Berufsbildung in Forschung und Praxis
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«Ausbilden und Lernen am dritten Lernort», hep Verlag

Labor für eine zeitgemässe berufliche Bildung

Die überbetrieblichen Kurse (üK) stehen in der Regel im Schatten der beiden mächtigen Lernorte Berufsfachschule und Lehrbetrieb. Ein im hep Verlag erschienenes Buch von Fachleuten der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) will das ändern: «Ausbilden und Lernen am dritten Lernort» klärt die Eigenheiten einer lernortspezifischen Didaktik und macht konkrete Vorschläge zur Planung und Durchführung von Ausbildungssequenzen sowie zur Begleitung und Beurteilung von Lernenden am dritten Lernort. Im Gespräch mit Transfer legen die beiden Autoren und die Autorin des Buches dar, dass sich der Grundsatz der Handlungskompetenzorientierung in den überbetrieblichen Kursen zwar weitgehend durchgesetzt habe. Dennoch bleibe noch Luft nach oben: So im Bereich des selbstgesteuerten Lernens oder der Lernortkooperation.


Wenn man ein Buch schreibt, geht man davon aus, dass das nützlich ist. Warum braucht es Ihr Buch?

Marlise Kammermann Der dritte Lernort ist eine spezifisch schweizerische Einrichtung. In Deutschland existiert zwar auch eine überbetriebliche Ausbildung, aber nicht gesetzlich verpflichtend für alle Berufe. Sie ist nur dort verbreitet, wo die betriebliche Ausbildung nicht vollumfänglich gewährleistet werden kann. So existiert zu diesem Lernort wenig Literatur – in der Schweiz nur zwei Titel.[1] Diese beleuchten den dritten Lernort aus einer entstehungsgeschichtlichen sowie systemisch-strukturellen, aber nicht aus einer didaktischen Perspektive. Das holen wir mit unserem Buch nach. Es richtet sich an alle Berufsbildungsverantwortlichen – vor allem die theoretischen Kapitel nehmen alle Lernorte in den Blick –, im Besonderen jedoch an Ausbildende in überbetrieblichen Kursen (üK); zu ihnen zählen die Studierenden in unseren Zertifikatsstudiengängen für Ausbildnerinnen und Ausbildner im üK und vergleichbaren dritten Lernorten.

Thomas Meier Das Buch soll zudem die Ausbilderinnen und Ausbilder des dritten Lernortes als Gruppe adressieren und wertschätzen – und damit Zugehörigkeit schaffen.

Was zeichnet das Lernen am dritten Lernort im Vergleich zu Schule und Betrieb aus?

Michael Jöhr Das Berufsbildungsgesetzt erwähnt den dritten Lernort in Artikel 23 («Überbetriebliche Kurse und vergleichbare dritte Lernorte»). Es beschreibt ihn als Ort der Vermittlung und des Erwerbs grundlegender Fertigkeiten. Die üK sind damit integraler Bestandteil des Berufsbildungssystems; das lässt sich dann etwa in den Bildungsplänen ablesen, die Handlungskompetenzen für alle drei Lernorte beschreiben. Methodisch stehen die üK zwischen den beiden anderen Lernorten; sie verbinden die praktische betriebliche Bildung mit der theoretischen in der Schule. Walter Goetze sprach in einem der erwähnten Bücher von einer Verzahnung der beiden Lernorte. In handlungskompetenz-orientierten üK-Lernsettings kann bewusst ein Fokus auf das Üben, Analysieren und Reflektieren gelegt werden. Der unmittelbare Zeit- und Handlungsdruck des Betriebes fällt zu einem grossen Teil weg. Dies eröffnet Möglichkeiten für die vertiefte handlungsorientierte Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten; ausserdem können Fehler im Erarbeitungsprozess bewusst als Lerngelegenheit genutzt werden.

Ein Ort mit mehr Freiheiten als in Betrieb und Schule?

Michael Jöhr Das ist sehr unterschiedlich. In einzelnen Berufen sind die Vorgaben des Bildungsplanes sehr eng, in anderen haben die Ausbildenden recht viele Freiheiten. Hinzu kommt, dass auch in den Vorgaben der OdA der verschiedenen Berufe grosse Unterschiede hinsichtlich der Detaillierung bestehen. Sehr unterschiedlich sind auch die zur Verfügung stehenden Stundenzahlen; diese reichen von rund 12 bis zu mehr als 60 Tagen über die Gesamtdauer der beruflichen Grundbildung hinweg. Differenzen gibt es zudem in der zeitlichen Anordnung; gewisse Kurse dauern nur einzelne Stunden, andere hingegen mehrere Wochen.

