Die Sicht des SBFI
Gemeinsam die Berufsbildung weiterentwickeln
Durch die Abstimmung der Berufsbildung mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes und aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen steht die Berufsbildung nie still. Im Gegenteil, Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt setzen sich fortwährend mit verschiedenen Massnahmen, Programmen und Initiativen für die Weiterentwicklung der Berufsbildung ein. Reflexionen helfen, den Kurs zu überprüfen und bei Bedarf rechtzeitig Massnahmen zu ergreifen.
Ausgelöst durch die Grundlagenberichte und Debatten in den 1990er-Jahren und die darauffolgende Modernisierung der Berufsbildung in Form des totalrevidierten Berufsbildungsgesetzes von 2002 ist die Schweizer Berufsbildung heute gut aufgestellt und geniesst im In- und Ausland einen hohen Stellenwert. Sie sorgt dafür, dass die Unternehmen über gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte verfügen und Individuen sich ihren Wünschen und Talenten entsprechend weiterentwickeln und im Arbeitsmarkt bestehen können
Einstieg in die Arbeitswelt für das Gros der Jugendlichen
Die berufliche Grundbildung ist nach wie vor die bedeutendste Erstausbildung. Demografisch bedingt nimmt aktuell die Zahl der Einstiege in Sekundarstufe II zu. Damit erfolgt auch eine Zunahme von Personen, welche in eine berufliche Grundbildung eintreten. Aber die Allgemeinbildung holt auf: Seit 1990 hat der Anteil der Personen in der Allgemeinbildung gegenüber der Berufsbildung zugenommen. Regionale Unterschiede sind vorhanden. So ist in der Deutschschweiz die Nachfrage nach Lehrstellen relativ betrachtet höher als in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz. Veränderungen zeigen sich auch hinsichtlich des Zeitpunkts des Eintritts in die Sekundarstufe II. Vor allem in der beruflichen Grundbildung beginnt ein Teil der Jugendlichen ihre Ausbildung nicht direkt nach der obligatorischen Schule. Schliesslich darf nicht vergessen werden, dass die betrieblich basierte berufliche Grundbildung stärker von exogenen Faktoren abhängig ist als allgemeinbildende Ausbildungsformen, zum Beispiel von Demografie, Interessen der Jugendlichen, Strukturwandel, Konjunkturentwicklung oder Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen.
Höhere Berufsbildung als Schweizer Erfolgsrezept
Der Einfluss des Arbeitsmarkts auf das Bildungswesen zeigt sich in einem fortlaufenden Strukturwandel, steigenden Qualifikationsanforderungen und einer fortschreitenden Spezialisierung.
Der Einfluss des Arbeitsmarkts auf das Bildungswesen zeigt sich in einem fortlaufenden Strukturwandel, steigenden Qualifikationsanforderungen und einer fortschreitenden Spezialisierung. Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass das Bildungsniveau in der Schweiz sukzessive ansteigt. In absehbarer Zeit wird über die Hälfte der Erwerbsbevölkerung einen Abschluss auf Tertiärstufe besitzen. Mit der höheren Berufsbildung verfügt die Schweiz über eine einmalige Möglichkeit für Berufspersonen zur Weiterqualifizierung auf Tertiärstufe. Die Entwicklung der eidgenössischen Prüfungen ist konstant, während die Anzahl der Diplome der Höheren Fachschulen in den letzten Jahren zugenommen hat.
Lebenslanges Lernen ein Muss
Dank dem durchlässigen Bildungssystem und einer breiten Palette von Aus- und Weiterbildungsangeboten sind lebenslanges Lernen und Wechsel der beruflichen Tätigkeit möglich. Seit 2014 hat die Zahl der Berufsabschlüsse Erwachsener stetig zugenommen. Die Bildungsbeteiligung hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise nehmen mit steigendem Alter die Berufsabschlüsse sowie die generelle Weiterbildungsbeteiligung ab. Grund dafür ist unter anderem der fehlende Return on Investment. Für ältere und/oder bildungsferne Erwachsene scheinen Weiterbildungsmassnahmen im Bereich der Grundkompetenzen oder Branchenabschlüsse, zumindest in einem ersten Schritt, eher realisierbar zu sein als der Erwerb eines Berufsabschlusses. In der nicht-formalen Weiterbildung ist die Beteiligung der Schweizer Wohnbevölkerung an Weiterbildung europaweit eine der höchsten. Mit ein Grund dafür ist auch die hohe Beteiligung der Arbeitgeber. Auch hier zeigen sich jedoch Unterschiede in der Beteiligung, beispielsweise nach Bildungsstand.
