Das «Gender Equality Paradox»
Frauen meiden technische Berufe – wegen des Wohlstands
In der Schweiz beträgt der Anteil an Frauen in technischen oder mathematischen Studiengängen 22%; in Marokko aber 45%. Der Grund für diese Differenz erscheint paradox: Je reicher und egalitärer ein Land ist, desto weniger arbeiten die Frauen in technischen Berufen. Die Wissenschaft nennt das das «Gender Equality Paradox». Ein Forschungsprojekt erklärt die Ursache des Phänomens: Mit wachsendem Wohlstand nimmt der Zusatznutzen des Einkommens ab, gleichzeitig aber wachsen für Frauen die Identitätskosten in MINT-Fächern. Darum entscheiden sich viele Frauen gegen ein MINT-Studium. Die Studienautorinnen schlagen Wege vor, die aus dem Paradox führen könnten.
Es handelt sich um das sogenannte «Gender Equality Paradox», nach welchem in reichen, egalitären Ländern die Lücke zwischen dem Anteil an männlichen und weiblichen MINT-Studierenden grösser ist als in ärmeren, weniger egalitären Ländern.
Der Anteil von Absolventinnen in MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist in dem meisten Ländern der Welt niedrig. Er beträgt 22% in der Schweiz, 28% in Deutschland, 34% in den USA, 36% in Schweden, 45% in Marokko.[1] Diese Zahlenreihe erstaunt: In reichen Ländern wie der Schweiz und Schweden ist der relative Anteil von Absolventinnen von MINT-Fächern geringer ist als in Ländern wie der Türkei oder Marokko. Und das, obwohl die formale Gleichheit der Geschlechter bei uns um ein Vielfaches höher ist als in jenen Ländern. Zwar nimmt mit dem Wohlstand eines Landes generell der Anteil an (männlichen und weiblichen) MINT-Absolventinnen und -Absolventen ab, aber der Abstand zwischen den Geschlechtern wird um so grösser, je reicher und egalitärer ein Land ist.
Dies steht im Gegensatz zur geläufigen Vermutung, dass sich mit dem Wohlstand und dem Entwicklungsstand eines Landes die Präferenzen zwischen Männern und Frauen angleichen. Es handelt sich um das sogenannte «Gender Equality Paradox», nach welchem in reichen, egalitären Ländern die Lücke zwischen dem Anteil an männlichen und weiblichen MINT-Studierenden grösser ist als in ärmeren, weniger egalitären Ländern (Stoet & Geary, 2020; Breda et al., 2020). So beträgt in der Schweiz (BIP pro Kopf 57’421$, Gender Inequality Index 0.04[2]) die Lücke zwischen männlichen und weiblichen STEM-Absolvierenden 26 Prozentpunkte, in Marokko (BIP pro Kopf 7’285$, Gender Inequality Index 0.5) aber nur 2 Prozentpunkte.[3] Der «Gender Gap» misst die Differenz zwischen dem Anteil von MINT-Studenten (gemessen an allen Studenten) und dem Anteil MINT-Studentinnen (gemessen an allen Studentinnen). Warum ist das ein Problem? Wie könnten wir das Problem reduzieren?
Warum ist das Gender Equality Paradox ein Problem?
In der Schweiz, in Österreich und in Deutschland verdienen Männer ca. 20% mehr pro Stunde als Frauen (Eurostat, n.d.). Diese Lohnlücke ist heute nur noch in geringem Masse einer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, d.h. ungleichem Lohn für gleiche Arbeit, zuzuschreiben. Vielmehr ist sie u.a. darin begründet, dass deutlich weniger Frauen in gut bezahlten MINT-Fächern ausgebildet sind. So verdienen in Deutschland Absolventinnen und Absolventen in akademischen MINT-Fächern 17% mehr als solche in Nicht-MINT-Fächern. (Anger et al., 2021). Generell sind MINT-nahe Ausbildungen mit höherem Einkommen verknüpft (Kirkeboen et al., 2016). Gleichzeitig scheiden Frauen in Nicht-MINT Fächern früher aus der akademischen Laufbahn aus als Männer (Leemann et al., 2010) und ihre Erwerbsbeteiligung ist geringer (Hermann et al. 2021).
Die Lohnlücke nimmt mit der Ankunft von Kindern zu: In der Schweiz steigt die Teilzeitquote von Frauen von 52% auf 80%, sobald Kinder zu versorgen sind (Bundesamt für Statistik, n.d.), in Deutschland von 39% auf 68% (Hobler et al., 2021). Es ist zu vermuten, dass hierfür auch die Lohndifferenz zwischen MINT-Berufen und solchen mit anderen Abschlüssen eine Rolle spielen: Die schlechter verdienende Mutter wird ihre Arbeitszeit mehr einschränken als der gutbezahlte Vater mit einem MINT-Abschluss.[4] Das erhöht nicht nur die Lohnlücke, sondern verschlechtert auch die Karriereaussichten der Mutter, wenn sie wieder in einen Vollzeitberuf einsteigt.[5] Zugleich sinken ihre Alterseinkünfte und in vielen Fällen ihre Einkommenssicherheit im Falle einer Scheidung.