Welche Organisationsform empfehlen Sie?

Sehr unterschiedlich sind auch die zur Verfügung stehenden Stundenzahlen; diese reichen von rund 12 bis zu mehr als 60 Tagen über die Gesamtdauer der beruflichen Grundbildung hinweg. Michael Jöhr

Michael Jöhr Zu kurze Blöcke sind sowohl für die Lernenden als auch für die Leitungspersonen eher ungünstig; das Eintauchen in ein Thema, das Üben von Arbeitsschritten, die Lernbegleitung und der sinnvolle Abschluss erfordern mehr Zeit. Ideal sind Blöcke von mindestens einer Woche.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer «lernortspezifischen Didaktik». Welches sind die wichtigsten Elemente dieser Didaktik?  

Thomas Meier Im üK werden Handgriffe, Abläufe, Arbeitsschritte geübt. Man hat mehr Zeit für Wiederholungen, Fehler können lernfördernd genutzt werden. Die Ausbildnerin ist Coach oder Lernbegleiterin. Unsere Idee der lernortspezifischen Didaktik stellt vier Dimensionen in den Vordergrund:

  • Die Lernenden setzen sich mit repräsentativen Berufssituationen und eigenen Erfahrungen auseinander.
  • Problemlöseorientierung. Die Lernenden analysieren Situationen, erarbeiten Lösungsansätze und setzen diese um.
  • Die Lernenden wenden kompetenzorientiert an, üben, reflektieren und transferieren.
  • Förderorientierung. Die Lernenden werden gemäss ihrer individuellen Voraussetzungen und Potenziale unterstützt.

Methodisch bedeutet dies die Simulation von ganzen oder zerstückelten Handlungen, die Fokussierung auf (Teil-)Aspekte, das Experimentieren, wenn Handlungen ausprobiert, verglichen und überprüft werden können, das Anwenden, Vertiefen und Üben und schliesslich Reflektieren.

Einige Kapitel in Ihrem Buch beginnen mit der Schilderung von misslingenden Unterrichtssequenzen. In Kapitel 3 etwa langweilt sich Dario über einen Monolog des üK-Instruktors zum Thema Pflanzenschutzgeräte. Wird noch oft so unterrichtet?

Michael Jöhr Nur noch selten. Dank der handlungsorientierten Settings erleben wir bei unserem Besuchen kaum je überlange theoretische Einführungen in ein Thema. In der Regel sind die Lernenden am Arbeiten. Trotzdem gibt es Verbesserungspotenzial.

  1. Erstens ist die Lernortkooperation noch immer ungenügend. Das führt oft zu einem Durcheinander der Lerninhalte, da diese beispielsweise zeitlich nicht abgestimmt sind; das schafft zum Teil Verwirrung.
  2. Zweitens wird zu wenig auf die betrieblichen Arbeitserfahrungen der Lernenden eingegangen. Viele Ausbildende nutzen deren Vorwissen zu wenig; dabei berichten die Jugendlichen gerne über ihre betrieblichen Erfahrungen, und das würde auch die Lernortkooperation erleichtern.
  3. Drittens bleibt am Schluss der Kurse oft zu wenig Zeit, um den Arbeitsprozess abzuschliessen und den individuellen Lernfortschritt festzuhalten. Die Reflexion, die realistische Selbsteinschätzung, der Transfer in den Betrieb – das kommt oft zu kurz.

Wie kann Vorwissen aktiviert werden?

Michael Jöhr Nützlich ist es, wenn Ausbildende früher im Zentrum eintreffen und mit den Lernenden ins Gespräch kommen: Wo arbeiten sie, welche Tätigkeiten verrichten sie? Sinn macht auch, die Lernenden aufzufordern, Beispiele von Umsetzungen und Erarbeitungen, etwa dokumentiert auf einem Foto oder Video, mitzunehmen. In unserem Buch führen wir das detaillierter aus. Wichtig sind das Bewusstsein, dass Vorerfahrungen eine reichhaltige Ressource darstellen und der Wille, diese wirklich zu nutzen.

Sie schreiben, dass den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden durch ein hohes Mass an Individualisierung Rechnung getragen werden müsse. Wie geht das?

