Evaluation des Programms «KV4.0» am BZWU Wil-Uzwil
«Es ist euer KV4.0-Jahr. Ihr könnt es gestalten!»
Kaufmännische Lernende in der ganzen Schweiz haben die Möglichkeit, ihre Lehre um ein Jahr zu unterbrechen und stattdessen einen Aufenthalt im Ausland, einen Einsatz in einem anderen Berufsfeld und ein Praxisprojekt zu absolvieren. Das von einem Verein getragene Modell KV4.0 macht es möglich. Allerdings ist das Angebot, das erstmals im Schuljahr 2020/2021 erprobt wurde, noch wenig verbreitet. Jetzt zeigt eine Evaluation seine Potenziale. Sie sind vor allem im Bereich der überfachlichen Kompetenzen zu finden.
Beim «Seitenwechsel»arbeiten die Lernenden während zehn Wochen in einem neuen Berufsfeld. Sie erhalten Einblick in eine unbekannte Branche oder einen anderen Beruf.
«Die Jugendlichen kommen viel selbstbewusster zu uns zurück», «die jungen Leute gewinnen verschiedene digitale Kompetenzen dazu», «es ist erstaunlich, wie gut sie sich selbst organisieren und miteinander als Gruppe harmonieren». Diese und ähnliche Antworten sind zu hören, wenn es darum geht, wie sich die kaufmännischen Lernenden, die das Ausbildungsmodell KV4.0 des Berufs- und Weiterbildungszentrum (BZWU) Wil-Uzwil durchlaufen haben, verändert haben. Aber was ist KV4.0?
KV4.0: Lehrunterbruch mit Potenzial
Die kaufmännische Lehre mit KV4.0 dauert vier statt drei Jahre. Die reguläre Ausbildung wird nach dem zweiten Lehrjahr unterbrochen. In dieser Zeit sind die Jugendlichen nicht im Ausbildungsbetrieb tätig; sie erhalten einen Praktikumsvertrag und werden von einer Lehrperson des BZWU, dem KV4.0-Coach, betreut. Das KV4.0-Jahr besteht aus vier Modulen.
- Beim «Seitenwechsel»arbeiten die Lernenden während zehn Wochen in einem neuen Berufsfeld. Sie erhalten Einblick in eine unbekannte Branche oder einen anderen Beruf. So konnten bisherige Teilnehmende in die Bereiche Journalismus, Gastronomie, Landschaftsgärtnerei oder Pflege hineinschauen und andere Arbeitsweisen und -kulturen kennenlernen.
- Im «Praxisprojekt» erhalten die Lernenden Aufgaben aus ihrem eigenen oder einem anderen Lehrbetrieb aus dem Verein KV4.0 und bearbeiten diese innerhalb von elf Wochen in mehreren Teams. Die erarbeiteten Lösungen werden abschliessend vor Vertretern der Partnerbetriebe präsentiert und kritisch diskutiert. Im Rahmen solcher Aufträge entwickelten die Lernenden etwa ein Rekrutierungs- und Ausbildungskonzept oder ein Konzept für die Schnupperlehre.
- Im «Auslandeinsatz» verbringen die Jugendlichen 18 Wochen in einem englischsprachigen Umfeld. Nach einem zweiwöchigen Intensiv-Sprachkurs zu Beginn absolvieren sie während dreieinhalb Monaten ein Praktikum im kaufmännischen Betrieb und wohnen bei einer Gastfamilie.
- Da die Lernenden während dem KV4.0-Jahr immer wieder mit neuen Situationen konfrontiert sind, werden sie in drei «Onboardings» darauf vorbereitet (Schulungen und Workshops). So setzen sie sich mit ihrer Persönlichkeit auseinander, lernen Präsentationstechniken kennen, erhalten eine Einführung in den Umgang mit KI und durchlaufen einen Knigge-Kurs. Auch der Wiedereinstieg ins abschliessende dritte Lehrjahr wird thematisiert.
