OBS-EHB-Trendbericht
Wie relevant sind schriftliche Schlussprüfungen für den Erfolg im Qualifikationsverfahren?
Erstaunlich viele Lernende haben bei Lehrabschluss ungenügende Noten in den Berufskenntnissen oder der Allgemeinbildung, aber fast alle davon können das mit anderen Noten kompensieren. Wenn Jugendliche im Qualifikationsverfahren scheitern, dann meist, weil ihre praktische Arbeit den Anforderungen nicht genügt und dieser Prüfungsteil in der Regel eine Fallnote ist. Das sind Ergebnisse des jüngsten OBS-EHB-Trendberichts. Veränderungen wie der Verzicht auf schriftliche Prüfungen sollten wohl bedacht sein, da sie langfristig einen Einfluss auf den QV-Erfolg sowie Berufs- und Bildungsverlauf haben könnten.
In der Berufsbildung wird intensiv diskutiert, wie das Qualifikationsverfahren (QV) aufgebaut ist und ob alle QV-Elemente in ihrer heutigen Form den Anforderungen an eine handlungskompetenzorientierte Prüfung genügen. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Frage, ob auf schriftliche Schlussprüfungen der Berufskenntnisse und der Allgemeinbildung verzichtet werden kann, weil die Kombination der übrigen QV-Elemente ausreicht und schriftliche Prüfungen häufig nicht im Sinne der Handlungskompetenzorientierung (HKO) umgesetzt werden respektive nicht umgesetzt werden können.
Stimmen für die Abschaffung argumentieren, dass schriftliche Prüfungen der Berufskenntnisse ihren Zweck verfehlten, indem sie Wissen isoliert abfragen und ohne Kontext prüfen (Tellenbach 2022). Dadurch offenbarten sie nicht mehr über die Berufseignung als eine nach Handlungskompetenzen aufgebaute praktische Arbeit. Gegner der Abschaffung betonen demgegenüber, dass schriftliche Schlussprüfungen einen wesentlichen Beitrag zum QV leisteten. Denn damit bewiesen die Lernenden, dass sie nicht nur in der Lage sind, ihren Beruf kompetent auszuüben, sondern dass sie auch umfassend ausgebildet sind. Sie verfügten also nicht nur über prozessbezogenes Wissen, sondern beherrschten den Beruf in einem weiteren Sinne, was unter anderem ihre Anschlussfähigkeit in Richtung Weiterbildung sicherstelle (Jan, 2023). Zudem könnte die Berufsbildung durch die Abschaffung der schriftlichen Schlussprüfungen in der Allgemeinbildung als schulisch weniger anspruchsvoll wahrgenommen werden und dadurch gegenüber dem Gymnasium und den Fachmittelschulen weiterhin an Attraktivität einbüssen (vgl. Maurer 2025). Berufsbildungspolitisch ist in der aktuellen Reform jedenfalls mittelfristig deren Abschaffung vorgesehen (SBFI, 2024).
Zentral ist bei dieser Diskussion um die didaktische Eignung der Abschlussprüfungen zur Überprüfung der Handlungskompetenzen die Frage, wie die verschiedenen QV-Elemente (Allgemeinbildung, Berufskenntnisse, praktische Arbeit, Erfahrungsnote, Teilprüfung) und die gewählte Prüfungsform (schriftlich, mündlich, individuell/vorgegeben) mit dem QV-Erfolg der Lernenden zusammenhängen. Bisher fehlte es jedoch an Analysen, die auf umfassenden Datengrundlagen basieren. Diese Lücke schliesst der kürzlich erschienene OBS-Trendbericht «Qualifikationsverfahren auf dem Prüfstand» (siehe Kasten), der unter anderem erforscht, wie die Ausgestaltung des QVs und mit dem Erfolg der Lernenden zusammenhängt. Wir stützen uns hier auf Auszüge daraus und ergänzen ihn um weitere Analysen.
Die Rolle der einzelnen Elemente beim QV-Erfolg
Die Ausgestaltung des Qualifikationsverfahrens (QV) ist heterogen, da dessen Elemente und die Prüfungsformen je nach Lehrberuf unterschiedlich kombiniert werden können.
