Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Replik auf die Thesen von Dominique Tellenbach

Sind Schlussprüfungen im Qualifikationsverfahren noch aktuell?

Dominique Tellenbach, Rektor am Berufsbildungszentrum Baselland, hat vor einigen Monaten an dieser Stelle für ein besseres Qualifikationsverfahren geworben und die schriftliche Schlussprüfung in Frage gestellt. Dieser Beitrag hat mich zum Nachdenken angeregt. Im Folgenden bringe ich eine zweite Perspektive ein, die auf meinen eigenen Erfahrungen im Verkauf und der Ausbildung im Detailhandel beruht. Schriftliche Prüfungen, so meine These, leisten einen wesentlichen Beitrag zum Qualifikationsverfahren. Sie stellen die Anschlussfähigkeit der ausgebildeten Personen in Richtung Weiterbildung sicher. Erst dadurch wird eine kompetente Fachkraft zu einer umfassend gebildeten Fachkraft.


Ich teile Tellenbachs Ansicht über die Bedeutung der praktischen Prüfungen (praktische Prüfungen, Abschlussarbeiten, Vertiefungsarbeiten und individuelle praktische Arbeiten). In Bezug auf die schriftlichen Prüfungen, in denen die Lernergebnisse in den berufsbildenden Fächern und im allgemeinbildenden Unterricht evaluiert werden, widerspreche ich aber. Das geprüfte Wissen bildet nicht nur eine Basis zum Erwerb eines eidgenössischen Berufsattests (EBA) oder eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses (EFZ); vielmehr eröffnet es auch den Anschluss in die Weiterbildung und zum lebenslangen Lernen. Das EFZ bildet die Voraussetzung für den Einstieg in eine Berufsmaturitätsschule oder die Höhere Berufsbildung.

Meine Argumentation stützt sich auf meine 20-jährige Tätigkeit als Führungskraft im Detailhandel bei Coop, als Prüfender bei praktischen Prüfungen, als Lehrer an einer Berufsfachschule und in überbetrieblichen Kursen. Dieser Artikel ist entlang der vier Argumente Tellenbachs aufgebaut.

Argument 1: Erfolgt mit den Schlussprüfungen eine Selektion zum richtigen Zeitpunkt?

Halbjährlich erfolgt mit dem Zeugnis der Berufsfachschule sowie der Beurteilung durch den Lehrbetrieb eine Bestandsaufnahme der Entwicklung der Lernenden – eine Bilanz über den Wissenserwerb. Sie macht deutlich, ob das zu einem bestimmten Zeitpunkt der Ausbildung geforderte Niveau erreicht ist; davon hängen die Fortsetzung der Ausbildung, eine Wiederholung oder der Wechsel des Bildungsgangs (EFZ- EBA) ab.

Demgegenüber dient die Schlussprüfung dazu, die Gesamtkompetenz der Lernenden zu beurteilen. In einer Art Rückschau wird das im Zuge der Ausbildung Erlernte im Überblick betrachtet und gewürdigt. Da nicht ein Kompendium aller Kursthemen geprüft werden soll, sondern ein Querschnitt der Kenntnisse, muss die Prüfung notwendigerweise am Ende der Ausbildung stehen.

Erstes Zwischenfazit: In «Zwischenzeugnissen» und «Schlussprüfungen» wird nicht das Gleiche bewertet. Bei ersteren geht es um die Kontinuität der Ausbildung, während es bei zweiteren um die Gesamtbewertung der Ausbildung geht; diese sollten darum ganz am Ende stattfinden.

Argument 2: Was sagen die Schlussprüfungen über die Berufseignung?

Ich teile Tellenbachs Annahme: «Wer die praktischen Prüfungen besteht, hat seine Berufseignung bewiesen, die Praxis ist die Königsdisziplin des Qualifikationsverfahrens.» Genau das führe ich auch gegenüber meinen Kolleginnen und Kollegen bei den praktischen Prüfungen an, denn mit der Praxis zeigt sich die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden. Trotzdem habe ich in der Prüfungssituation als Prüfender nur einen unvollständigen Einblick in die Kompetenzen der Lernenden.

