Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Analyse der schriftlichen Prüfungen im Fach Wirtschaft und Gesellschaft der KV-Lehre

Grosse Unterschiede bei der Ermittlung der Erfahrungsnote

Erstmals wurden in der Bildungsforschung Prüfungen untersucht, die Grundlage für die Erfahrungsnote im Fach Wirtschaft und Gesellschaft der KV-Lehre sind. Die Studie kommt zum Schluss, dass aufgrund der in der Stichprobe festgestellten Unterschiede nicht von einer Gleichwertigkeit der Prüfungen bzw. der daraus gewonnenen Erfahrungsnoten ausgegangen werden kann. Spezifische Unterschiede konnten dabei zwischen den Sprachregionen (Deutschschweiz, Romandie/Tessin), zwischen Schulen und auch innerhalb von Schulen festgestellt werden. Mit Blick auf die laufende Reform der kaufmännischen Grundbildung werden erkannte Probleme erläutert und Anstösse formuliert.


Wer derzeit eine Lehre zur Kauffrau bzw. zum Kaufmann E-Profil absolviert, durchläuft ein Qualifikationsverfahren, in dem unter anderem die Leistungen im Fach «Wirtschaft und Gesellschaft» (W&G) mit einer Erfahrungsnote und einer Note für die Lehrabschlussprüfung erfasst werden. Die Erfahrungsnote ergibt sich aus den im Rahmen des Unterrichts in diesem Fach semesterweise erbrachten Leistungen und zählt zu einem Drittel für die Fachnote.

Lehrabschlussprüfungen ziehen aufgrund ihrer Bedeutung als grosses Finale die Aufmerksamkeit auf sich. Einerseits waren kaufmännische Lehrabschlussprüfungen der Deutschschweiz bereits Gegenstand der Bildungsforschung. Andererseits werden die zentral erstellten Prüfungsserien der Deutschschweiz, der Romandie und des Tessins jährlich im Anschluss an die Lehrabschlussprüfungen verglichen. Ziel dieser auf nationaler Ebene institutionalisierten Qualitätssicherung ist es, einen allfälligen Handlungsbedarf zu erkennen, um insbesondere die Gleichwertigkeit zukünftiger Lehrabschlussprüfungen zu gewährleisten.

Prüfungen, die Grundlage für die Erfahrungsnote sind, wurden hingegen erstmals in der Studie zur Qualität von schriftlichen Prüfungen im Fach Wirtschaft und Gesellschaft an kaufmännischen Berufsfachschulen in der Schweiz untersucht. Die vollständige Studie ist online zugänglich. Der vorliegende Artikel stellt die wesentlichen Befunde dieser Studie vor und erläutert davon abgeleitete Erkenntnisse für die laufende Reform der kaufmännischen Berufslehre.

In der genannten Studie wurden 178 einzelne Prüfungen aus dem vierten Semester der Grundbildung des E-Profils inhaltsanalytisch untersucht. Alle Einzelprüfungen, die in einer Klasse während des Semesters eingesetzt wurden, bilden ein Prüfungsset. Die Stichprobe besteht aus 38 Prüfungssets aus 13 Kantonen. Die untersuchten Prüfungen betreffen 810 Lernende der deutschsprachigen Schweiz und 324 Lernende der französischen und italienischen Sprachregion, womit etwa ein Sechstel der gesamthaft gut 7000 Lernenden in die Studie einbezogen wurden.

Die einzelnen Aufgaben wurden insbesondere in Bezug auf die fachlichen Inhalte, die kognitiven Anforderungen, die Kontextualisierung und die Aufgabenformate untersucht.

Die einzelnen Aufgaben bzw. die etwa 9400 in der Regel mit einem Punkt bewerteten Denkschritte wurden insbesondere in Bezug auf die fachlichen Inhalte, die kognitiven Anforderungen, die Kontextualisierung und die Aufgabenformate untersucht. Die Kontextualisierung wurde in Kombination mit anderen Kategorien als Indikator für die Handlungsorientierung der Aufgabenstellung verwendet. So sind beispielsweise Anwendungsaufgaben mit einem Bezug zu einer konkreten Situation stark handlungsorientiert. Im Gegensatz dazu stehen abstrakte, auf das Wissen fokussierte Erinnerungsaufgaben.

Um die Güte der Prüfungssets einzuschätzen, wurden neun relevante Lehrabschlussprüfungen der Jahre 2015–2017 bzw. 1800 bewertete Denkschritte mit derselben Methode untersucht. Die ermittelten Werte wurden beim Vergleich als Benchmark herangezogen.