Mehr MINT-Absolventinnen würden dem Mangel an MINT-Berufen entgegensteuern und Innovationen fördern. Je höher der Anteil an MINT-Absolventinnen, desto höher die Anzahl an weiblichen Innovationen (Niggli & Rutzer, 2021; Rutzer & Weder 2021). Eine Verminderung des «Gender Equality Paradoxons» würde demzufolge sowohl auf individueller wir auf gesamtwirtschaftlicher Ebene vorteilhaft sein.
Wie ist das Gender Equality Paradox zu erklären?
MINT-Abschlüsse bieten eine grössere finanzielle Sicherheit. Diese ist besonders in armen Ländern mit wenig sozialer Sicherheit wichtig (Stoet & Geary, 2020). Das gilt gleichermassen für Frauen und Männer. Aber warum nimmt die Differenz zwischen dem Anteil der MINT-Studenten und MINT-Studentinnen mit steigendem Wohlstand und steigender formaler Gleichheit zu?
Das Klischee «Mathe ist nichts für Mädchen» ist in reichen, egalitären Ländern weiter verbreitet als in armen, nicht-egalitären Ländern.
Wir erklären diesen Sachverhalt in vier Schritten. Im ersten Schritt ziehen wir die empirische Studie von Breda et al. (2020) heran. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass das Klischee «Mathe ist nichts für Mädchen» in reichen, egalitären Ländern weiter verbreitet ist als in armen, nicht-egalitären Ländern. Dieses Klischee erfasst vorherrschende Stereotypen in Bezug auf Präferenzen von Männern und Frauen, d.h. horizontale Geschlechternormen. Gleichzeitig wird in egalitären, reichen Ländern eine generelle Überlegenheit der Männer abgelehnt, wie dies etwa im Statement «ein Universitätsabschluss ist für Männer wichtiger als für Frauen» zum Ausdruck kommt, d.h. vertikale Geschlechternormen sind schwächer ausgeprägt. Folglich sind horizontale und vertikale Geschlechternormen negativ korreliert.
In einem zweiten Schritt kombinieren wir dieses Ergebnis mit einer Studie von Falk und Hermle (2018). Diese besagt, dass die Geschlechterdifferenz bei einer Vielzahl von Präferenzen in reichen, egalitären Ländern zunimmt. In unserem Zusammenhang ist besonders die Differenz in Bezug auf Altruismus wichtig. Im Einklang mit diesem Ergebnis, zeigen Eagly et al. (2020), dass in den USA in den letzten 80 Jahren mit steigendem Wohlstand die Stereotypisierung von Frauen als «communal» oder fürsorglich gestiegen ist, die von Männern aber nicht. Mit wachsendem Wohlstand unterscheiden sich die Präferenzen zwischen den Geschlechtern also nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Ländern. Die wachsende Geschlechterdifferenz in Bezug auf Altruismus ist bedeutsam, weil eine MINT-Karriere mehrheitlich als wenig kompatibel mit altruistischen Zielen betrachtet wird (Diekman et al., 2010). Daraus schliessen wir, dass es eine zunehmende Differenz in den Präferenzen für MINT-Fächer gibt.
In einem dritten Schritt beziehen wir das Konzept der Identity Economics von Akerlof und Kranton (2000, 2005, 2010) ein. Individuen müssen Identitätskosten hinnehmen, sobald sie vorherrschende Identitätsnormen und Stereotypen verletzen. Diese Stereotypen unterscheiden sich – wie gezeigt – in reichen und in armen Ländern in Bezug auf Altruismus. Als Resultat steigen die Identitätskosten für Frauen, welche in reichen, egalitären Ländern MINT-Fächer wählen. Für Männer hingegen bleiben sie gleich.
Das höhere Einkommen in MINT-Berufen steigert demnach die Lebenszufriedenheit in reichen Ländern weniger als in armen Ländern.
Schliesslich ziehen wir das Ergebnis der Glücksforschung heran, wonach es einen abnehmenden Grenznutzen des Wohlstandes gibt (Layard et al., 2018). Das höhere Einkommen in MINT-Berufen steigert demnach die Lebenszufriedenheit in reichen Ländern weniger als in armen Ländern.
Im Ergebnis können wir mit unseren Überlegungen das zunächst kontraintuitive «Gender Equality Paradox» innerhalb eines ökonomischen Begriffsrahmens theoretisch erklären: Mit wachsendem Wohlstand nimmt der Zusatznutzen des Einkommens ab, gleichzeitig nehmen für Frauen die Identitätskosten bei der Wahl von MINT-Fächern zu. Dies führt zu einem relativ geringeren Anteil von MINT-Absolventinnen in diesen Ländern. Warum in reichen Ländern die Stereotypisierung von Frauen als «communal» oder fürsorglich zugenommen hat, ist bislang ungeklärt. Die Zunahme steht im Gegensatz zu empirischen Befunden, wonach überkommene kulturelle Prägungen von Werten und Normen sehr stabil sind (z.B. Alesina et al., 2013; Jayachandran, 2015).