Der Lehrbetrieb beteiligt sich während dem Jahr mit ca. CHF 1000/Monat an den Ausbildungskosten, die neben dem Praktikumslohn (CHF 500) auch Kosten für die verschiedenen Workshops beinhalten. Im Anschluss an das KV4.0-Jahr führen die Lernenden ihre Lehre im dritten Lehrjahr mit dem ursprünglichen Lehrvertrag und im «alten» Lehrbetrieb fort, kommen aber in eine neue Klasse in der Berufsfachschule.
Das KV4.0-Jahr steht allen kaufmännischen Lernenden offen. Gefordert werden ein Notendurchschnitt von mindestens 4.5, die Zustimmung des Lehrbetriebs und ein Motivationsschreiben. Allerdings betonen die Verantwortlichen und auch die (ehemaligen) Teilnehmenden, dass Offenheit für Neues, die Bereitschaft sich einzubringen und die Motivation, etwas dazuzulernen, wichtiger sind als die formalen Voraussetzungen. Es können alle KV-Ausbildungsbetriebe aus der Schweiz ihren Lernenden das KV4.0-Jahr ermöglichen. Dafür müssen sie dem KV4.0-Verein beitreten. Mit dem Jahresbeitrag von CHF 500 wird das Angebot finanziert.
Gestartet ist das Ausbildungsmodell «KV4.0» 2018 mit der Gründung des Vereins KV4.0 durch das BZWU Wil-Uzwil, das Amt für Berufsbildung des Kantons St.Gallen und regionale Lehrbetriebe (z.B. Bühler AG, die Gemeinde Uzwil oder die St.Galler Kantonalbank). Das Modell wurde erstmals im Schuljahr 2020/2021 durchgeführt. Jährlich nehmen 8 bis 14 Personen teil, insgesamt haben bisher 42 Personen das KV4.0 durchlaufen. Der nächste Jahrgang startet im Schuljahr 2025/2026; das Projekt muss wegen der KV-Reform ein Jahr pausieren.
Gründungsziel des Vereins KV4.0 war es, die kaufmännische Ausbildung noch stärker an die aktuellen und zukünftigen Anforderungen des Arbeitsmarkts anzupassen und damit attraktiver zu machen.[1] Daneben sollten die Lernenden persönlich profitieren, indem sie relevante Kompetenzen einüben und sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln. Dabei wird ein besonderer Fokus auf überfachliche Kompetenzen etwa im Bereich der Kommunikation oder der Problemlösung gelegt, die in Zukunft auf dem Arbeitsmarkt wichtig sein dürften. Auch die Ausbildungsbetriebe profitieren vom Modell, da sie als Kooperationspartner attraktiver für Lernende werden und von den erworbenen Kompetenzen der KV4.0-Lernenden profitieren. Wichtig für die Vereinsmitglieder ist zudem der Marketinggedanke. Das Angebot, ein KV4.0-Ausbildungsjahr absolvieren zu dürfen, soll die Attraktivität des Betriebs auf dem Lehrstellenmarkt steigern.
Evaluation des Modells KV4.0
Durch die Konfrontation mit anspruchsvollen Situationen z.B. im Seitenwechsel ergaben sich für die Jugendlichen Reflexionsanlässe, die sie auf beeindruckende Weise nutzten.
Die eingangs zitierten Aussagen sind erfreulich. Aber können die beschriebenen Wirkungen bei allen Teilnehmenden beobachtet werden? Sind sie tatsächlich auf die Teilnahme am Modell zurückzuführen? Welche Effekte haben die vier Module auf die Kompetenzentwicklung der Lernenden? Wo besteht noch Potenzial? Diese und andere Fragen standen im Zentrum einer Evaluation, die von der Pädagogischen Hochschule St.Gallen in Kooperation mit dem BZWU Wil-Uzwil durchgeführt wurde.[2] Um sie zu beantworten war es nötig, Daten aus verschiedenen Quellen zu sammeln und auszuwerten. Dafür wurde ein «Mix Methods Design» verwendet. So wurden die Lernenden zu verschiedenen Zeitpunkten in Gruppen interviewt und mit Online-Fragebögen zu ihren Erlebnissen befragt. Daneben gab es auch Gespräche mit den verantwortlichen Personen aus dem BZWU Wil-Uzwil und ausgewählten Lehrbetrieben, die bereits beim KV4.0 beteiligt waren.