Die wichtigsten Ergebnisse

Konzis dargestellt, gelangt die Studie bezogen auf die Stichprobe zu den folgenden Ergebnissen:

  • Es gibt grosse Unterschiede in Bezug auf die zu erbringende Leistung für dieselbe Erfahrungsnote. Das kürzeste Prüfungsset der Stichprobe besteht aus drei Einzelprüfungen. Die Lernenden mussten dabei 120 bewertete Denkschritte in der Prüfungsdauer von gesamthaft 105 Minuten erbringen. Das längste Prüfungsset der Stichprobe weist die Prüfungsdauer von 480 Minuten auf und besteht aus über zehn Einzelprüfungen und verlangt mit insgesamt 480 geprüften Denkschritten das Vierfache von den Lernenden. Im Mittelfeld umfasst ein Prüfungsset etwa 230 Denkschritte, die in einer gesamten Prüfungsdauer von 270 Minuten zu erbringen sind.
  • Was die fachlichen Inhalte betrifft, sind 35% der Aufgaben der Stichprobe anwendungsorientierte Buchführungs- und Rechenaufgaben. Dies ist im Vergleich zur Lektionendotation gemäss dem Bildungsplan und nach Massgabe der Idee einer repräsentativen Prüfung ein zu hoher Anteil. Angemessen wäre ein Anteil von 26%. Es scheint, dass Prüfungsaufgaben zum Rechnungswesen von Seiten der Lehrpersonen beliebt sind. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrpersonen dem kaufmännischen Denken in dieser grundlegenden Systematik von Aktiven, Passiven, Aufwand und Ertrag und damit zusammenhängenden Fragestellungen eine hohe Bedeutung beimessen und im Unterricht (zu)viel Zeit investieren. Auch könnten Überlegungen zur Ökonomie der Beurteilung der Prüfungsleistung einer Rolle spielen.
  • Was die kognitiven Anforderungen betrifft, fallen die grossen Anteile von Erinnerungsaufgaben ohne Situationsbezug auf. Im Durchschnitt beträgt der Anteil rund 32%. Zum einen sind solche Aufgaben nur mit einem geringen kognitiven Anspruchsniveau verbunden. Zum anderen tragen diese Aufgaben wegen des fehlenden Bezugs zu einer konkreten Situation nur wenig zur Prüfung einer beruflichen Handlungskompetenz bei. Jedoch müsste eben diese Handlungskompetenz gemäss der Bildungsverordnung 2012 als Ziel der beruflichen Grundbildung angepeilt werden.[1] Allerdings gibt es grosse Unterschiede zwischen den Prüfungssets: Der Anteil an Erinnerungsaufgaben reicht von knapp 15% bis zu knapp 60%. Ein hoher Anteil an solchen Aufgaben bedeutet, dass entsprechend weniger handlungsorientierte Verständnis- und Anwendungsaufgaben gestellt werden.
  • Was die Kontextualisierung betrifft, weisen mit einem durchschnittlichen Anteil von 56% die meisten Aufgaben erwartungsgemäss einen konstruierten Situationsbezug auf. Mit einem Anteil von 38% sind viele Aufgaben abstrakt formuliert, sodass die Aufgabenstellung in keiner konkreten Situation eingebettet ist. Aufgaben mit realen Bezügen zur Aktualität gibt es mit 5% demgegenüber eher selten.
  • Was die Aufgabenformate betrifft, werden mit einem Anteil von ca. 40% sehr viele Rechen- und Buchführungsaufgaben gestellt und mit 22% häufig Kurzantworten (z. B. ein Fachbegriff) verlangt. Nur für 13% der Aufgaben müssen ausführliche Argumentationen festgehalten werden. 7% der Aufgaben sind Zuordnungsaufgaben, bei denen es gilt, Beispiele in ein Gliederungssystem zu klassifizieren. Mit einem Anteil von weiteren 7% kommen Alternativaufgaben in den Prüfungen zu häufig vor. Solche Aufgaben sind meistens kognitiv wenig anspruchsvoll. Und insbesondere wegen der Zufallskomponente sind sie als unerwünscht einzustufen, denn mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% kann die Aufgabe – ganz ohne entsprechende fachliche Kompetenz – richtig gelöst werden.
  • Was die Validität bezüglich der fachlichen Inhalte betrifft, entsprechen durchschnittlich nur 90% der geprüften Inhalte den vom Bildungsplan vorgegebenen Leistungszielen. Durchschnittlich 10% der Aufgabenstellungen erfüllen das Kriterium der Validität in Bezug auf den geprüften Inhalt nicht. Das Bild ist allerdings heterogen: Über die Prüfungssets hinweg liegen diese Anteile – schön verteilt – zwischen rund 2% und 20%. In einem Einzelfall erreicht der Anteil an nicht lehrplankonformen Inhalten sogar über 30%. Im Vergleich dazu: Bei den in der Studie ebenfalls untersuchten Lehrabschlussprüfungen liegt dieser Anteil bei nur 2%.
  • Was die Validität bezüglich der Denkprozesse betrifft, stellen 10% der Aufgaben nach Massgabe der Vorgaben des Bildungsplans zu hohe kognitive Anforderungen an die Lernenden. Im Vergleich dazu: Bei den in der Studie ebenfalls untersuchten Lehrabschlussprüfungen wurden zu hohe kognitive Anforderungen in nur 3,5% der Aufgaben festgestellt.
  • Im Vergleich zur Güte der Lehrabschlussprüfungen gibt es bei den Prüfungen, die Grundlage für die Erfahrungsnote sind, noch Potenzial, um die curriculare Validität zu verbessern.
  • Schliesslich kann wegen der erfassten Heterogenität insbesondere in Bezug auf die unterschiedlichen kognitiven Anforderungen und Unterschiede hinsichtlich der Gültigkeit der geprüften Inhalte sowie der stark abweichenden Anzahl an einzelnen Prüfungen und der Unterschiede in der gesamten Prüfungsdauer der Prüfungssets nicht von einer Gleichwertigkeit der Prüfungssets bzw. der daraus gewonnen Erfahrungsnoten ausgegangen werden.

