Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Plädoyer für eine bessere Zusammenarbeit der drei Lernorte

Mehr Miteinander in der Berufsbildung

Eines der Probleme des Schweizer Berufsbildungssystems besteht in der mangelhaften Zusammenarbeit der drei Lernorte. Die Schweizerische Direktorinnen und -Direktorenkonferenz der Berufsfachschulen (SDK) hat das Thema an ihrer Herbsttagung aufgenommen und acht Thesen dazu formuliert. Sie sieht die Schulen und ihre Lehrpersonen in der Pflicht, bei der Verbesserung der Lernortkooperation eine Führungsrolle zu übernehmen. Dazu müsse zunächst ein gemeinsames pädagogisch-didaktisches Verständnis aller drei Lernorte geschaffen werden. Zudem sollten überfachliche Kompetenzen im Vergleich zu fachlichen Inhalten gestärkt werden.


Die drei Lernorte verfügen über unterschiedliche pädagogisch-didaktische Grundhaltungen, unterschiedliche Wertesysteme und unterschiedliche Grundinteressen, wenn sie Jugendliche und junge Erwachsene ausbilden.

In der dynamischen Welt der Berufsbildung steht die Schweiz national und international stets im Rampenlicht – sei es als herausragendes Beispiel der Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt oder als erfolgreichste europäische Nation bei den Worldskills. Diesen Ruf verdankt sie nicht nur der Exzellenz ihrer Ausbildungsprogramme, sondern auch der engen Zusammenarbeit der drei Lernorte: Schule, Betrieb und überbetrieblicher Kurs.

Dieses «triale» Ausbildungsmodell ist eines der Merkmale eines erfolgreichen Berufsbildungssystems; es ermöglicht den Lernenden, ihre Fähigkeiten praxisnah zu entwickeln und sich nahtlos in die Arbeitswelt zu integrieren. Dabei verfügen die drei Lernorte über drei verschiedene ineinander verzahnte Aufgaben: Während der Lehrbetrieb die praktische Ausbildung im jeweiligen Berufsfeld gewährleistet, liegt die Aufgabe der Berufsfachschule in der Verknüpfung dieser beruflichen Kompetenzen mit theoretischen Fachkenntnissen sowie allgemeinbildenden Inhalten. In den überbetrieblichen Kursen wird – ergänzend zur Bildung in Betrieb und Berufsfachschule – der Erwerb grundlegender praktischer Fertigkeiten vermittelt.

Drei Lernorte – aber wer hat die Aufgabe der Koordination?

Die Verzahnung der drei Lernorte in Bezug auf die Lerninhalte ist eine der wichtigen Prämissen, die im Berufsbildungsgesetz von 2004 verpflichtend für alle Berufe verankert wurde. Allerdings verfügen die drei Lernorte über unterschiedliche pädagogisch-didaktische Grundhaltungen, unterschiedliche Wertesysteme und unterschiedliche Grundinteressen, wenn sie Jugendliche und junge Erwachsene ausbilden. Der Gesetzgeber hat diese Problematik erkannt und im Berufsbildungsgesetz festgehalten: «Zur Erreichung der Ziele der beruflichen Grundbildung arbeiten die Anbieter der Bildung in beruflicher Praxis und der schulischen Bildung sowie der überbetrieblichen Kurse zusammen.»[1] Zudem hat er bestimmt, wer die Rolle der Koordination wahrnehmen soll, nämlich die jeweils zuständige Berufsfachschule: «Sie kann Koordinationsaufgaben im Hinblick auf die Zusammenarbeit der an der Berufsbildung Beteiligten übernehmen.»[2]

Die Kann-Formulierung lässt allerdings Spielräume offen: Die Berufsfachschulen sind nicht verpflichtet, die Koordinationsaufgaben zu übernehmen. Zudem verfügen sie über keine Hebel gegenüber den beiden anderen Lernorten. So sind die Berufsfachschulen nicht befugt, Lehrbetriebe, die nie bei einer Koordinationssitzung auftauchen, zu Teilnahme anzuhalten. Auch den Abteilungen betriebliche Bildung der kantonalen Berufsbildungsämter, die die Aufsicht über die Lehrbetriebe innehaben, sind die Hände gebunden: Die Koordination der Lernorte fäll nicht in ihren Aufgabenbereich.

Ein gemeinsames didaktisch-pädagogisches Verständnis wäre hilfreich

Lernende fühlen sich dort wohl, wo sie verstanden werden. Ein gemeinsames Verständnis aller drei Lernorte in Bezug auf ein gemeinsames Führungsverständnis wäre sehr hilfreich.