Das Qualifikationsverfahren muss mehr attestieren als die Beschäftigungsfähigkeit, denn diese kann ebenso durch Erfahrung erreicht werden, wie dies bei Ungelernten der Fall ist. Das Qualifikationsverfahren muss auch die in den überbetrieblichen Kursen und in der Berufsfachschule erworbenen Kenntnisse abdecken, um über die Ebene von kompetenten Angestellten mit prozessbezogenen Fertigkeiten hinauszugehen und den Status von Fachkräften mit einem bewussten Blick auf ihre Praxis zu erreichen.

Werden lediglich die prozessbezogenen Fertigkeiten bewertet, d.h. die Ausführung alltäglicher Aufgaben und Abläufe im Betrieb, ohne das Reflexionsvermögen bzw. Bewusstsein hinsichtlich der Kenntnisse über die eigene Praxis, werden die Fachkräfte auf die Rolle von Ausführenden beschränkt. Genau diese Kompetenzen müssen in der Berufsfachschule und den überbetrieblichen Kursen entwickelt und mit den Schlussprüfungen bestätigt werden.

Laut der von Tellenbach verwendeten Daten[1] sind 16 von 80 Durchgefallenen (20%) in der praktischen Prüfung ausreichend kompetent, nicht jedoch in der schriftlichen Prüfung. Diese Fälle zeigen meiner Meinung nach, dass die blosse Beherrschung der prozessbezogenen Fertigkeiten, also das Bestehen der praktischen Prüfung, nicht für einen Abschluss ausreicht.

Zweites Zwischenfazit: Berufliche Kompetenz geht über die Fertigkeiten, die bei der praktischen Prüfung erkennbar sind, hinaus. Die schriftliche Prüfung ist als Ergänzung zur praktischen Prüfung nötig, um zu bescheinigen, dass es sich um eine kompetente und umfassende Fachkraft handelt.

Argument 3: Wird mit den Schlussprüfungen tatsächlich das Richtige geprüft?

In diesem Punkt stimme ich mit Tellenbach überein: Eine Prüfung, die den Fokus auf Sprachkenntnisse legt, noch dazu ohne Kontext, birgt die Gefahr, dass die Lernenden – ungeachtet ihrer Berufskenntnisse – mit einer ungenügenden Note abschneiden.

Als Beispiel, wie dieses Problem elegant gelöst werden kann, möchte ich die im Jahr 2022 durchgeführte Reform in der Ausbildung im Detailhandel nennen. Der Lehrplan, der bis dahin auf «Stoff und Lernzielen» beruhte, wurde umgestellt und auf «Handlungskompetenzorientierung» ausgerichtet. So wurden etwa aus vormals als «Landessprache», «Fremdsprache», «Wirtschaft» titulierten Fächern nunmehr «Kundenmanagement», «Produkt- und Dienstleistungsmanagement und ‑präsentation» usw.

Dadurch verändert sich die Art und Weise, wie der Unterrichtsstoff konzipiert wird. Es werden nicht mehr die Landessprache, die Fremdsprache oder Wirtschaft in voneinander unabhängigen Abschnitten gelehrt, sondern z.B. Kundenmanagement, welches im Detailhandel ein zentrales Thema ist. Die Fachlehrpersonen adaptieren den Stoff ihrer Unterrichtsfächer (Landessprache, Fremdsprache oder Wirtschaft), um das Wissen entsprechend den Anforderungen des Berufs (Kundenmanagement) zu vermitteln. Diese Methode ermöglicht Interdisziplinarität und ist für die Lernenden viel sinnvoller, da ihnen auf diese Weise an die beruflichen Anforderungen angepasste Inhalte vermittelt werden.

Ein solcher Ansatz trägt dazu bei, dass bei den Prüfungen Wissen geprüft wird, das für die Lernenden tatsächlich nützlich ist und das sie im Zuge ihrer Ausbildung auch anwenden.

Drittes Zwischenfazit: Das Problem besteht, wird jedoch gerade durch die Reformen der Ausbildungspläne in Angriff genommen, die nunmehr auf Handlungskompetenzorientierung ausgerichtet sein werden.