Grundlagen und Strukturen sind vorhanden
Die Verbundpartner der Berufsbildung – Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt – verfügen über ein breites Spektrum an bewährten Massnahmen zum Erhalt und zur Steigerung der Attraktivität der Berufsbildung. Dieses reicht von Berufsinformationen über verschiedenste Bildungsangebote bis zu gezielten Fördermassnahmen. Auch Innovationen und Neuerungen der letzten Jahre haben sich bezahlt gemacht – die Einführung der zweijährigen beruflichen Grundbildungen mit Berufsattest etwa, die Stärkung der höheren Berufsbildung oder die Verständigung auf bildungspolitische Ziele. Ebenso sind Strukturen, Gremien und Programme (z.B. «Berufsbildung 2030») vorhanden, um Lücken in der Verbundpartnerschaft zu diskutieren und bei Bedarf Optimierungen gemäss den gesetzlichen Zuständigkeiten in die Wege zu leiten. Dazu zählt beispielsweise die 2021 eingeführte neue Gremienstruktur in der Berufsbildung mit der Tripartiten Berufsbildungskonferenz, die Positionierung der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung oder die verstärkte interinstitutionelle Zusammenarbeit. Auch besteht die Möglichkeit seitens des Bundes, Projekte und Innovation von Kantonen, Organisationen der Arbeitswelt und Dritten zu fördern.
Signale frühzeitig erkennen
Allem voran geht es darum, Jugendlichen und deren Eltern sowie den Unternehmen zuzuhören und deren Erwartungen aufzunehmen.
Damit die Berufsbildung weiterhin ihren Zweck erfüllen kann, lohnt es sich, die Entwicklungen innerhalb und ausserhalb der Berufsbildung zu beobachten und Signale frühzeitig zu erkennen und bei Bedarf entsprechend zu handeln. Allem voran geht es darum, Jugendlichen und deren Eltern sowie den Unternehmen zuzuhören und deren Erwartungen aufzunehmen. Instrumente wie das Nahtstellenbarometer bieten hier vielfältige Einsichten. Monitoring-Instrumente wie der Bildungsbericht Schweiz ermöglichen einen Gesamtüberblick über den Status quo und künftige Entwicklungen. Wertvolle Erkenntnisse liefert die Berufsbildungsforschung. Erfahrungen und Einschätzungen der Verbundpartner sowie von Stimmen ausserhalb der Berufsbildung helfen, das Bild zu vervollständigen.
Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen
Der Lehrstellenmarkt ist insgesamt stabil. Jedoch können nicht alle Lehrbetriebe offene Lehrstellen besetzen. Lehrbetriebe melden auch, dass sie Mühe haben, geeignete Lernende zu finden. Sie führen das auf verschiedene Gründe zurück wie fehlendes Interesse an den Berufen oder fehlende Voraussetzungen seitens der Jugendlichen. Die Ausbildung von Lernenden lohnt sich für die Betriebe. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis wird im Auftrag des SBFI periodisch untersucht. Dennoch stehen immer wieder Forderungen im Raum nach finanzieller Entschädigung von Lehrbetrieben. Begründet wird dies unter anderem mit einem höheren Aufwand in der Vermittlung von fachlichem Wissen und Einführung in die Arbeits- und Erwachsenenwelt generell.