Dennoch zeigt der Blick in die Praxis, dass die meisten Berufsfachschulen die Koordinationsaufgabe unter den Lernorten wahrnehmen. Im Berufsbildungszentrum IDM in Thun etwa laden die meisten Berufsgruppenverantwortlichen die weiteren Lernorte alle zwei bis drei Jahre zu einem LOK-Treffen (Lernortkooperation) ein. Hier werden Themen wie veränderte Bildungspläne, Beratungsthemen, Lehrabbrüche, die Zusammenarbeit unter den Lernorten oder der Einsatz von Lehrmitteln diskutiert.

Gemäss Angaben der Verantwortlichen gibt es einen starken inhaltlichen Fokus auf die Zusammenarbeit punkto Fachkompetenz und den Informationsfluss unter den Lernorten. Was bei diesen Treffen meist nicht diskutiert wird, ist der Erwerb von überfachlichen Kompetenzen oder übergeordnete Themen wie ein gemeinsames didaktisch-pädagogisches Grundverständnis oder eine gemeinsame Wertehaltung in Bezug auf Umgang und Führungsverhalten. Diese Dinge sind nicht nur an den drei Lernorten unterschiedlich. Auch innerhalb der Gruppe der betrieblichen Lernorte gibt es unterschiedlichste Ausprägungen. Grossbetriebe wie die SBB, Swisscom oder die Post sind mit modernen, agilen und transformativen Führungs- und Ausbildungsgrundsätzen unterwegs, während viele kleinere gewerbliche Betriebe eher transaktional und traditionell ausbilden.

Das führt dazu, dass die Lernenden in der Berufsfachschule über sehr unterschiedliche Erfahrungen berichten. Manche erzählen, dass sie teilweise Mühe hätten mit dem rauen Tonfall in ihrem Betrieb und Angst, dies anzusprechen, weil sie mit Repressionen rechnen. Auch die Beratungsdienste der Schulen sehen sich nicht selten mit Situationen in Lehrbetrieben konfrontiert, die nicht mehr zeitgemäss und belastend für Jugendliche und junge Erwachsene sind. Manche von ihnen bekommen Probleme während der Ausbildung. Die Beratungsdienste am Berufsbildungszentrum IDM Thun bestätigen, dass psychische Probleme zunehmen. Die Fallzahlen in der Beratung haben sich in den letzten Jahren bei ungefähr gleichbleibender Zahl von Lernenden fast verdoppelt.

Lernende fühlen sich dort wohl, wo sie verstanden werden. Ein gemeinsames Verständnis aller drei Lernorte in Bezug auf ein gemeinsames Führungsverständnis wäre sehr hilfreich. Fragt man bei den zuständigen Berufsverbänden, heisst es, man sei sich bewusst, dass in manchen Betrieben ein rauer Ton herrsche und Lernende zum Teil als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden; dies seien aber einige wenige Ausnahmen. Das mag richtig sein: Die meisten Lehrbetriebe bilden sehr engagiert und professionell aus. Aber können wir es hinnehmen, dass einzelne Lernende einfach Pech haben und in einem Betrieb landen, der statt an der Ausbildung an ihrer Arbeitskraft interessiert ist?

Warum übernimmt niemand die Verantwortung für die Lernortkooperation?

Das Berufsbildungskonzept ist durchdacht und – mit der Berufsmaturität und der Höheren Berufsbildung ergänzt – scheinbar unschlagbar. In der gelebten Praxis aber sind wir noch nicht dort, wo wir hinwollen; das sagen auch Berufsbildnerinnen von namhaften Betrieben. Sie wünschen sich mehr und bessere Informationen von Seiten der Berufsfachschulen. Die Berufsfachschulen ihrerseits klagen bisweilen über zu viel produktiven Einsatz der Lernenden und zu wenig Anleitung und Unterstützung im Lernprozess. Die überbetrieblichen Kurse schliesslich bemängeln am schulischen Unterricht, dass er zu wenig praxisorientiert sei und die Fertigkeiten und fachlichen Kompetenzen der Lernenden zu wenig im Fokus habe. Immerhin sind sich beinahe alle Beteiligten einig darin, dass man die Lernortkooperation verbessern sollte.

Acht Thesen der Rektorenkonferenz SDK

Die SDK wird sich weiterhin intensiv für eine vertiefte Lernortkooperation einsetzen. Dabei sollen die acht Thesen die Leitlinie unseres Vorgehens sein.