Ausbildende müssen fähig sein, die Lernenden zu beobachten und zu diagnostizieren, wo diese stehen, entsprechend differenzierende Lernsettings zu gestalten und die Lernenden adaptiv zu begleiten. Marlise Kammermann

Marlise Kammermann Die Heterogenität in der beruflichen Grundbildung ist enorm. Da sind soziokulturelle Unterschiede, unterschiedliche Lern- und Leistungsvoraussetzungen, vielfältige betriebliche Realitäten. Ums Individualisieren kommt man im üK gar nicht herum. Das heisst nicht, dass man die Lernenden sich selbst überlässt. Ausbildende müssen fähig sein, die Lernenden zu beobachten und zu diagnostizieren, wo diese stehen, entsprechend differenzierende Lernsettings zu gestalten und die Lernenden adaptiv zu begleiten. Das alles ist in den üK gut möglich, weil die Lernenden ja meist einzelne Arbeitsschritte oder ganze Arbeitsprozesse ausführen. Individuelles Begleiten findet tatsächlich in einem hohen Masse statt, wie ich bei meinen Ausbildungsbesuchen im üK immer wieder feststelle.

Thomas Meier Das ist eine Frage der Perspektive, mit der man den Unterricht vorbereitet: Habe ich den Fokus aufs Lehren oder aufs Lernen, denke ich von mir selber her oder aus der Sicht der Lernenden? Tut man Letzteres, so überlegt man automatisch, wo die Lernenden stehen. In unserer Ausbildung an der EHB versuchen wir, dieses Verständnis zu stärken. Lernen ist ein konstruktivistischer Prozess, in dessen Zentrum das Individuum steht, und nicht einfach das Nachahmen oder die Wissensvermittlung. Die Ausbildungssettings sollten ein selbstgesteuertes und -verantwortetes, situiertes und problemlöseorientiertes Lernen ermöglichen. Die ük als Schnittstelle von Theorie und Praxis ist prädestiniert für dieses Lernverständnis, ja es könnte ein Labor für den Unterricht in den Schulen und das betriebliche Lernen sein. Das sollte noch bewusster wahrgenommen werden; wir brauchen noch mehr Förderorientierung, noch mehr Lernendenorientierung; ich beobachte noch zu viele Ausbilder, die instruieren.

Der üK als Labor des beruflichen Lernens in Schulen und Betrieb?

Marlise Kammermann Warum nicht? In vielen üK ist genügend Raum und Zeit vorhanden, ganzheitliche Arbeits- oder Problemlöseprozesse zu durchlaufen. Um solche erfolgreich zu bewältigen, müssen Lernende ihre Arbeitshandlungen antizipieren, planen, überwachen und kontrollieren können. Diese sogenannten metakognitiven Strategien sind wichtige Komponenten der beruflichen Handlungskompetenz, die es in der beruflichen Grundbildung aufzubauen gilt. Das ist eine grosse Chance, ja, und könnte Modellcharakter haben.

Das Buch nennt auch als Aufgabe der Ausbildenden die «eigene Selbstfürsorge». Warum betonen Sie das?

Thomas Meier Die meisten Ausbilderinnen und Ausbilder – zumal die Nebenberufler – sind vielfältig engagierte Leute. Neben der Kursleitung arbeiten sie im Betrieb, bilden dort Lernende aus oder führen gar ein eigenes Geschäft und unterrichten vielleicht noch im Kleinstpensum an der Berufsfachschule. Viele agieren zudem als Chef- oder Prüfungsexpertinnen, in Arbeitsgruppen der OdA oder bringen sich privat in Vereinen ein. Darin liegt die Gefährdung, dass die vielen Anforderungen auch einmal zu viel werden können. Die Auseinandersetzung mit den beruflichen und privaten Aufgaben, Rollen und Erwartungen ist damit eine wichtige und lebenslange Entwicklungsaufgabe, in welcher die Selbstfürsorge bedeutsam ist.

Marlise Kammermann Dazu kommt, dass viele Instruktorinnen für die Lernenden eine Anlaufstelle sind, wenn sie im Betrieb oder in der Schule Probleme haben. ÜK-Leitende sind oft wichtige Aktoren bei deren Bewältigung.

Welche Rahmenbedingungen behindern einen guten Unterricht?