Die Ergebnisse offenbaren viele Entwicklungen bei den Jugendlichen, die einerseits erwartbar und andererseits erstaunlich sind. Zunächst ist auffällig, wie intensiv sich die Lernenden während des Jahres mit sich selbst, ihren Kompetenzen und Ressourcen beschäftigen. So denken sie darüber nach, in welchen Bereichen sie bereits gut sind wo sie sich noch weiterentwickeln müssen. Auch Themen wie Work-Life-Balance oder die Gestaltung des Arbeitsalltags spielen eine Rolle. Eine Lernende: «…noch Work-Life-Balance einhalten. Das habe ich im Seitenwechsel oder jetzt im Praxisprojekt gemerkt. (…). Da habe ich dann schon gemerkt, dass das Leben ein bisschen in den Hintergrund rückt. Da musste ich auch lernen, mir selber mehr Zeit zu schaffen, ob es im Zug ist oder auch zuhause.» Eine andere Lernende berichtete aus ihren ersten Wochen beim Seitenwechsel: «In den ersten paar Wochen musste ich dann auch merken, dass es mir schlecht ging, wenn ich kein Mittagessen hatte und dann wirklich zu sagen, dass ich jetzt eine halbe Stunde Pause brauche. Sich dort selbst wehren.»
Durch die Konfrontation mit anspruchsvollen Situationen z.B. im Seitenwechsel ergaben sich für die Jugendlichen Reflexionsanlässe, die sie auf beeindruckende Weise nutzten. Ähnliche Aussagen finden sich auch im Anschluss an den Auslandsaufenthalt, wo die Lernenden ebenfalls in einem neuen Umfeld unterwegs sind. Eine so lange Zeit von ihrem gewohnten privaten Umfeld getrennt zu sein fordert sie vielfach heraus; einige berichteten von Heimweh. Es stösst aber auch Entwicklungen an; so berichtete ein Teilnehmer, dass er sich mit der Zeit getraut habe, seine Wünsche in der Gastfamilie zu äussern und dafür einzustehen.
Generell lässt sich feststellen, dass die Lernenden, die in eher fremden Branchen unterwegs waren und/oder Aufträge bearbeitet haben, die für sie bisher unbekannt waren, stärker profitieren konnten. Ihre bisherige Sichtweise wurde intensiver «erschüttert», was zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren Erlebnissen geführt hat.
Ersichtlich wurde zudem, dass die Jugendlichen es sehr schätzen, dass sie während dem KV4.0-Jahr Verantwortung erhalten und ernst genommen werden – etwa wenn sie während dem Praxisprojekt selbstständig arbeiten und sich mit realen Herausforderungen auseinandersetzen können. Dies wirkt sich positiv auf die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein der Lernenden aus und hilft auch, Aufgaben zu übernehmen, die sie sich bisher nicht zugetraut haben. Jemand gab zu Protokoll: «In so einem Praxisprojekt, habe ich mich schon fast ein bisschen gut gefühlt, so in jungen Jahren in eine Firma laufen und sagen, wir machen jetzt mal, dass wir selber unser Jahr gestalten können und sie uns einfach den Rahmen geben.» Die Übernahme von Verantwortung, Eigeninitiative und Selbstständigkeit ist auch laut den Verantwortlichen am BZWU ein wichtiges Lernziel während dem Jahr. Das Motto, mit dem die Jugendlichen gleich am ersten Tag von Seiten des BZWU konfrontiert werden, lautet: «Es ist euer KV4.0-Jahr. Ihr könnt es gestalten». Durch die Betonung der Eigenverantwortung und -initiative entsteht während dem Jahr eine positive Dynamik in der Klasse, durch die jeder einzelne profitieren kann.
Verbesserungen sind möglich
Immer wieder kritisch erwähnt wurde die Begleitung der Lernenden während dem Jahr, die bei der Bewältigung der Herausforderungen und Belastungen während dem Seitenwechsel und der Zeit im Ausland noch weiter optimiert werden kann.