Vor diesem Hintergrund stellte die Schweizerische Direktorinnen und -Direktorenkonferenz der Berufsfachschulen SDK ihre letzte Herbsttagung unter das Motto «Lernortkooperation – Potenziale für Bildungsanbieter». Die Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung an den Lernorten, so ist man überzeugt, gelingt nur über Zusammenarbeit. Ein Ergebnis der Tagung waren folgende acht Thesen:

  1. Die Lernenden ins Zentrum stellen!
  2. Wenn wir von diesem Leitsatz ausgehen, ergeben sich automatisch Konsequenzen – z.B. das gemeinsame Nutzen derselben Lernplattformen oder das Erstellen eines gemeinsam genutzten Lernportfolios jedes Lernenden. Dazu muss der Wille zur Kooperation aller drei Lernorte gefördert werden.
  3. Zunächst muss ein gemeinsames pädagogisch-didaktisches Verständnis aller drei Lernorte geschaffen werden. Dieses soll mit den Bildungsplänen, Lehrmethoden und Bewertungskriterien verschmolzen werden. Nur wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, können die Lernenden die bestmögliche Ausbildung erhalten. In diesen Rahmen gehört auch eine Auseinandersetzung über den Stellenwert überfachlicher Kompetenzen. Fragt man die betrieblichen Ausbildner nach den wichtigsten Kompetenzen, die die Lernenden mitbringen sollen, so erwähnen die meisten Sozialkompetenzen: Guter Umgang mit Kundinnen und Kunden, Teamfähigkeit und «anständiges Grüssen». Schaut man dann die konkreten Bildungspläne und die entsprechenden zu erwerbenden Kompetenzen in den drei Lernorten an, so steht die fachliche Kompetenz nach wie vor an oberster Stelle.
  4. Es muss gemeinsame Absprachen und Meetings zwischen den drei Lernorten geben. Das erfordert Engagement, Kommunikation und vor allem Ressourcen. Es ist unerlässlich, dass alle Beteiligten die nötigen Mittel erhalten oder zur Verfügung stellen, um regelmässige Absprachen und Meetings zu ermöglichen. Diese Treffen dienen nicht nur dazu, Probleme zu lösen und Best Practices auszutauschen; sie ermöglichen es auch, ein gemeinsames Verständnis für das Ausbildungsverhalten der Lehrerinnen, der Ausbilder und der ÜK-Instruktorinnen und Instruktoren zu entwickeln.
  5. Die Profile der Ausbildnerinnen in Unternehmen sollen in Zukunft deutlich stärker pädagogisch-didaktische Kompetenzen aufweisen, da sie zunehmend die Rolle von Coaches respektive Lernbegleitenden übernehmen.
  6. Digitale Kompetenzen der Ausbildenden werden im Zuge der zunehmenden Kooperation für die betriebliche Bildung immer zentraler.
  7. Lehrpersonen spielen eine Schlüsselrolle bei der Lernortkooperation. Um diese Rolle wahrnehmen zu können, brauchen sie eine gewisse Freiheit. Zudem muss der Informationsfluss zwischen den Lernorten über strukturelle Grundvoraussetzungen gesichert sein.
  8. Die Entwicklung weg vom Einzelkämpfertum hin zum Teamplayer und «Kompetenzkoordinator» zwischen den Lernorten soll vorangetrieben werden.

Die Schweiz hat die Chance, eine Revolution in der Berufsbildung anzuführen, indem sie das Konzept der Lernortkooperation auf eine neue Ebene hebt. Indem wir gemeinsam die Zukunft gestalten und uns dem für die Schweizer Berufsbildung provokativen Gedanken stellen, dass es immer Raum für Verbesserungen gibt, können wir sicherstellen, dass wir weiterhin an der Spitze bleiben – nicht nur national, sondern auch international. Lasst uns gemeinsam die Herausforderung annehmen und die nächste Ära der kollaborativen Bildung einläuten.

Die SDK wird sich weiterhin intensiv für eine vertiefte Lernortkooperation einsetzen. Dabei sollen die acht Thesen die Leitlinie unseres Vorgehens sein. Und wir werden darauf drücken, dass mit einem neuen Berufsbildungsgesetz die Formulierung bei Artikel 21 heisst: «Die Berufsfachschulen tragen die Verantwortung für Koordinationsaufgaben im Hinblick auf die Zusammenarbeit der an der Berufsbildung Beteiligten und verfügen damit über die entsprechenden Instrumente zur Einforderung der Zusammenarbeit.»

Für die SDK, Ben Hüter Mitglied des Vorstands SDK

[1] Schweizerisches Berufsbildungsgesetz, Artikel 16 Absatz 5
[2] Schweizerisches Berufsbildungsgesetz, Artikel 21 Absatz 6 
Zitiervorschlag

Hüter, B. (2024). Mehr Miteinander in der Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(6).

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