Wegen der erfassten Heterogenität kann nicht von einer Gleichwertigkeit der Prüfungssets und der Erfahrungsnoten ausgegangen werden.

Erkenntnisse und Problemfelder

Mit Blick auf die bevorstehende totalrevidierte kaufmännischen Grundbildung, lassen sich aus der dargestellten Studie folgende Erkenntnisse und Problemfelder ableiten:

1. Problem: «Long-BiVo»

Die Studie zeigt auf, dass obsolete Elemente ehemaliger Bildungskonzepte und -reglemente sogar über Jahrzehnte nach ihrer Ausserkraftsetzung im Schulalltag erhalten bleiben können. Von der Langzeitwirkung der Bildungsverordnungen (BiVo) sind konkret Strukturen und Inhalte betroffen.

In Bezug auf die Strukturen zeigt die Stichprobe, dass es Unterschiede im didaktischen Ansatz und Verständnis des Prüfens für die Erfahrungsnote im Fach W&G gibt. Mit der KV-Reform 2003 und der Einführung des Fachs W&G wollte der Gesetzgeber erreichen, dass sich die Lernenden mit den verschiedenen (finanzwirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen) Aspekten eines Problems auseinandersetzen. Die fachbereichsübergreifende Betrachtung der Lerninhalte innerhalb des Fachs W&G sollte das ganzheitliche Verständnis stärken und die kaufmännische Handlungskompetenz entwickeln. Die vorliegende Studie zeigt aber, dass nur gut 75% der Prüfungssets aus der Stichprobe fachbereichsübergreifenden Charakter haben und der angedachten Stossrichtung im Fach W&G entsprechen. Jedes vierte Prüfungsset ist – überraschenderweise – fachbereichsspezifisch abgegrenzt. Faktisch entspricht Letzteres der Struktur des KV 1986, als die einzelnen Fachbereiche (Betriebskunde, Buchhaltung usw.) separat unterrichtet und geprüft wurden. Gründe für den Erhalt alter Strukturen mögen in der Interpretation neuer Bildungsverordnungen, in der Rücksichtnahme auf die vorhandenen Ressourcen und der organisatorischen Umsetzung durch Schulleitungen, Fachschaften und Lehrpersonen liegen.