Eng mit der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen hängt die Berufsentwicklung zusammen. Die Definition der Bildungsinhalte durch die Organisationen der Arbeitswelt sorgt für auf den Arbeitsmarkt abgestimmte Bildungsangebote. Heute stehen rund 250 berufliche Grundbildungen zur Wahl. Angesichts des sich rasch wandelnden Arbeitsmarkts und der zunehmenden Bedeutung von berufsübergreifenden Kompetenzen taucht die Frage auf, ob diese Granularität auch in Zukunft ein taugliches Erfolgsrezept bleibt. Diskutiert wird auch, wie Megatrends wie KI optimal in die Angebote der Berufsbildung einfliessen können.
Qualität der Bildung
Die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner spielen in den Lehrbetrieben eine zentrale Rolle. In ihrer Rolle als Ausbildnerinnen und Ausbildner – in den meisten Fällen nebst ihrer Haupttätigkeit im Betrieb – sind sie zunehmend gefordert.
Die Frage von Lehrvertragsauflösungen zeigen sich in den einzelnen Branchen in unterschiedlichem Ausmass. Lösungen müssen daher berufsspezifisch gesucht werden. Die Sicherstellung der Ausbildungsqualität ist wesentlich für einen erfolgreichen Lehrabschluss und beugt Lehrvertragsauflösungen vor. Der Ausbildungsqualität an den drei Lernorten (Betrieb, Schule und überbetrieblicher Kurs) kommt eine hohe Bedeutung zu. Wie Untersuchungen der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung zeigen, spielen die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner in den Lehrbetrieben eine zentrale Rolle. In ihrer Rolle als Ausbildnerinnen und Ausbildner – in den meisten Fällen nebst ihrer Haupttätigkeit im Betrieb – sind sie zunehmend gefordert. Umgekehrt haben Lernende den Anspruch auf eine optimale Betreuung und Begleitung in ihrem Lernprozess. Der Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft sowie beeinflusst durch Megatrends wie die Digitalisierung zeigt sich auch an den Berufsfachschulen. Ein wichtiger Schlüssel für die Zusammenarbeit ist die Lernortkooperation.
Präferenzen der Jugendlichen und Erwachsenen
Die Berufsbildung leistet einen wichtigen Beitrag zur tiefen Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Um allen, beispielsweise auch Menschen mit Migrationshintergrund, Zugang und Teilhabe zu ermöglichen, haben Bund, Kantone und Sozialpartner das 95%-Ziel vereinbart. Je nach Personengruppe wird das Ziel mehr oder weniger gut erreicht. Personen mit verzögertem Verlauf oder speziellen Bedürfnissen sowie Späteingewanderte liegen unter dem Durchschnitt. Wie gelingt es, das 95%-Ziel bestmöglich zu erreichen? Was sind Massnahmen im Bereich der Berufsbildung und welche Massnahmen ausserhalb der Berufsbildung können herangezogen werden?
Bei der Wahl zwischen dem allgemeinbildenden und dem berufsbildenden Weg spielen persönliche Merkmale, Interessen und Präferenzen eine Rolle. Eltern haben einen entscheidenden Einfluss. Die Berufsbildung geniesst bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein unterschiedliches Image. Es braucht fortwährende Anstrengungen, die Vielfalt der Bildungsangebote, die hohe Durchlässigkeit und die interessanten Karrierewege aufzuzeigen. Auch sieht sich die berufliche Grundbildung Erwartungen der jüngeren Generation gegenüber. In jüngerer Zeit werden Forderungen für Erleichterungen für Lernende erhoben, z.B. mehr Ferien, Arbeitszeit, Teilzeitlehren etc. Das Alter der Jugendlichen bei der Berufswahl ist immer wieder ein Thema. Ein Indikator für Handlungsbedarf könnte die steigende Nutzung von Brückenangeboten oder die Wahl schulischer Bildungsangebote auf Sekundarstufe II sein. Wichtig ist, dass man sich die Frage stellt, was die Attraktivität der Berufsbildung aus Sicht der Jugendlichen ausmacht.
