Austauschreisen der gibb Berufsfachschule Bern
Gedankenanstösse aus Finnland und Hamburg
Immer mehr Leitungen von Berufsfachschulen erkennen, dass an Schulen im Ausland Ideen für die eigene Schulentwicklung zu holen sind. Berufliche Bildung findet ja nicht nur in der Schweiz statt; auch in anderen Ländern müssen Schulen und Branchenverbände Antworten auf Herausforderungen wie Leistungsheterogenität, Nachwuchsmangel oder Lehrabbrüchen geben. Im Mai und Oktober besuchten Delegationen der gibb Berufsfachschule Bern mit Unterstützung von Movetia Partnerschulen in Finnland und Deutschland. Eine von vielen erstaunlichen Erkenntnissen: In Finnland dürfen die Lernenden ihre Lehre individuell dann abschliessen, wenn sie die geforderten Skills erfüllen.
Der Berufsbildung in der Schweiz geht es nicht nur gut. Auf der einen Seite fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft, sinkende Lernendenzahlen und Fachkräftemangel; in Handwerks- und Gastroberufen läuten da schon seit längerem die Alarmglocken. Auf der anderen Seite hohe Durchfallquoten im Qualifikationsverfahren und zunehmende Defizite bei Sprachkompetenzen. Lehrpersonen und Schulleitungen sind zudem immer öfter mit den starren Vorgaben und den Sparmassnahmen im Bildungssystem überfordert. Und im Unterricht kann den Lernenden nicht mehr die dringend benötigte Aufmerksamkeit und individuelle Betreuung gewährleistet werden.
Im Arbeitsalltag beschäftigen sich die Berufsfachschulen in Hamburg und in Jyväskylä mit ähnlichen Fragestellungen wie wir: Auch sie haben mit Fachkräftemangel zu kämpfen oder haben heterogene Klassen.
Manchmal tut es gut, die eigenen Probleme aus der Distanz zu betrachten. Das war die Idee, als sich zwei Delegationen der gibb Berufsfachschule Bern im Mai und Oktober zu Austauschreisen nach Jyväskylä (Finnland) respektive Hamburg aufmachten. Hier warteten spannende, innovative Modelle, die wir im vorliegenden Beitrag skizzieren. Denn im Arbeitsalltag beschäftigen sich die Berufsfachschulen in Hamburg und in Jyväskylä mit ähnlichen Fragestellungen wie wir: Auch sie haben mit Fachkräftemangel zu kämpfen, haben heterogene Klassen oder müssen mit der rasanten Entwicklung der Berufe Schritt halten. Sie haben nicht auf alles eine Antwort oder eine andere Antwort als wir. Von der einen oder anderen Idee aber können wir profitieren.
Finnland: Lehrabschluss wann man will
Im Zentrum des finnischen Berufsbildungssystems stehen die Berufsbildungszentren. Hier beginnen die Lernenden ihre berufliche Bildung, hier schliessen sie sie ab. Zu Beginn der Ausbildung wird für jede Lernende ein individueller Kompetenzplan erstellt. Dieser hält sich an die nationalen, institutionellen und berufsspezifischen Vorgaben. Die Bildungsgänge, die zu einem beruflichen Abschluss führen, sind in berufliche Einheiten (Module) unterteilt. Die Qualifikationsprofile setzen sich aus obligatorischen, aus optionalen beruflichen Modulen sowie zusätzlichen optionalen Modulen, die vom jeweiligen Berufsbildungsanbieter festgelegt werden, zusammen. Es können drei Qualifikationen unterschieden werden: «vocational upper secondary qualification», «further vocational qualification» und «specialist vocational qualification». Jeder dieser drei Abschlüsse hat berufliche Qualifizierungsmodule, wobei die «vocational upper secondary qualification» auf die jungen Leute für eine berufliche Erstausbildung zugeschnitten ist.