In Bezug auf die Inhalte zeigt die Stichprobe, dass gewisse Inhalte aus vorangehenden Bildungskonzepten der kaufmännischen Grundbildung der Jahre 1986 und 2003 den Reformbemühungen standhalten. Gründe dafür mögen in den Lehrmitteln und Unterrichtsunterlagen zu finden sein oder vielleicht in der persönlichen Überzeugung der Lehrpersonen für gewisse, als bedeutsam empfundene Inhalte liegen. Wesentlich ist dabei das Verständnis dafür, dass die im Bildungsplan aufgeführten Leistungsziele die Mindestanforderungen für den Unterricht festlegen und zugleich den Maximalanspruch für die Prüfungen darstellen. Unterrichtsinhalte, die über diesen Rahmen hinausgehen, können erwünscht sein, dürften jedoch nicht Gegenstand einer Prüfung sein.

Schlussfolgerung: Die anstehende Reform wird dann sinngemäss umgesetzt, wenn die Akteure im schulischen Alltag dafür gewonnen und überzeugt werden, bewährte Routinen fallenzulassen und durch die Integration der Fächer neue Schulorganisationsstrukturen und Unterrichtsinhalte zu entwickeln.

2. Problem: Die Dominanz des fachspezifischen Silo-Denkens

Die Studie zeigt auf, dass das fachspezifisch organisierte Denken dominiert und die Reform (auch) für die Lehrpersonen im Fach W&G eine Herausforderung darstellen wird.

Die Stichprobe weist darauf hin, dass nur 75% der Prüfungssets die oben erwähnte bisherige didaktische Stossrichtung des Fachs W&G erfüllen. Doch auch wenn die Prüfungen im Allgemeinen eine Mischung aus den Fachbereichen von W&G enthalten, werden die Inhalte kaum integrativ geprüft. Es wurde und wird einfach (und bisweilen auch nicht wirklich zu Unrecht) nur fachbereichsspezifisch entlang des steuerungswirksamen Leistungszielkatalogs der Bildungsverordnung 2012 geprüft.

Schlussfolgerung: Die anstehende Reform wird dann umgesetzt, wenn es den Lehrpersonen gelingt, die Grenzen des bisherigen fachbezogenen Ansatzes zu durchbrechen, sodass in der Schule ein ganzheitliches Lernen anhand von Problemstellungen und Aufgaben mit konkretem Situationsbezug ermöglicht wird.

3. Problem: Die Heterogenität bei der Ermittlung der Erfahrungsnote

Die Studie zeigt auf, dass es eine grosse Heterogenität im Bereich der Erfahrungsnote, also der Messung der Leistung im wenig standardisierten Bereich des schulischen Alltags gibt.

Die Stichprobe offenbarte – je nach Aspekt – solche Unterschiede, wie sie oben beschrieben wurden, über die Sprachregionen (Deutschschweiz, Romandie/Tessin) hinweg, zwischen Schulen aber auch innerhalb von Schulen.

Aufgrund schulspezifischer Umsetzungen der Reform, der Vielfalt an Prüfungsformen und der zunehmenden Digitalisierung ist davon auszugehen, dass die Heterogenität zwischen den Schulen im Bereich der Erfahrungsnote weiter zunehmen wird.

Schlussfolgerung: Es sollte speziell darauf geachtet werden, dass die aufkeimende Vielfalt im Quervergleich im Einklang mit dem Grundsatz der Chancengerechtigkeit steht, damit die Anforderungen verschiedener Bildungskonzepte im Bereich der Erfahrungsnote als gleichwertig empfunden werden können.

[1] Mit der laufenden Reform der kaufmännischen Grundbildung ist der Begriff der Handlungskompetenz in den Mittelpunkt vieler Gespräche gerückt. Dabei handelt es sich nicht prinzipiell um ein neues Paradigma. Das der kaufmännischen Grundbildung zugrundeliegende Kompetenzkonzept geht auf Roth (1971) zurück, wurde bereits mit dem Reglement 2003 eingeführt und ist auch in der aktuellen Bildungsverordnung 2012 enthalten. Im laufenden Jahr 2023 gibt es demnach zweierlei zu feiern: 20 Jahre Kompetenzorientierung in der kaufmännischen Grundbildung und den Schulstart der neuen Reform-Klassen. Das Neue wird spürbar sein: Mit der neuen Lehre soll das Bildungsziel über die drei Lernorte – dem Lehrbetrieb, den überbetrieblichen Kursen (üK) und der Berufsfachschule – und über die (bisherigen) Fachdisziplinen hinweg vermehrt integrativ erreicht werden.
Zitiervorschlag

Spengler, P. (2023). Grosse Unterschiede bei der Ermittlung der Erfahrungsnote. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(1).

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