Um der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung der QV und dem Erfolg der Lernenden nachzugehen, analysieren wir die QV-Daten des Kantons Bern. Unsere Auswertungen berücksichtigen den Zeitraum 2018-2023, mit Ausnahme des Corona-Jahrs 2020, in dem keine schriftlichen Prüfungen in Berufskenntnissen und Allgemeinbildung stattfanden. Die Stichprobe umfasst jährlich rund 7000 QV-Resultate, was rund 10 Prozent aller Lernenden in der Schweiz entspricht. Zudem wird im Kanton Bern in fast allen Berufen ausgebildet. Dies erlaubt eine gewisse Generalisierung der Ergebnisse auf die ganze Schweiz.
Die Ausgestaltung des QVs ist heterogen, da die Elemente des QVs und deren Prüfungsformen je nach Lehrberuf unterschiedlich kombiniert werden können. Wir untersuchen die ungenügenden Noten in den einzelnen Elementen und den QV-Erfolg insgesamt. Für letzteres sind die Fallnoten essenziell – Noten, die ausreichend sein müssen (>=4.0), um das QV zu bestehen und nicht durch andere Noten kompensiert werden können.
Der Anteil ungenügender Noten in den einzelnen QV-Elementen schwankt über alle Berufe zwischen rund 16 Prozent in den Berufskenntnissen und knapp 1 Prozent in der Erfahrungsnote (siehe Grafik 1). Dazwischen liegen die Anteile ungenügender Noten in den Teilprüfungen (3%), in der praktischen Arbeit (4%) und in der Allgemeinbildung (11%).
Der Anteil ungenügender Noten bei den Berufskenntnissen erscheint mit über 16 Prozent auf den ersten Blick hoch. Aber nur knapp 1 Prozent der Lernenden kann ihre ungenügende Note in diesem Element nicht kompensieren, weil die Berufskenntnisse in ihrem Beruf eine Fallnote darstellen (roter Balkenteil). Hinzu kommen 3 Prozent der Lernenden, die ihre ungenügende Note zwar kompensieren könnten, aber wegen weiterer ungenügender Noten oder einer ungenügenden Gesamtnote das QV nicht bestehen (oranger Balkenteil). Der Grossteil der Lernenden mit einer ungenügenden Note in den Berufskenntnissen besteht aber das QV (13%, gelber Balkenteil).
Auch in der Allgemeinbildung erzielen mit 11 Prozent relativ viele Lernende eine ungenügende Note. Da es hier aber keine eigenständigen Fallnoten gibt (roter Teil des Balkens fehlt), gelingt es 9 Prozent aller Lernenden, ihre ungenügenden Leistungen mit genügenden Noten aus anderen Elementen zu kompensieren (gelber Teil des Balkens). Nur 2 Prozent der Lernenden haben aufgrund einer ungenügenden Note in der Allgemeinbildung einen QV-Misserfolg, weil sie sie nicht mit guten Noten in anderen Elementen ausgleichen können (oranger Balkenteil).
In der praktischen Arbeit können ungenügende Noten fast nie kompensiert werden, da dieses QV-Element bei 90 Prozent der Lernenden als Fallnote ausgestaltet ist. Eine ungenügende Leistung in diesem Bereich führt also fast immer zu einem QV-Misserfolg (roter Balkenteil), selbst wenn der Anteil der Lernenden mit einer ungenügenden Note in der praktischen Arbeit mit gut 4 Prozent insgesamt gering ist (Balkentotal). Dabei liegt der Anteil ungenügender Noten bei der vorgegebenen praktischen Arbeit mit knapp 6% statistisch signifikant höher als bei der individuellen praktischen Arbeit mit 2%.
Die Teilprüfung ist zwar selten ein QV-Element, aber bei etwa einem Fünftel der Lernenden als Fallnote angelegt. Eine ungenügende Note in der Teilprüfung führt jedoch insgesamt selten zu einem QV-Misserfolg. Ungenügende Erfahrungsnoten sind zwar selten, aber in rund der Hälfte der Fälle mit einem QV-Misserfolg verbunden. Beide Elemente sind weniger ausschlaggebend für den QV-Misserfolg.
Prüfungsform der Berufskenntnisse ist beinahe unerheblich für Erfolg
Auch wenn die praktische Arbeit selten nicht bestanden wird, führt sie am häufigsten zum QV-Misserfolg, da sie in fast allen Berufen als Fallnote ausgestaltet ist.
