Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Förderung der Arbeits- und Lebenszufriedenheit in der dualen Grundbildung

Was das Wohlbefinden von Lernenden fördert

Gute Beziehungen und Arbeitsbedingungen wirken sich positiv auf den Erwerb beruflicher Fähigkeiten aus, aber auch auf das allgemeine Wohlbefinden der Mitarbeiter – das ist durch die Literatur gut bestätigt. Aber gilt das auch für Lernende? Um mehr Licht in die Prozesse zu bringen, die die Selbstwirksamkeit der Lernenden am Arbeitsplatz und deren Zufriedenheit verbessern, haben wir die Wechselwirkungen von verschiedenen Faktoren wie der proaktiven Persönlichkeit oder der Arbeitsbedingungen analysiert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine proaktive Grundeinstellung und erfüllende Beziehungen insbesondere zu Kolleginnen die berufliche Selbstwirksamkeit der Lernenden und, direkt oder indirekt, auch die Arbeitszufriedenheit verbessern.


Bisherige Studien haben gezeigt, dass die Zufriedenheit von Lernenden von diversen Faktoren beeinflusst wird – beispielsweise von Persönlichkeitsmerkmalen, einer starken Identifizierung mit der eigenen Arbeit oder der beruflichen Anpassungsfähigkeit.

Die duale Berufsbildung kann als erste Phase der beruflichen Sozialisation von jungen Menschen angesehen werden (Masdonati, 2007). Aber ein Fünftel der Ausbildungsverträge wird vorzeitig aufgelöst, wie Daten des Bundesamts für Statistik zeigen.[1] Es ist daher wichtig, Arbeits- und Lebenszufriedenheit der Lernenden zu untersuchen. Wer sich mit Freude dem eigenen Beruf widmet und mit dem eigenen Leben zufrieden ist, zeigt im Betrieb mehr Engagement (Seidel 2019; Lüthi et al. 2021). Umgekehrt neigen unzufriedene Jugendliche dazu, ihren Lehrvertrag vorzeitig aufzulösen. Das erhöht ihr Risiko, arbeitslos oder arm zu werden und gesundheitliche Probleme zu entwickeln (Stalder und Schmid 2012).

Die Faktoren, die die Arbeits- und Lebenszufriedenheit von erwachsenen Arbeit­nehmenden beeinflussen, sind in den vergangenen Jahren ausgiebig studiert worden (Marcionetti und Castelli 2023; Zhang et al. 2020; Zammitti et al. 2022). Demgegenüber haben sich nur wenige Studien mit Lernenden befasst. Diese haben gezeigt, dass deren Zufriedenheit von diversen Faktoren beeinflusst wird – beispielsweise von Persönlichkeitsmerkmalen (Volodina et al. 2019), einer starken Identifizierung mit der eigenen Arbeit (Cortini 2016) oder der beruflichen Anpassungsfähigkeit (Hirschi 2009).

Laut dem theoretischen Arbeits­zufriedenheits­modell nach Lent und Brown (2006, 2008; Social Cognitive Model of Job Satisfaction), das vorwiegend für erwachsene Arbeitnehmende entwickelt wurde, werden Arbeits- und Lebenszufriedenheit von folgenden Faktoren beeinflusst:

  • Die Persönlichkeitsmerkmale
  • Die berufliche Selbst­wirksamkeit
  • Die Wahrnehmung von Fortschritten bei der Erreichung eigener Ziele
  • Das zwischen­menschliche Unterstützungsnetz
  • Die wahrgenommenen Arbeits­bedingungen

Studie zur Bestätigung des theoretischen Modells

Im vorliegenden Forschungsprojekt haben wir uns weitgehend auf dieses Modell gestützt, angepasst an die Lebensrealität der Lernenden. Wir untersuchten die Wechselbeziehungen von folgenden Faktoren:

  • Proaktive Persönlichkeit: Sie zeichnet sich durch Tatendrang und die Suche nach Herausforderungen sowie nach Gelegenheiten aus, sich selbst und die eigenen Lebensumstände zu verbessern.
  • Kompatibilität zwischen Lernenden und Vorgesetzten sowie zwischen Lernenden und Arbeitsteam: Sie macht sich an einer gewissen Wesensverwandtschaft hinsichtlich der eigenen persönlichen und beruflichen Werte, Ziele und Lebens- und Arbeitsstile fest.
  • Wahrnehmung der beruflichen Selbstwirksamkeit: Lernende mit guter beruflicher Selbstwirksamkeit haben das Gefühl, sich gelassen und im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten ihren beruflichen Aufgaben stellen zu können.
  • Die Wahrnehmung von menschenwürdiger Arbeit: Die Wahrnehmung von «menschenwürdigen» Arbeitsbedingungen, wie sie in der Psychologie der Arbeitstheorie von Duffy et al. (2016) definiert sind, erfordert sichere Arbeitsbedingungen (keine körperlichen, psychischen oder emotionalen Übergriffe), den Zugang zu Gesundheitsleistungen, eine angemessene Entlöhnung, die Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Freizeit und Erholung sowie Unternehmenswerte, die mit den eigenen Werten im Einklang stehen.
  • Arbeits- und Lebenszufriedenheit.