Argument 4: Sind Schlussprüfungen tendenziell diskriminierend?

Tellenbach beschreibt drei Kategorien von erfolglosen Prüfungskandidatinnen und -kandidaten bei schriftlichen Prüfungen. Ich verwende dieselben Kategorien, um den Zusammenhang mit den Prüfungen bzw. die Ausbildung insgesamt zu hinterfragen.

  • Zunächst gibt es die Kandidatinnen und Kandidaten, bei denen der Misserfolg «absehbar» war und die eigentlich gar nicht zur Prüfung hätten antreten sollen.
  • Die zweite Kategorie sind die klassischen «Wackelkandidaten», bei denen laut Tellenbach die Tagesform und das Prüfungsglück den Ausschlag geben. Er fügt hinzu, dass der Misserfolg bei diesen Lernenden meist dem eigenen Verhalten geschuldet ist. Ich gebe zu bedenken, dass die Ergebnisse der schriftlichen Prüfungen auch in diesem Fall selten überraschend sind. Entscheidend ist jedoch, dass diese Noten mit den Ergebnissen früherer Zeugnisse kombiniert werden. Somit sind diese schriftlichen Prüfungen nicht allein für den endgültigen Erfolg oder Misserfolg ausschlaggebend; dieser hängt von einem komplexen Zusammenspiel von schriftlichen Prüfungen und Zeugnissen ab.
  • Die dritte Gruppe umfasst laut Tellenbach Lernende, die aufgrund von psychischen Problemen, sprachlichen Schwierigkeiten, Schicksalsschlägen, Blackouts, Panikattacken oder Phobien ein Handicap in Prüfungssituationen haben. Es trägt dazu bei, dass sie nicht ihr volles Potenzial abrufen können und durchfallen.

Die Tragik dieser Situationen ist nicht zu leugnen. Allerdings weist Tellenbach auf die starre Struktur der schriftlichen Prüfungen in der Berufsfachschule hin, ohne auf die Bedingungen der praktischen Prüfungen einzugehen. Obwohl diese im Lehrbetrieb stattfinden, sind sie sehr reglementiert, verklausuliert und ziemlich weit von der praktischen Routine entfernt. Hier sind etwa die verschiedenen Prüfungsphasen zu nennen, die Prüfungsdauer, die Rollen, die man während der Prüfung einnehmen muss (erklären, was man in einer fiktiven Situation tun würde, oder die Handlungen während der Ausführung einer Aufgabe begründen) sowie die Tatsache, dass die Kandidatinnen und Kandidaten die Prüferinnen und Prüfer fast nie kennen. Dies führt dazu, dass die Lernenden bei den praktischen Prüfungen ebenso verunsichert sind wie bei den schriftlichen. Nicht die Art der Prüfung ist das Problem, sondern die persönliche Situation wie in den oben genannten Beispielen.

Viertes Zwischenfazit: Ohne die benachteiligende Tendenz von Prüfungen in Frage zu stellen, behaupte ich, dass diese auch bei praktischen Prüfungen vorhanden ist. Zudem werden bei der praktischen Prüfung nicht die Noten aus früheren Zeugnissen mit den Noten der schriftlichen Prüfungen zusammengerechnet.

Mein Lösungsvorschlag: die Prüfungen sinnvoller gestalten

Ich schliesse mich der Meinung Tellenbachs an, dass es wichtig ist, alle Prüfungen handlungskompetenzorientiert zu gestalten. Dadurch erhalten die Prüfungen für die Lernenden mehr Sinn und sie können ihre Berufskenntnisse in einem anderen Kontext unter Beweis stellen.

Die Schlussprüfung muss jedoch ein unumgänglicher Teil der Ausbildung bleiben, sowohl für den Erwerb eines EBA, eines EFZ, eines Fachausweises, eines Bachelors – oder des Führerscheins. Der von Tellenbach geäusserte Vorschlag, die schriftliche Prüfung durch eine Erfahrungsnote zu ersetzen, die sich aus den Noten unterschiedlicher Module zusammensetzt, scheint mir riskant zu sein.

