Dieter Euler
Erziehung durch Beziehung: Lehrpersonen als Gestalter sozialen Lernens
Lehrpersonen sind weit mehr als Vermittler fachlicher Kompetenzen: Mit ihrer Persönlichkeit und durch die Gestaltung sozialer Beziehungen ermöglichen oder erschweren sie zudem soziales Lernen. Soziales Lernen erfolgt über das Erleben guter Beziehungen, der Ausrichtung des Handelns auf das Gemeinwohl und die Entwicklung einer sozialen Identität, die eine Zugehörigkeit zum Gemeinwesen ausdrückt. Aber so gut dies klingt, so gefährdet sind diese Prozesse durch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Was tun?
Die Fähigkeit zur adressatengerechten Kommunikation, das Kooperieren in Teams oder die Bewältigung von Konflikten lernt man nicht über Arbeitsblätter.
Drei Faktoren liessen sich hervorheben, um Gelingensbedingungen für berufliches Lernen zu kennzeichnen: Aufgaben, an denen Lernende wachsen können; Vorbilder, an denen sie sich orientieren können; Gemeinschaften, in denen sie sich aufgehoben fühlen!
In allen Bereichen sind die Lehrpersonen gefordert. Während der erste Faktor auf die Aneignung von kognitiven Kompetenzen abhebt, adressieren die beiden letztgenannten die Beziehungsebene und damit auch den Erwerb von sozialen Kompetenzen. Die Fähigkeit zur adressatengerechten Kommunikation, das Kooperieren in Teams oder die Bewältigung von Konflikten lernt man nicht über Arbeitsblätter. Vielmehr erfordert der Erwerb sozialer Kompetenzen das Erleben und Reflektieren von sozialen Beziehungen, Prozesse des Austauschs und der Verständigung in sozialen Gemeinschaften, die Auseinandersetzung mit guten oder kritischen Vorbildern. Entsprechend sind Lehrpersonen nicht nur fachlich gefordert; mit ihrer Persönlichkeit und durch die Gestaltung sozialer Beziehungen ermöglichen oder erschweren sie zudem soziales Lernen. Auch wenn sie für diese Herausforderung keine curricularen Vorgaben finden: als personales Modell und als Gestalter der sozialen Gemeinschaft der Lernenden sind sie unvermeidbar präsent – sozusagen für nichts zuständig, aber für alles verantwortlich …
Statt Verständigung Macht und Dealmaking
In der Gestaltung sozialer Lernprozesse erfahren Lehrpersonen in mehrfacher Hinsicht einen starken Gegenwind. Lernende sind gesellschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt, die soziale Lernprozesse in Schule und Berufsbildung häufig konterkarieren. In der Politik beobachten sie vielerorts, dass Macht und Dealmaking anstelle von Verständigung und regelbasiertem Handeln die sozialen Beziehungen prägen. In der Gesellschaft wird Fremdheit von ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen häufig nicht als Quelle von Neugier aufgenommen, sondern als Anlass von Abgrenzung und Abwertung verstanden. Und auch im kommunikativen Nahbereich beim Lernen und Arbeiten in Teams sind Lernende häufig mit der paradoxen Anforderung konfrontiert, in der Gruppe besser zu sein als andere. «Gemeinsam» äussert sich dann nicht in Verständigung und Toleranz, sondern folgt der Formel: «gemeinsam = gemein + einsam».
Wie kann es Lehrpersonen vor diesem Hintergrund gelingen, neben der kognitiven Förderung auch die soziale Dimension des Lernens so zu gestalten, dass die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen nicht zu individualistischer Egozentrik und sozialer Polarisierung führt, sondern der soziale Zusammenhalt gefördert wird?
So kann beispielsweise die Identität der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zugleich die Grundlage für Diskriminierung und Abwertung von Menschen darstellen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören.
Der deutsche Aktionsrat Bildung hat jüngst ein Gutachten vorgelegt, in dem für die verschiedenen Bildungsbereiche Antworten auf diese Frage gesucht werden (VBW, 2024). «Sozialer Zusammenhalt» liegt demnach vor, wenn Lernende gegenüber den für sie relevanten Gemeinschaften positive Einstellungen wie Vertrauen, Zugehörigkeitsgefühl und eine hohe Beteiligungsbereitschaft zeigen. Die Förderung des sozialen Zusammenhalts erfolgt über das Erleben guter sozialer Beziehungen, der Ausrichtung des Handelns auf das Gemeinwohl und die Entwicklung einer sozialen Identität, die eine Zugehörigkeit zum Gemeinwesen ausdrückt. Hinter diesen Gestaltungsprinzipien verbergen sich zum Teil voraussetzungsreiche Zusammenhänge. So kann beispielsweise die Identität der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zugleich die Grundlage für Diskriminierung und Abwertung von Menschen darstellen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören.
Mögliche Handlungsansätze
In dem Gutachten werden auch für die berufliche Bildung zahlreiche Handlungsansätze skizziert. Das Spektrum reicht für die Schule von Anti-Mobbing-, Service-Learning-, Mentoring-Programmen über die gezielte Stärkung sozialer Beziehungen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen bis hin zur Organisation von vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten, die teilweise mit Demokratiebildung verbunden werden. Auf der institutionellen Ebene sollen diese Ansätze flankiert werden durch eine Integration in schulische Leitbilder und die Fortbildung von Lehrpersonen.
Neben der schulischen wird der betrieblichen Bildung eine besondere Verantwortung für die Förderung des sozialen Zusammenhalts zugeschrieben. Durch einen gut unterstützten Onboarding-Prozess zu Beginn der Ausbildung und der systematischen Einbindung in betriebliche Aufgaben kann bei den Lernenden die Übernahme von Verantwortung und das Hineinwachsen in betriebliche Praxisgemeinschaften gefördert werden. Über Netzwerke von Gruppen mit unterschiedlichen sozialen Identitäten (z.B. Lernende aus kaufmännischen und technischen Berufen) und Projekte können einerseits soziale Identitäten aufgebaut, andererseits zugleich die Vertrautheit und das Vertrauen gegenüber anderen Gruppen gestärkt werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist ein SNF-Projekt, in dem sich Lernende in der Berufsausbildung aktiv mit dem teilweise negativen Ansehen ihres Berufes auseinandergesetzt haben (Felder et al., 2022).
Die skizzierten Ansätze deuten an, dass es sich bei dem sozialen Lernen nicht um die berühmten niedrig hängenden Früchte handelt, die schnell geerntet werden können.
Die skizzierten Ansätze deuten an, dass es sich bei dem sozialen Lernen nicht um die berühmten niedrig hängenden Früchte handelt, die schnell geerntet werden können. Andererseits: Soziales Lernen findet unvermeidbar statt, wenn Menschen zusammenkommen. Entsprechend haben Lehrpersonen die Wahl, es ungerichtet geschehen zu lassen oder es (mehr oder weniger) zu beeinflussen.
Die Kolumne von Dieter Euler erschien zuerst in «Folio» des BCH.
Literatur
- Felder, A.; Caprani, I.; Duemller, K. (2022). Wie Lernende in der Berufsbildung ihre berufliche Identität entwickeln. Renens: EHB.
- VBW (Hrsg.) (2024). Bildung und sozialer Zusammenhalt. Münster: Waxmann.
Zitiervorschlag
Euler, D. (2025). Erziehung durch Beziehung: Lehrpersonen als Gestalter sozialen Lernens. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(11).