Schwierig sind auch unklare Rollenzuschreibungen: Welche Ansprüche dürfen üK-Leitende an die Jugendliche stellen, welche disziplinarischen Interventionen sind erlaubt, an welchen Erwartungen wird der Unterricht gemessen? Thomas Meier

Thomas Meier Manche Kurszentren verfügen über eine veraltete Infrastruktur oder eine dürftige Materialisierung, was einen guten Unterricht echt behindern kann. Schwierig sind auch unklare Rollenzuschreibungen: Welche Ansprüche dürfen üK-Leitende an die Jugendliche stellen, welche disziplinarischen Interventionen sind erlaubt, an welchen Erwartungen wird der Unterricht gemessen? Dann sind da die Vorgaben aus den Bildungsplänen: Manche sind so eng, dass ein situationsbezogener Unterricht erschwert wird, andere wiederum zu vage. In manchen Berufen ist zudem die Entlöhnung bedeutend schlechter als sonst in der Branche. Gravierend ist schliesslich, wenn mit den üKs schlechte Erfahrungen gemacht wurden, weil diese schlecht vorbereitet und die Zeit nicht optimal genutzt wurde. Ich kenne Fälle, da wird im Betrieb geflucht, wenn die Lernenden im üK sind; das darf nicht sein!

Michael Jöhr sprach auch von einer mangelhaften Lernortkooperation.

Marlise Kammermann Die Lernortkooperation funktioniert leider nicht überall. Dabei liegt in einer gelingenden Kooperation ein riesiges Potenzial. Das Berufsbildungsgesetz von 2004 hält fest, dass es Aufgabe der drei Lernorte ist, zu kooperieren – eine wichtige Neuerung. Aber noch immer stehen sie weitgehend nebeneinander. Denn Lernortkooperation bedeutet mehr als die gegenseitige Abstimmung von Bildungszielen. Sie umfasst das gemeinsame Entwickeln von Bildungsverordnungen und Bildungsplänen und damit eine gegenseitige Verzahnung der Rollen. Wir haben es bis heute nicht geschafft, das zu institutionalisieren.

Sitzen Vertretungen der üK denn nicht in den Reformkommissionen?

Marlise Kammermann Doch, durchaus. Aber noch denken viele Mitglieder dieser Kommissionen zu sehr vom eigenen Lernort aus. Dennoch gibt es auch gute Beispiele.

Michael Jöhr Auch die Grösse des Einzugsgebiets beeinflusst die Kooperation. Je weiträumiger dieses Gebiet ist, desto schwieriger sind Absprachen. Und oft sind es persönliche Kontakte, die gute Kooperationen ermöglichen.

Sie haben sich intensiv mit dem dritten Lernort auseinandergesetzt. Ist diese Trialität der Berufsbildung noch zeitgemäss?

Michael Jöhr Absolut. Der dritte Lernort ergänzt, so lautet die gesetzliche Vorschrift, die berufliche Praxis und die schulische Bildung. Das wird durch die fortschreitende Spezialisierung vieler Betriebe immer wichtiger, weil diese Betriebe nicht alle Bildungsziele abdecken können. Der dritte Lernort leistet so einen bedeutenden Beitrag zur Harmonisierung der Abschlüsse und entlastet die Betriebe. Hier lernen die Jugendlichen modernste Technologien kennen und zu bedienen. Nicht jede Automobil-Mechatronikerin begegnet im Lehrbetrieb allradangetriebenen Fahrzeugen. Im üK holen sie das nach.

[1]
• Goetze, W., Gonon, Ph., Gresele, A., Kübler, S., Landolt, H., Landwehr, N., Marty, R., Renold, U. & Egger, P. (2002). Der dritte Lernort. Bildung für die Praxis, Praxis für die Bildung. Bern: hep Verlag.
• Maurer, M., Hauser, K. (2021). Lernen in überbetrieblichen Kursen. Bern: hep Verlag.

Zum Buch: Kecke filmische Umsetzungen im Internet

Das vorliegende Buch umfasst auf 248 Seiten 13 Kapitel – von den theoretischen Grundlagen zur Berufsbildung über die Planung des Unterrichts bis hin zur spezifischen Didaktik des dritten Lernortes. Eingeleitet werden sie stets mit der Beschreibung einer Situation aus dem Ausbildungsalltag. Eine Besonderheit bilden filmische Ergänzungen, die online kostenlos zugänglich sind.

Teaser geben einen kurzen Überblick über die Kapitelinhalte und machen neugierig auf die Lektüre.
ÜK-Leitende geben Einblick in Ausbildungssequenzen und ihr Ausbildungshandeln.
Schauspielerinnen und Schauspieler verdichten die zentralen Aussagen der Kapitel in meist humorvollen Clips.

Meier, Th., Jöhr, M., Kammermann, M. (2022): Ausbilden und Lernen am dritten Lernort. Situationsorientierte Didaktik für Ausbildende. hep Verlag, Bern. Mitglieder der SGAB erhalten das Buch für CHF 33 statt CHF 39. Bestellungen an jonas.probst@sgab-srfp.ch.

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2022). Labor für eine zeitgemässe berufliche Bildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 7(1).

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