Die Daten erlauben auch einen genaueren Blick auf die Prüfungsform der Berufskenntnisse, was für die Diskussion über deren Rolle der schriftlichen Berufskenntnisprüfung relevant ist. Bei gut der Hälfte der Berner Lernenden werden die Berufskenntnisse schriftlich und mündlich geprüft, bei knapp einem Drittel ausschliesslich schriftlich und bei rund einem Viertel in variabler Form, z.B. schriftlich und/oder mündlich und verbunden mit einer Erfahrungsnote. Die Anteile der Lernenden mit ungenügenden Noten liegen hier bei rund 17 Prozent (schriftlich und mündlich), 16 Prozent (nur schriftlich) und 13 Prozent (variable Form).
Die Prüfungsformen variieren allerdings je nach Beruf; die Berufe weisen zudem erhebliche Unterschiede in der Zusammensetzung der Lernenden auf. Berücksichtigt man, dass Frauen, Lernende mit schweizerischer Staatsbürgerschaft oder BM-1-Absolvierende die Berufskenntnisprüfung häufiger bestehen, verschwinden die Unterschiede in den QV-Erfolgsquoten nach Prüfungsform weitgehend.
Der grösste Teil dieser Lernenden (13%, gelber Balkenteil) kann diese ungenügende Note jedoch kompensieren und besteht das QV, 4%, (oranger Balkenabschnitt) gelingt das nicht. Nur für sehr wenige Lernende (roter Balkenteil) ist dieses Element als Fallnote definiert, so dass es direkt zu einem QV-Misserfolg führt. Im Vergleich dazu erzielen bei den variablen Formen zwar weniger Lernende eine ungenügende Note, sie bestehen aber mit Blick auf die Fallnote das QV häufiger nicht (1%, roter Balkenteil). Schliesslich zeigt die Abbildung, dass die Fallnote nur bei der ausschliesslich schriftlichen Prüfung keine Rolle spielt. Die Diskussion um die Abschaffung der schriftlichen Berufskenntnisprüfung sollte daher die Eigenschaft der Fallnote nicht ausser Acht lassen.
Kaum Zusammenhang zwischen Kombination der QV-Elemente und Erfolg
Weder die Wahl der QV-Elemente noch deren Kombination untereinander sind statistisch betrachtet eindeutig hinderlich oder förderlich für das Bestehen der QV.
Da sich die Erfolgsquoten nicht signifikant nach der spezifischen Prüfungsform der Berufskenntnisse unterscheiden, stellt sich die Frage, ob die Ausgestaltung des QVs insgesamt respektive die Kombination der QV-Elemente mit dem QV-Erfolg zusammenhängt. Rund 60 Prozent der Lernenden absolvieren die Kombination aus praktischer Arbeit, Berufskenntnissen, Allgemeinbildung und Erfahrungsnote, aber auch andere Kombinationen mit mehr oder weniger Elementen kommen vor.
Unsere Auswertungen zeigen, dass die QV-Erfolgsquoten kaum davon abhängen, in welcher berufsspezifischen Kombination die QV-Elemente geprüft werden. Konkret schwanken die Erfolgsquoten zwischen 93 Prozent für die häufigste Kombination «Allgemeinbildung-Berufskenntnisse-Erfahrungsnote-Praktische Arbeit» und 97 Prozent für die Kombination «Allgemeinbildung-Berufskenntnisse-Erfahrungsnote». Dieser schwache Zusammenhang verschwindet, wenn die Zusammensetzung der Lernenden berücksichtigt wird. Hingegen bestehen Unterschiede in der durchschnittlichen QV-Gesamtnote je nach Ausgestaltung des QV, die selbst bei Berücksichtigung der Zusammensetzung der Lernenden bestehen bleiben. Die durchschnittlichen Noten schwanken zwischen 4.7 in der Kombination «Allgemeinbildung-Berufskenntnisse-Praktische Arbeit» und 4.9 in der Kombination «Allgemeinbildung-Erfahrungsnote-Praktische Arbeit».
Die Kombination der QV-Elemente steht zwar in Zusammenhang mit der QV-Gesamtnote, nicht aber mit dem Bestehen des QVs, was darauf hinweist, dass Lernende durch die Ausgestaltung der QV nicht per se am erfolgreichen Lehrabschluss gehindert werden. Mit anderen Worten: Weder die Wahl der QV-Elemente noch deren Kombination untereinander sind statistisch betrachtet eindeutig hinderlich oder förderlich für das Bestehen der QV.
