oder gesellschaftliche Themen etwa. So ist es zumindest fragwürdig, Fachmittelschulen als allgemeinbildend zu bezeichnen. Sie führen zwar zu einem Hochschulstudium, aber sie sind zugleich berufsvorbereitend.
In Deutschland erfreuen sich duale Studiengänge einer grossen Nachfrage. Wie funktionieren sie?
Im praxisintegrierten Studium absolvieren die Studierenden eines oder mehrere Praktika; das ist auch Teil des Studiums an vielen Schweizer Hochschulen. Origineller ist das ausbildungsintegrierte Studium. Hier durchlaufen die Jugendlichen eine Lehre und absolvieren gleichzeitig Module eines Studiums. Studium und Lehre werden dann zeitlich versetzt abgeschlossen. Das Modell ist auch auf die Schweiz übertragbar und hätte meines Erachtens eine hohe Anziehungskraft. Studien zeigen, dass viele Jugendliche die Sicherheit einer Lehre schätzen, zugleich aber auch die Aufstiegsoptionen eines Studienabschlusses.
In Ihren Kolumnen sprechen Sie immer wieder auch die Digitalisierung an. Vieles seien Versprecher statt Versprechungen, schreiben Sie. Können Sie das ausführen?
Die Kernfrage lautet doch, wie man die digitalen Medien so nutzen kann, dass sie einen didaktischen Mehrwert haben.
Die Diskussion zur Digitalisierung wurde sehr lange auf Ebene Infrastruktur und Ausstattung der Schulen mit WLAN, Laptops und dergleichen geführt. Doch dies sind Themen an der Oberfläche des Lernens. Die Kernfrage lautet doch, wie man die digitalen Medien so nutzen kann, dass sie einen didaktischen Mehrwert haben. Digitalisierung bietet Chancen für den Unterricht, ohne Zweifel. Aber es genügt nicht, den Hellraumprojektor durch eine Power-Point-Präsentation zu ersetzen. Digitalisierung muss verbunden sein mit veränderten Unterrichtskonzepten, mit Sequenzen des Selbstlernens, aber auch mit neuen Formen des Dialogs zwischen Lehrkraft und Schülern und unter den Schülern selber. Es gab in der Geschichte der Pädagogik viele Revolutionsversprechungen, die sich schon bald als Versprecher erwiesen – die Sprachlabore, das Computer Based Learning, das E-Learning.
Und jetzt Virtual Reality. Was ist damit?
Das sind sehr voraussetzungsreiche Anwendungen, die in gewissen Kontexten Sinn machen, etwa dort, wo sehr teure Maschinen im Einsatz sind oder gefährliche Arbeiten zu üben sind. Aber für die Breite der beruflichen Grundbildungen bleibt ihr Mehrwert begrenzt.
Die Berufsbildung ist auch in der Schweiz in der Defensive. 2010 waren noch 71 Prozent der Jugendlichen in einer Lehre (29 Prozent in einer Mittelschule), 2019 waren es fünf Prozent weniger.
Das ist kein dramatischer Rückgang, das zeigt auch der Blick in einzelne Kantone, wo die berufliche Grundbildung sogar wächst. Eine gewisse Gefahr droht dennoch, wie wir in Deutschland sehen. Hier ist die Berufsbildung in drei Leistungsniveaus segmentiert. Da ist die Gruppe der anspruchsvollen Lehren; viele Jugendliche hier dürften auch studieren. Auf mittlerer Ebene finden wir die traditionellen Industrie- und Handwerksberufe, die einen guten Schulabschluss voraussetzen, und unten die wenig attraktiven Ausbildungen etwa der Gastronomie. Auf dieser Ebene sind Auszubildende schwer zu finden – mit der Folge, dass die Betriebe auf Ungelernte abstellen und sich aus der Berufsbildung zurückziehen. Lehrverhältnisse brechen nicht weg, weil es die Konkurrenz zu den Mittelschulen gibt, sondern weil sie zu wenig attraktiv sind.
Die Zahl der Lehrabbrüche verharrt seit vielen Jahren auf gut 20 Prozent. Was ist hier los?
80 Prozent dieser Lehrabbrüche führen direkt in ein neues Vertragsverhältnis. Das relativiert das Bild, und ein Blick auf die Bachelorstudiengänge zeigt ähnliche Abbruchquoten. Trotzdem muss man hinschauen, denn in einzelnen Berufen beträgt die Quote 40 Prozent. Und es zeigt sich, dass häufig Jugendliche mit Migrationshintergrund betroffen sind. Auch 4 Prozent Dropout sind zuviel, das sind genau die Jugendlichen, die irgendwann Probleme bekommen.
Das kommentieren Sie erstaunlich wohlwollend. Machen die Betriebe nichts falsch?
In den Betrieben ist oft gar nicht die Ausbildung schlecht, sondern das Beziehungsklima. Noch das beste Bildungskonzept ist machtlos, wenn man sich schlecht versteht.
Zu Lehrvertragsauflösungen führen Gründe in Betrieb und Schule, aber auch Gründe, die bei den Jugendlichen liegen. Das sind komplexe kausale Ketten. In den Betrieben ist oft gar nicht die Ausbildung schlecht, sondern das Beziehungsklima. Noch das beste Bildungskonzept ist machtlos, wenn man sich schlecht versteht. Und wenn das Klima gut ist, darf die Arbeit auch mal langweilig sein. Erziehung ist eng mit Beziehung verbunden!
Sie haben während über zehn Jahren teils kritische Kolumnen zur Schweizer Berufsbildung verfasst. Wie wurde damit umgegangen?
Die Schweizer Berufsbildung ist sehr selbstbewusst in der Selbstdarstellung, zum Teil zurecht. Kritik wird vorsichtig und in Form von Anregungen formuliert, etwa in den Trendberichten der EHB. Ich finde das nicht schlecht. Was ich aber auch feststelle sind «defensive routines», wenn kritische Hinweise kommen. Statt dass ein Diskurs beginnt, erfolgen Rechtfertigungen oder es wird geschwiegen. Besser wäre manchmal der offene Blick des Forschers, nicht der Reflex der Verteidigung.
Dieter Euler: Hilfreiche Ungenauigkeiten. Impulse für die Berufsbildung. Bielefeld, wbv, CHF 19.65.
Zitiervorschlag
Fleischmann, D. (2023). Erfolge und Probleme der Berufsbildung in der Schweiz. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(5).