Grundsätzlich dauern berufliche Grundbildungen rund drei Jahre, wovon ein halbes Jahr am Arbeitsplatz absolviert wird. Aber die auf ganze Berufsfelder ausgerichteten Bildungspläne erlauben auch längere oder kürzere Verweildauern. Berufslehren werden dann abgeschlossen, wenn der oder die Lernende über die nötigen Kompetenzen verfügt und bereit ist, diese vorzuzeigen. Diese «Skills Demonstration» ist das Pendant zu unserem Qualifikationsverfahren – aber mit dem grossen Unterschied, dass nicht alle Lernenden gleichzeitig zeigen müssen, was sie können. Dabei werden insbesondere in der Grundbildung keine beruflichen Fachkompetenzen, sondern sogenannte Skills erlernt. Diese beziehen sich nicht auf einzelne Berufe, sondern auf ganze Berufsfelder (zum Beispiel Metallverarbeitung). Zudem kann bereits während der Lehrzeit innerhalb einer oder mehrerer Branchen gewechselt werden. Im Laufe der lebenslangen Ausbildung und Berufskarriere sind somit jederzeit im gleichen Berufsfeld, aber auch in neuen Tätigkeitsbereichen Veränderungen und neue Wege offen. Dies kann eine neue Berufsausrichtung sein, aber auch der Besuch von Kursen einer Höheren Berufsbildung oder der Universität. Oberste Maxime des finnischen Bildungssystems sind die Arbeitsmarktfähigkeit und die Minimierung der Abbruchquoten.
In Finnland hat sich zudem die Rolle der Lehrperson in den letzten Jahren stark verändert. Ähnlich wie bei uns entwickeln sich sie sich zunehmend zu Coaches und Lernbegleiterinnen. Neu ist, dass diese Begleitung der Lernenden nicht nur im Unterrichtszimmer stattfindet; vielmehr arbeiten die Lehrpersonen in den Ausbildungsbetrieben mit den Berufsbildnern vor Ort zusammen und sorgen so für eine sehr starke Verknüpfung der Lernorte. Der Fokus liegt vermehrt auf transformalen Kompetenzen und überfachlichen Skills und weniger auf den Fachkompetenzen. Diese Flexibilisierung im Lernen und Aneignen von weiteren Skills soll während der Lernzeit auch die Basis für das lebenslange Lernen legen. Die gegenseitige Unterstützung im Unterricht ist zentral und entlastet auch den Aufwand der Lehrpersonen; und zugleich fördert dies auch eine Kultur des Feedbacks und Austausches innerhalb der Klassen.
In den Gastro- und Bauberufen haben wir sehr motivierte und in das Schulsystem eingebundene Lernende angetroffen. Nicht nur, weil diese zum Beispiel die hausinternen Mensen, Autogaragen und Maler-/Gipserateliers selbstverantwortet führen dürfen, sondern auch, weil ihnen ein grosser Teil des Lernprozesses in die Verantwortung geben wird. Begünstigt durch die Tatsache, dass handwerkliche Berufe in Finnland noch immer einen hohen Stellenwert geniessen und das Erlernen von Skills in diesem Bereich auch einen gesellschaftlichen Auftrag darstellt, sind vielfältig angeeignete Kompetenzen in Bezug auf Arbeitsmarktfähigkeit überlebensnotwendig.
Hamburg: Reduzierte Präsenz in den Betrieben
In Hamburg werden die Lernenden erst im zweiten und vor allem dritten Lehrjahr vermehrt in der Praxis der Lehrbetriebe eingesetzt. Beispiele von Lernenden, die als günstige Fachkraft missbraucht werden, sind offenbar weniger häufig.
Auch in Hamburg ist der Fachkräftemangel in den Gastroberufen und dem Baugewerbe gross. Die Berufslehre gewinnt dadurch in Deutschland wieder an Bedeutung. Die entsprechenden Klassen sind so heterogen zusammengesetzt wie die in der Schweiz, Inklusion und Chancengleichheit sind wichtige Anliegen. Zugleich müssen die Ausbildung in einer möglichst hohen Qualität gewährleistet und die Dropoutquote minimiert werden. In Hamburg besuchen Lernende aus dem Bauhaupt- und Nebengewerbe im ersten Lehrjahr während etwa 60% der Lehrzeit Kurse im Partnerausbildungszentrum. Dieses ist ähnlich wie unsere überbetrieblichen Kurszentren aufgebaut. Über handlungskompetenzorientierte Aufträge werden die Lernenden in die Anforderungen der Berufe eingeführt. Während der restlichen Zeit sind die Lernenden je zur Hälfte in der Berufsschule und im Betrieb. Erst im zweiten und vor allem dritten Lehrjahr werden die Lernenden vermehrt in der Praxis der Lehrbetriebe eingesetzt. Beispiele von Lernenden, die als günstige Fachkraft missbraucht werden, sind offenbar weniger häufig. Die Lernenden sollen mit diesem Ausbildungskonzept eine möglichst einheitliche Grundausbildung bekommen und nicht in Abhängigkeit des Lehrbetriebes oder der aktuellen Marktsituation stehen.