Benannt wurden auch einige Verbesserungspotenziale. Immer wieder kritisch erwähnt wurde die Begleitung der Lernenden während dem Jahr, die bei der Bewältigung der Herausforderungen und Belastungen während dem Seitenwechsel und der Zeit im Ausland noch weiter optimiert werden kann. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden wäre es wichtig, verschiedene Varianten der Betreuung auszuprobieren, wobei hier sowohl Einzel- als auch Gruppengespräche denkbar sind. Hier spielt der KV4.0-Coach eine wichtige Rolle, da diese Person den besten Zugang zu den Lernenden hat und deshalb am ehesten einschätzen kann, welche Art der Begleitung in welcher Phase am meisten Sinn ergibt. Dies setzt auch voraus, dass das Betreuungs- und Austauschkonzept flexibel an die Bedürfnisse und Module angepasst werden.
Kontroverse Bewertungen gab es auch zu den Workshops und Schulungen, die die Lernenden mit den nötigen Kompetenzen für das KV4.0-Jahr ausstatten sollen. Manche Themen wie das Projektmanagement oder die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit wurden als wertvoll betrachtet, während es zu anderen Workshops (z.B. Knigge-Kurs), unterschiedliche Bewertungen gab. Wichtig ist zudem, dass die Lernenden auch während der Workshops Verantwortung übernehmen und Themen bearbeiten wollen, die sie weiterbringen. Ein flexibles Workshop- und Schulungskonzept wäre hier nützlich.
Zusammenfassung
Im Rahmen von KV4.0 unterbrechen kaufmännische Lernende ihre berufliche Grundbildung um ein Jahr und absolvieren vier Module: Einen Arbeitseinsatz in einem anderen Berufsfeld, einen Auslandaufenthalt, ein Praxisprojekt und verschiedene «Onboardings». Die vorliegende Evaluation zeigt, dass die Jugendlichen in verschiedenen Bereichen, aber v.a. im Bereich der Selbstkompetenz, sicht- und spürbare Entwicklungen durchlaufen. Sie schliessen das Jahr selbstsicherer, selbstständiger und selbstbewusster ab und haben ein differenzierteres Bild ihrer eigenen Stärken und Schwächen. Einen positiven Einfluss auf diese Entwicklung scheinen einerseits die Erlebnisse in bisher unbekannten Branchen und im Ausland zu sein. Andererseits schätzen es die Lernenden sehr, dass sie ernst genommen werden und bei ausgewählten Entscheidungen mitbestimmen dürfen.
Ob die Lernenden durch das KV4.0-Jahr gut oder besser auf die zukünftigen Anforderungen im privaten und beruflichen Leben vorbereitet sind, lässt sich nicht beantworten. Ebenso lässt sich kaum abschätzen, inwieweit die beschriebene Entwicklung der Jugendlichen kausal auf ihre Teilnahme im KV4.0 zurückzuführen ist; eine Kontrollgruppe mit Jugendlichen ohne KV4.0 fehlt. Dennoch finden sich in den Aussagen der Lernenden, Lehrpersonen und Ausbildnerinnen und Ausbildner überzeugende Indizien für eine positive Wirkung des KV4.0-Jahres – auch wenn klar ist, dass es sich bei den Teilnehmenden im KV4.0 um besonders motivierte, offene und leistungsstarke Personen handeln dürfte.
KV4.0 wird in den nächsten Jahren weitergeführt; die vorliegende Evaluation und weitere Massnahmen tragen zur Qualitätssicherung bei. So ist es künftig möglich, den Zeitpunkt zur Absolvierung des KV4.0-Jahrs zu flexibilisieren und Lernenden eine Teilnahme nach Ende der Ausbildung zu ermöglichen. Dadurch hofft man, die Attraktivität des Programms noch weiter zu stärken und mehr Teilnehmende zu erreichen.
[1] Der Begriff «KV4.0» steht sowohl für die Anforderungen der Industrie 4.0 und der Digitalisierung als auch für die vier Module des Ausbildungsmodells. [2] Möglich wurde diese Evaluation durch eine Förderung von swissuniversities im Rahmen der sog. «Projektgebundenen Beiträge» (PgB).Zitiervorschlag
Wagner, D., Thoma, U., & Kopp, P. (2024). «Es ist euer KV4.0-Jahr. Ihr könnt es gestalten!». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(8).