Tellenbach schlägt anstelle der klassischen Schlussprüfung eine individuelle praktische Arbeit (IPA) vor. Sie wäre theoretisch die ideale Kombination der im Lehrbetrieb, in der Berufsfachschule und in den überbetrieblichen Kursen erworbenen Kompetenzen und würde es ermöglichen, auch überfachliche Kompetenzen zu beobachten. Für die Bewältigung der Aufgabe sind das in der Berufsfachschule Gelernte, das im Lehrbetrieb erworbene praktische Wissen sowie ein hohes Mass an geistiger Offenheit erforderlich.

Da die Aufgabenstellung in Absprache mit der Berufsbildnerin oder dem Berufsbildner im Betrieb erfolgt, dürfte die Arbeit aber immer den im Lehrbetrieb gemachten Erfahrungen entspringen. Zudem erfolgt die Bewertung der Arbeit durch die Prüferinnen und Prüfer der praktischen Prüfungen, die mehrheitlich aus der Wirtschaft kommen und sich in ihrer Bewertung hauptsächlich auf die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden fokussieren. Wenn der Abschluss nur auf diesem Weg bestätigt wird, fürchte ich um die Durchlässigkeit der Ausbildung in Richtung Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Es besteht die Gefahr, dass das EBA oder das EFZ zum Selbstzweck werden, ohne Anschlussperspektive in eine Höhere Berufsbildung. Das erinnert mich an die Anlehre, die es bis vor etwa zwanzig Jahren gab. Sie ermöglichte zwar den Erwerb eines Abschlusses, der je nach Lehrbetrieb bestimmte Kompetenzen bestätigte. Diese Abschlüsse waren allerdings so sehr auf das jeweilige Unternehmen und prozessbezogene Fertigkeiten zugeschnitten, dass sie im Arbeitsmarkt keinen Wert hatten. Ausserdem wurde durch die Personalisierung dieser Abschlüsse der Übergang zum EFZ nicht verkürzt, wie es derzeit bei Inhaberinnen und Inhabern eines EBA der Fall sein kann.

Ganz persönlich bin ich der Ansicht, dass die schriftliche Prüfung eine «Erfahrung» ist, die zur Ausbildung an der Hochschule, der Höheren Fachschule, zur Berufsmaturität oder zur Führerscheinprüfung gehört. Wenn dieser Schritt bei der Zuerkennung des EBA oder des EFZ nicht beibehalten würde, hätte ich den Eindruck, dass diese Abschlüsse eine Vorzugsbehandlung geniessen, was den Wert der Abschlüsse der beruflichen Grundbildung noch weiter herabsetzen könnte.

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag ist eine Replik auf einen Text von Dominique Tellenbach[2] in Transfer 3-2022. Dieser kam zum Schluss, dass die schriftlichen Prüfungen in der Berufskunde und im allgemeinbildenden Unterricht ihren Zweck verfehlen. Aus einem empirischen Blickwinkel bringe ich eine zweite Lesart der vier von Tellenbach erwähnten Argumente ein. Ich betrachte die schriftlichen Prüfungen als ein Verfahren, mit dem der Nachweis erbracht werden kann, dass junge Lernende nicht nur ihren Beruf kompetent ausüben können, sondern auch umfassend ausgebildet sind. Umfassend ausgebildete Personen verfügen nicht nur über prozessbezogenes Wissen, also Kompetenzen einer ausführenden Person, sondern beherrschen den Beruf in einem weiteren Sinne. Nur so sind sie in Richtung Weiterbildung und lebenslangen Lernen anschlussfähig.

[1] Kandidat/innen an den Qualifikationsverfahren der beruflichen Grundbildung 2022 im Kanton Basel-Landschaft (EBA und EFZ), mit einem Lehrverhältnis im Kanton BL und mit Schulort BBZ BL (n=703)
[2] Dominique Tellenbach, 2022: Plädoyer für ein besseres Qualifikationsverfahren: Schlussprüfungen in der beruflichen Grundbildung – ein Unding?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis. SGAB, Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung.
Zitiervorschlag

Jan, D. (2023). Sind Schlussprüfungen im Qualifikationsverfahren noch aktuell?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(2).

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