Insgesamt führen unsere Überlegungen zu einer negativen Prognose für die Einkommensungleichheit von Frauen und Männern bei steigendem Wohlstand. Ein erster Schritt, um diese Hypothese zu testen, müsste eine Messung und ein Vergleich von Identitätskosten in reichen egalitären und in armen, nicht-egalitären Ländern umfassen. Dies würde eine bis jetzt ausstehende Operationalisierung des Begriffes der Identitätskosten einschliessen.
Was können wir tun?
Sofern unsere Überlegungen zutreffen, könnten die folgenden institutionellen Massnahmen ins Auge gefasst werden, um in reichen Ländern einen höheren Anteil von Frauen in MINT-Fächern herbeizuführen.
Zum ersten könnten Ausbildungsinstitutionen versuchen, MINT-Fächer mit solchen Studieninhalten zu kombinieren, die den vorherrschenden weiblichen Rollen-Stereotypen besser entsprechen. Dies hat die Eidgenössischen Technische Hochschule ETH Zürich erfolgreich gezeigt. Das Department «Gesundheitswissenschaften und Technologie» hat mit 64% Studentinnen einen fast doppelt so hohen Frauenanteil verglichen mit dem Durchschnitt an der ETH (ETH Zürich, 2020). In Deutschland werden Studiengänge in Bio-Informatik von deutlich mehr Studentinnen besucht als solche in der reinen Informatik (Ehmann et al., 2019).
Zum zweiten könnten Konsequenzen aus neueren Ergebnissen der Gender Economics gezogen werden, welche zeigen, dass insbesondere leistungsstarke Mädchen den Wettbewerb gegen Jungen in Männerdomänen – insbesondere in MINT-Fächern – scheuen (Buser et al., 2017; Fong & Osterloh, 2020). Empirische Befunde zeigen, dass sich durch eine Reduktion des Wettbewerbs der Anteil von Frauen in solchen Bereichen beträchtlich erhöht. Eine Möglichkeit dazu wären Frauenquoten (Niederle et al., 2013). Allerdings sind diese unpopulär, weil sie von Männern als umgekehrte Diskriminierung empfunden werden und Frauen befürchten, dass Quoten negative Stereotype verstärken könnten (Leibbrandt et al., 2018; Täuber, 2019). Eine vielversprechende alternative Lösung wäre die qualifizierte Zufallsauswahl von Bewerberinnen und Bewerbern, d.h. mit dem Los aus einer sorgfältig ausgewählten «shortlist». Im Laborexperiment hat sich gezeigt, dass sich mit einem solchen Verfahren etwa drei Mal mehr leistungsstarke Frauen beworben haben als bei herkömmlichen Auswahlverfahren (Berger et al., 2020). Die Ankündigung eines qualifizierten Losverfahrens bei der Bewerbung um MINT-Studienplätze oder -berufe könnte demnach bewirken, dass mehr Frauen zu einer Karriere in MINT-Fächern ermutigt werden.
Insgesamt schlagen wir vor, die ungleichen Karriereverläufe und Einkommenschancen von Frauen und Männern durch institutionelle Massnahmen anzugleichen, welche den faktischen Präferenzen und Geschlechternormen entsprechen. Dies dürfte wirkungsvoller sein als der bislang wenig erfolgreiche Versuch, Geschlechter-Stereotypen zum Verschwinden zu bringen.
Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen in: «Ökonomenstimme – Die Internetplattform für Ökonominnen und Ökonomen im deutschsprachigen Raum».
[1] Dies ist der Anteil an MINT-Studentinnen gemessen an allen MINT-Studierenden. Die Daten beziehen sich auf die aktuellsten erreichbaren Zahlen im Zeitraum von 2009 bis 2019 (UNDP, n.d.-a). [2] Der sogenannte Gender Inequality Index bewegt sich auf einer Skala von 0 bis 1, wobei höhere Werte mehr Ungleichheit bedeuten. Norwegen hat mit 0.04 den tiefsten Gender Inequality Index, Niger mit 0.64 den Höchsten. Zahlen von 2019 (UNDP, n.d.-b). [3] Zahlen von 2016 (UNDP, n.d-c; Our World in Data, n.d.). [4] Das ist nicht überall der Fall: In Dänemark arbeiten Väter nach der Geburt eines Kindes mehr als die Mütter, auch wenn die Mutter die Hauptverdienerin war (Lassen, 2020). [5] Die Einkommenseinbusse von Frauen nach der Geburt von Kindern (child penalty) beträgt in Deutschland und der Schweiz fast 60 Prozent, in Dänemark und Schweden dagegen nur 20-30% (Zweimüller 2021).Literatur
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