Fazit und Implikationen für die Ausgestaltung des QV
Die Ausgestaltung des QV wird derzeit intensiv diskutiert; insbesondere Sinn und Zweck der schriftlichen Schlussprüfungen in Berufskenntnissen und Allgemeinbildung werden in Frage gestellt. Unsere Analysen zeigen, dass beide Elemente zwar häufig ungenügend sind, aber im Vergleich zur praktischen Arbeit seltener für das Nichtbestehen der QV verantwortlich sind, da sie häufig durch gute andere Leistungen kompensiert werden können. Ein Verzicht auf eines oder beide dieser Elemente könnte Lernende entlasten, weil sie sich dann besser auf die praktische Arbeit konzentrieren können, die häufig eine Fallnote und damit insgesamt wichtiger ist.
Entscheidend ist aber die Frage, ob die für den Beruf notwendigen Kompetenzen im QV insgesamt adäquat geprüft werden. Wenn die schriftliche Prüfung in den Berufskenntnissen oder der Allgemeinbildung relevante Kompetenzen besser oder ergänzend ermittelt, ist das ein Indiz dafür, sie beizubehalten. Wenn aber die gewählte Kombination von Erfahrungsnoten und praktischer Arbeit es erlaubt, die relevanten beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten in ausreichender Breite und Tiefe zu prüfen, kann eine schriftliche Schlussprüfung der Berufskenntnisse und/oder der Allgemeinbildung entfallen. Umso wichtiger wird es dann aber, das QV handlungskompetenzorientiert zu gestalten (Thurnherr, 2020)
Einige Lehrberufe haben die Berufskenntnisprüfung kürzlich angepasst, die grosse Mehrheit jedoch (noch) nicht. Inwieweit Veränderungen wie der Verzicht auf schriftliche Prüfungen einen Einfluss auf den QV-Erfolg sowie den langfristigen Berufs- und Bildungsverlauf haben, kann somit noch nicht abschliessend beurteilt werden. Die Berufsbildungsakteure, die das QV gestalten, sollten sich jedoch einer potenziellen langfristigen Wirkung auf die Aussagekraft des Berufsabschlusses bewusst sein.
OBS-EHB-Trendbericht – Qualifikationsverfahren auf dem Prüfstand
Der sechste Trendbericht des Schweizerischen Observatoriums für die Berufsbildung OBS EHB befasst sich mit dem Thema QV in der beruflichen Grundbildung. Neben Fragen zur Ausgestaltung der QV und zur Bedeutung der Elemente für den Prüfungserfolg werden weitere relevante Aspekte der QV untersucht. Gesamtschweizerisch scheitern durchschnittlich 6 Prozent der Lernenden im ersten Anlauf am QV. Die meisten sind jedoch nach weiteren Anläufen erfolgreich, so dass letztlich rund 99 Prozent der angetretenen Personen das QV bestehen. Der Misserfolg ist aber höher in Berufen, die mehrere Risikofaktoren für ein Scheitern bündeln, wie eine geringere Ausbildungsqualität oder überproportional viele schulisch schwächere (männliche) Lernende mit Migrationshintergrund. Herausforderungen für die QV ergeben sich aber auch aus Aspekten wie der technologischen Entwicklung. Der Einsatz elektronischer Qualifikationsverfahren (eQV) und künstlicher Intelligenz (KI) kann Fragen aufwerfen hinsichtlich der Umsetzung der HKO, des Technologiemissbrauchs und der Datensicherheit. Gleichzeitig können eQV und KI das QV realitätsnäher, kostengünstiger und inklusiver gestalten. Abschliessend widmet sich der Trendbericht der Rolle der Prüfungsexpertinnen und -experten. Diese haben eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der QV, kämpfen aber auch mit Nachwuchsproblemen.
Der Trendbericht ist kostenlos hier erhältlich.
Literatur
- Graf, L., Aeschlimann, B., Hänni, M., Kriesi, I., Neumann, J., Pusterla, F., Schweri, J. & Strebel, A. (2024). Qualifikationsverfahren auf dem Prüfstand. OBS EHB Trendbericht 6. Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB.
- Jan, D. (2023). Sind Schlussprüfungen im Qualifikationsverfahren noch aktuell? Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(2).
- Maurer, M. (2025). Wir sollten die schulische Bildung stärken. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(1). https://transfer.vet/wir-sollten-die-schulische-bildung-staerken/
- SBFI (2024). Allgemeinbildung 2030.
- Tellenbach, D. (2022). Plädoyer für ein besseres Qualifikationsverfahren. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 7(3).
- Thurnherr, G. (2020). Vom Wissen zum Können. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(3).
Zitiervorschlag
Neumann, J., & Pusterla, F. (2025). Wie relevant sind schriftliche Schlussprüfungen für den Erfolg im Qualifikationsverfahren?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(2).