Interessant ist zudem die relativ agile Einteilung der Lehrpersonen. Diese sind nicht über die gesamte Lehrzeit für eine oder mehrere Klassen zuständig, sondern werden nach Bedarf und nach ihren Kompetenzen und Berufserfahrungen eingesetzt. Damit entfällt, dass sich Lehrpersonen in Themen einarbeiten müssen, die sie zu wenig kennen. So wird eine Fachkundelehrperson mit Schwerpunkt Baumanagement in verschiedenen Berufen mit ähnlichen Baugrundlagen eingesetzt. Zugleich können Lernende aus verschiedenen Berufen in einer Klasse modular und flexibel beschult werden. Die Leitung hat damit auch den benötigten Spielraum, auf Klassengrössen und Heterogenität innerhalb der Branche zu reagieren. Natürlich benötigt ein solches System Agilität, die Bereitschaft, sich auf verschiedene Anspruchsgruppen einzulassen sowie den verstärkten Austausch mit beteiligten Lehrpersonen. Dass dies sehr gut funktionieren kann und zugleich auch eine offene und tolerante Kultur in der Schule fördert, haben wir am Beispiel der Bauschule Hamburg sehr eindrücklich mitbekommen.
Zusammenfassung
Im Rahmen unserer Besuche in Finnland und Deutschland lernten wir interessante Antworten auf Herausforderungen kennen, wie sie auch uns beschäftigen – Fachkräftemangel, Lehrvertragsauflösungen, Chancengleichheit, Durchfallquoten im QV. In Finnland werden die Lernenden konsequent in einen Prozess des lebenslangen Lernens geführt; individuelle Bildungspläne tragen dazu bei, dass sie Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen und ihre Lernbiografie aktiv(er) mitgestalten. Der Zeitpunkt des Lehrabschlusses ist frei wählbar. In Deutschland erhalten die Lernenden im ersten Lehrjahr eine gemeinsame berufspraktische Einführung in ihren Beruf. Damit kommen Jugendliche unabhängig von Herkunft und Vorkenntnissen zu einem bestmöglichen Berufsabschluss.
Vermehrtes Lerncoaching, Abschlussprüfungen, die in einen mehrjährigen Lernprozess eingebettet werden und Durchlässigkeiten auch während der Lehrzeit sind drei spannende Ansätze.
In der Schweiz sind wir vermeintlich in einer etwas komfortableren Situation und verlassen uns gerne auf die Tatsache, dass die Mehrheit der Jugendlichen nach der Schule eine Lehre starten. Dieser Schein trügt, in der Gastrobranche und im Bausektor etwa klafft die Schere zwischen Angebot und Nachfrage massiv auseinander. Werden die Weichen in der Politik und Bildungslandschaft nicht bald neu gestellt, werden möglicherweise weitere Berufe auf der Berufslandkarte bedeutungslos oder sogar verschwinden. Gerade das Modell in Finnland hat uns gezeigt, dass es durchaus andere Wege gibt. Vermehrtes Lerncoaching, Abschlussprüfungen, die in einen mehrjährigen Lernprozess eingebettet werden und Durchlässigkeiten auch während der Lehrzeit sind drei spannende Ansätze. Damit nicht die Qualität in Frage gestellt, sondern die Begleitung der Lernenden während der Lehrzeit im Zentrum neu angedacht werden kann, braucht es alle Partner. Es braucht Mut und den Willen, die Branchenausbildungen mit innovativen und alternativen Modellen neu zu denken – nicht im Sinne einer Revision, sondern einer Revolution!
Zitiervorschlag
Aebersold, M., & Brzović, T. (2023). Gedankenanstösse aus Finnland und Hamburg. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(1).