Berufsbildung und Allgemeinbildung
Die Zahl der gymnasialen Abschlüsse ist in den letzten Jahren mehr oder weniger konstant. Aber die Zahl der Abschlüsse an Fachmittelschulen nimmt zu. Demografisch bedingt werden die Zahlen der Lernenden des ersten Jahres bei allen Abschlusstypen der Sekundarstufe II in den nächsten Jahren wachsen. Den Stärken der Berufsbildung wie attraktive und durchlässige Karrierewege stehen Nachteile gegenüber wie der frühe Berufswahlentscheid, der Bewerbungsprozess oder Ferien. In diesem Zusammenhang stellt sich immer wieder die Frage, wie Wissen und Kompetenzen bestmöglich vermittelt werden können. Was wird schulisch vermittelt, was in der betrieblichen Praxis? Oder noch genereller, wie allgemein oder wie berufsspezifisch soll die berufliche Grundbildung ausgestaltet sein? Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Schliesslich gilt es, der Berufsmaturität ein besonderes Augenmerk zu schenken. Sie ermöglicht es, leistungsstarke Jugendliche für die Berufsbildung zu gewinnen. Dabei fällt auf, dass die Berufsmaturität während der beruflichen Grundbildung (BM1) stagniert. Es würde sich lohnen, hier die Gründe näher zu untersuchen und zu diskutieren. Liegt es am fehlenden Interesse seitens der Jugendlichen oder Betriebe? Passt die Organisationsform nicht für die Betriebe und die Jugendlichen?
Weiterqualifizierung auf Tertiärstufe
Die höhere Berufsbildung als Qualifizierungsmöglichkeit auf Tertiärstufe ist ein Kernelement der Schweizer Berufsbildung. Absolventinnen und Absolventen einer beruflichen Grundbildung haben dadurch die Möglichkeit, sich arbeitsmarktnah weiter zu qualifizieren und zu spezialisieren. Die Bildungsangebote der höheren Berufsbildung sind breitgefächert. Die Anerkennung und die Bekanntheit der Abschlüsse der höheren Berufsbildung sind ein Thema. Der Bundesrat wird dazu voraussichtlich im Sommer 2025 eine Gesetzesbotschaft in die Vernehmlassung schicken. Der Weiterbildungsmarkt bleibt umkämpft. Abschlüsse der höheren Berufsbildung stehen in Konkurrenz zu nicht-konsekutiven Angeboten der Fachhochschulen (CAS, DAS, MAS). Dem bildungspolitischen Ziel der Profilschärfung auf Tertiärstufe kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.
Fazit
Mit dem Projekt «Attraktivität der Berufsbildung» beabsichtigt das SBFI, bis im Herbst 2025 eine breit abgestützte Auslegeordnung zur Attraktivität der Berufsbildung vorzunehmen.
Die Schweizer Berufsbildung ist solide konstruiert und gut unterwegs. Dennoch ist es wichtig, sich immer wieder selbstkritisch die Frage zu stellen, wo man steht und welche Signale man vernimmt. Am nationalen Spitzentreffen der Berufsbildung haben deshalb die Teilnehmenden diese Diskussion lanciert. Mit dem Projekt «Attraktivität der Berufsbildung» beabsichtigt das SBFI, bis im Herbst 2025 eine breit abgestützte Auslegeordnung zur Attraktivität der Berufsbildung vorzunehmen. Die Sondierung versteht sich als eine Momentaufnahme. Sie zeigt aus übergeordneter Ebene auf, was gut läuft, wo Handlungsbedarf besteht und was mögliche weitere Massnahmen wären. Es geht nicht darum, einzelne Projekte unter die Lupe zu nehmen; vielmehr sollen die grossen Entwicklungen und Bedürfnisse aufgezeigt werden. Die Untersuchung zur Attraktivität der Berufsbildung erfolgt in einem breit abgestützten Prozess. Dabei werden sowohl die Verbundpartner der Berufsbildung konsultiert als auch Akteure ausserhalb der Berufsbildung. Ebenso wird die Forschung miteinbezogen. Die TBBK begleitet das Projekt.
Zitiervorschlag
Hübschi, R. (2025). Gemeinsam die Berufsbildung weiterentwickeln. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(2).