Die von uns angenommenen Wechselbeziehungen zwischen diesen Variablen sind in Abbildung 1 dargestellt.

Abb. 1. Modell zur Vorhersage der Arbeits- und Lebenszufriedenheit von Lernenden gemäss dem Modell von Lent und Brown (2006, 2008). Das Zeichen + unterstellt einen positiven Effekt.

Im Rahmen der Studie wurden alle Lernenden im ersten und letzten Ausbildungsjahr an fünf Tessiner Berufsfachschulen online befragt (524 Lernende zwischen 15 und 42 Jahren mit einem mittleren Alter von 19,5 Jahren). 297 befanden sich im ersten und 227 im dritten und letzten Ausbildungsjahr, 244 waren weiblich und 286 männlich.[2] Der Fragebogen enthielt Fragen zu soziodemografischen Daten, zur Schulbildung und zu den genannten Aspekten. Die erhobenen Daten wurden mit einem statistischen Modell (Strukturgleichungsmodell) analysiert; die Ergebnisse sind in Abbildung 2 dargestellt. Nicht-signifikante Beziehungen zwischen Variablen wurden entfernt.

Abb. 2. Strukturgleichungsmodell zur Vorhersage der Arbeits- und Lebenszufriedenheit von Auszubildenden gemäss dem Modell von Lent und Brown (2006, 2008). “**” bedeutet p < 0,01, “***” bedeutet p < 0,001.

Die berufliche Selbstwirksamkeit weniger bedeutend als erwartet

Analog zum Modell nach Lent und Brown (2006; 2008) und zu früheren Studien über erwachsene Arbeitnehmende (Blustein et al. 2016; Duffy et al. 2017; Masdonati et al. 2022) deuten auch unsere Resultate darauf hin, dass die Wahrnehmung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen einen starken Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit der Auszubildenden hat, was sich wiederum erheblich auf ihre Lebenszufriedenheit niederschlägt.

Die berufliche Selbstwirksamkeit der Lernenden hat keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von menschenwürdiger Arbeit oder auf ihre Arbeitszufriedenheit.

Im Unterschied zum im Modell von Lent und Brown (2006; 2008) und anderen Studien mit Erwachsenen (z. B. Yeves et al. 2019) wurden jedoch weder ein direkter Zusammenhang zwischen beruflicher Selbstwirksamkeit und Arbeitszufriedenheit noch ein indirekter Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen durch menschenwürdige Arbeit gefunden. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die berufliche Selbstwirksamkeit der Lernenden keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von menschenwürdiger Arbeit oder auf ihre Arbeitszufriedenheit hat. Diese beiden Variablen scheinen also unabhängig davon zu sein, wie gut sich die Jugendlichen auf ihre Tätigkeit am Arbeitsplatz vorbereitet fühlen und wie effektiv sie dabei sind.

Vielmehr zeigt sich, dass die berufliche Selbstwirksamkeit der Lernenden stark vom Einvernehmen mit den Kolleginnen (Kompatibilität mit dem Team) – nicht aber mit den Vorgesetzten – beeinflusst wird. Ebenso wird die Wahrnehmung, im Beruf anständig behandelt zu werden, von guten Beziehungen sowohl mit den Kollegen als auch mit den Lernenden beeinflusst.

Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit dem Modell nach Lent und Brown (2006, 2008) und stützen den bestehenden Befund der Fach­literatur: Positive Beziehungen am Arbeitsplatz verbessern die (Selbst-)Wirksamkeit der Mitarbeitenden (Karademas 2006; Lundberg et al. 2008; Coffman und Gilligan 2002). Darüber hinaus zeigt das Modell, dass gute Beziehungen mit den Kolleginnen die Wahrnehmung, unter anständigen Bedingungen zu arbeiten, verstärken; dies entspricht den Ergebnissen früherer Studien (z. B. Wang und Lei 2021; Masdonati et al. 2022).

In Übereinstimmung mit dem Modell von Lent und Brown (2006, 2008) zeigt sich weiter, dass eine proaktive Persönlichkeit hilft, sich ins Arbeitsteam einzufügen und, wenn auch weniger deutlich, sich den Berufsbildenden anzupassen. Dass ein gutes Einvernehmen mit den Kollegen den grösseren Einfluss hat, könnte darauf zurückzuführen sein, dass Lernende mehr Zeit mit dieser Gruppe verbringen. Möglich ist auch, dass die Berufsbildenden den Lernenden in Bezug auf Alter, Sitten und Gewohnheiten weniger ähnlich sind.

In Übereinstimmung mit früheren Studien (z.B. Kim und Park 2017; Lin et al. 2014) zeigen unsere Ergebnisse schliesslich, dass eine proaktive Persönlichkeit einen signifikanten Einfluss auf die wahr­genommene berufliche Selbst­wirksamkeit hat. Dies bestätigt, wie wichtig es ist, dass sich die Lernenden proaktiv in Aktivitäten einbringen, die die Entwicklung ihrer Kenntnisse und Kompetenzen fördern – ein Phänomen, das auch bei erwachsenen Arbeitnehmenden beobachtet wurde (Dikkers et al. 2010). Schliesslich haben wir mit unserem Modell den Zusammenhang zwischen proaktiver Persönlichkeit und Arbeitszufriedenheit untermauert; ein Zusammenhang zwischen proaktiver Persönlichkeit und Lebenszufriedenheit hat sich jedoch nicht gezeigt.

Was bedeutet dies für die Praxis?

Aus den Ergebnissen lassen sich Schlüsse für die Praxis ziehen.

Zweitens wirkt sich ein Arbeitsumfeld mit guten zwischen­menschlichen Beziehungen positiv auf die Wahrnehmung der Lernenden aus, unter anständigen Arbeitsbedingungen zu arbeiten.

  1. Erstens scheint es, wie es bereits Cooper-Thomas und Burke (2012) hervorgehoben haben, wichtig zu sein, dass Lernende, die zu einem Unternehmen stossen, proaktive Verhaltensweisen an den Tag legen; dies wirkt sich positiv auf die Entwicklung guter Beziehungen am Arbeitsplatz, die Entwicklung der beruflichen Selbstwirksamkeit und die Arbeitszufriedenheit aus. Von Robertson e.a. (2021) wurde demonstriert, dass es möglich ist, mit spezifischen Verfahrensweisen Proaktivität in Organisationen zu fördern.
  2. Zweitens wirkt sich ein Arbeitsumfeld mit guten zwischen­menschlichen Beziehungen positiv auf die Wahrnehmung der Lernenden aus, unter anständigen Arbeitsbedingungen zu arbeiten. In solchen Beziehungen haben die Jugendlichen die Möglichkeit, sich konstruktiv mit Kollegen und Berufsbildnerinnen über Probleme des Arbeitsalltags auszu­tauschen.
  3. Schliesslich kann es von entscheidender Bedeutung für die Arbeits- und Lebenszufriedenheit und indirekt für die Verringerung des Risikos einer vorzeitigen Auflösung des Lehrstellenvertrags sein, dass die Lernenden die Arbeits­bedingungen als anständig empfinden. Damit ist ein Umfeld gemeint, in dem die Lernenden sich auch bei Unfall oder Krankheit körperlich und seelisch geschützt fühlen, in dem ihnen Freizeit und Erholung gegönnt werden, in dem sie entsprechend ihren Kompetenzen und Verantwortlichkeiten entlöhnt werden und in dem Unternehmenswerte gelebt werden, die zu ihren eigenen Werten passen.

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie wurde im Kanton Tessin durchgeführt. Es wurden 524 Lernende zwischen 15 und 42 Jahren in einer dualen Lehre zu ihrer Arbeits- und Lebenszufriedenheit befragt. Im Fokus standen folgende Faktoren: Proaktive Persönlichkeit und berufliche Selbstwirksamkeit, die von den Auszubildenden empfundene Kompatibilität mit den betrieblichen Berufsbildenden und den Kolleginnen am Arbeitsplatz sowie die Wahrnehmung der eigenen Arbeitsbedingungen. Untersucht wurde die Wechselbeziehung zwischen diesen Faktoren und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebenszufriedenheit. Das verwendete Modell basiert auf dem Arbeitszufriedenheitsmodell nach Lent und Brown (2006, 2008). Die Ergebnisse zeigen, dass Proaktivität und gute Beziehungen die Entwicklung der beruflichen Selbstwirksamkeit begünstigen und, zusammen mit als «anständig» empfundenen Arbeitsbedingungen, die Arbeitszufriedenheit beeinflussen. Diese wiederum scheint einen starken Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der Lernenden zu haben. Diese Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, dass die Lernenden proaktive Verhaltensweisen entwickeln, die darauf abzielen, sich selbst und die Bedingungen für das eigene Wohlbefinden zu verbessern; zudem sollten die Lehrbetriebe die Entwicklung guter Beziehungen zu den Vorgesetzten und mehr noch zum Team begünstigen und nicht zuletzt Arbeitsbedingungen bieten, die von den Auszubildenden als anständig wahrgenommen werden.

[1] Die entsprechenden Daten sind auf der Website des BfS verfügbar.
[2] Die Teilnehmenden absolvierten folgende Ausbildungen: Heizungsinstallateur (2,3%), tiermedizinische Praxisassistentin (3%), Coiffeur/ (7,9%), Detailhandelsfachfrau (8,3%), Kaufmann (9,4%), Sanitärinstallateurin (10%), Fachmann Apotheke (11,5%), Logistikerin (12,1%), medizinischer Praxisassistent (15,8%) und Maurerin (19,6%).

Literatur

Zitiervorschlag

Zambelli, C., & Marcionetti, J. (2024). Was das Wohlbefinden von Lernenden fördert. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(13).

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