Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Heterogenität in der Berufsbildung und ihre Auswirkung auf den Berufsverlauf

Wieviel Allgemeinbildung braucht die Berufsbildung?

Die berufliche Grundbildung in der Schweiz ist sehr heterogen. Sie besteht aus rund 240 verschiedenen Ausbildungsberufen, die sich neben ihrer inhaltlichen Ausrichtung auch in ihrer Ausbildungsdauer und Ausgestaltung unterscheiden. Letztere umfasst beispielsweise das Verhältnis von berufsspezifischen und allgemeinbildenden Lerninhalten, den Anteil der berufspraktischen Ausbildung im Betrieb oder die Spezialisierung des vermittelten beruflichen Wissens. Die Ergebnisse eines Nationalfondsprojektes zeigen auf, dass solche Unterschiede in Zusammenhang stehen mit dem Lohn und der Statusmobilität in der frühen Berufslaufbahn sowie der Wahrscheinlichkeit, einen Abschluss der Höheren Berufsbildung zu erwerben. Die Wahl des Lehrberufs hat damit langfristige Konsequenzen für die weitere Laufbahn.


In der aktuellen Forschung wird debattiert, wie Bildungssysteme ausgestaltet werden sollen, um den Absolvierenden langfristig möglichst gute berufliche Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Im Zentrum steht die Frage, ob berufsspezifische oder berufsübergreifende allgemeinbildende Ausbildungsinhalte bessere Arbeitsmarktchancen bieten. Die internationalen Forschungsresultate legen nahe, dass auf der Sekundarstufe II berufsspezifische Ausbildungsgänge, wozu in der Schweiz die ganze berufliche Grundbildung gehört, den Arbeitsmarkteintritt erleichtern (Bol & van de Werfhorst, 2016; Wolbers, 2007). Mittel- und langfristig bieten allgemeinbildende Mittelschulabschlüsse aber mindestens ebenbürtige Arbeitsmarktchancen (Hanushek et al., 2017; Korber & Oesch, 2019).

Mittel- und langfristig bieten allgemeinbildende Mittelschulabschlüsse mindestens ebenbürtige Arbeitsmarktchancen wie die Berufsbildung.

Die Berufsbildung auf Sekundarstufe II wird meist als homogener Ausbildungstyp behandelt. Dies vernachlässigt, dass es in der Schweiz zwischen den Lehrberufen grosse Unterschiede gibt. Wir haben deshalb untersucht, wie sich die Lehrberufe bezüglich ihrer Berufsspezifität unterscheiden und ob sich dies auf den Lohn, die Mobilität und auf Übertritte in die Höhere Berufsbildung auswirken.

Heterogene Ausgestaltung der Lehrberufe

Die Grundlage der Analyse bilden alle Lehrberufe, die heute mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis abgeschlossen werden. Wir haben ab dem Jahr 2000 bis zum Jahr 2018 die Bildungsverordnungen und Bildungspläne aller Ausbildungsberufe und Fachrichtungen gesammelt (N=601). Anhand dieser Dokumente haben wir eine Datenbank mit rund 130 Merkmalen der verschiedenen Berufe und Fachrichtungen erstellt.

Der Begriff der Berufsspezifität bezieht sich in der Forschung auf das Ausmass, in welchem ein Ausbildungsgang Wissen und Fähigkeiten vermittelt, die nur in einem spezifischen Berufsfeld angewendet werden können (Bol & van de Werfhorst, 2016). Das Gegenstück sind allgemeine Wissensinhalte und Fähigkeiten, die berufsübergreifend nützlich sind. Dazu gehören beispielsweise Sprach-, Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten oder wirtschaftlich und rechtliches Grundwissen.

Wie spezifisch beziehungsweise allgemein Ausbildungsinhalte sind, hängt von der Art des Wissens, der Wissensvermittlung sowie der Breite des Fachwissens ab (siehe Tabelle 1). Hoch spezifisch sind im Betrieb oder in den überbetrieblichen Kursen (üK) praktisch erlernte Ausbildungsinhalte, die sich auf einen bestimmten Beruf oder sogar nur auf eine bestimmte Fachrichtung eines Lehrberufs beziehen. Wenig spezifisch sind allgemeinbildende Wissensinhalte, die vor allem in der Berufsfachschule erlernt werden. Zudem wird in der Forschung schulisch vermitteltes Wissen unabhängig vom Inhalt als weniger spezifisch angesehen als Wissen und Fähigkeiten, die im Betrieb oder den üK praktisch vermittelt werden. Der Grund besteht vermutlich darin, dass schulischer Unterricht die analytische Denk- und Problemlösefähigkeit stärker fördert als die Berufspraxis (Neyt, Verhaest, & Baert, 2020). Der Berufskunde-Unterricht (BKU) an der Berufsfachschule gilt daher als weniger spezifisch als die Ausbildungszeit im Betrieb. Da mit zunehmender Spezialisierung der Ausbildungsinhalte auch deren Übertragbarkeit auf andere Berufsfelder abnimmt, gehen wir zudem davon aus, dass Lehrberufe, die in Fachrichtungen oder Schwerpunkte unterteilt sind, spezifischer sind als solche ohne Unterteilung.

  Art des Wissens Art der Wissensvermittlung Spezialisierung des (Fach-) Wissens
Hohe Spezifität Berufsspezifisches Wissen und Fähigkeiten Praktisch im Betrieb oder üK Ausbildung in Fachrichtungen/Schwerpunkte unterteilt
Geringe Spezifität Berufsübergreifendes Allgemeinwissen Theoretisch in der Berufsfachschule Keine Unterteilung in Fachrichtungen/Schwerpunkte

Tabelle 1: Dimensionen der beruflichen Spezifität

Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Dimensionen zwischen den Lehrberufen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. So unterscheidet sich erstens das Verhältnis von vermitteltem berufsspezifischem und Allgemeinwissen, wozu die Fächer Sprachen, Geschichte, Ethik, Gesellschaft, Politik, Recht und Wirtschaft gehören (siehe Grafik 1). Während beispielsweise Buchhändler und Buchhändlerin EFZ knapp sechs Lektionen Allgemeinbildung pro Woche besuchen (entspricht 0.71 Tage pro Woche), sind es bei den Coiffeusen und Coiffeuren EFZ durchschnittlich nur 2.6 Lektionen (entspricht 0.32 Tage pro Woche). Der Durchschnitt über alle Berufe liegt bei 0.34 Tagen Allgemeinbildung und 4.65 Tagen berufsspezifischer Ausbildung pro Woche (siehe rotes Dreieck). [1]

Grafik 1: Art des Wissens nach Lehrberuf

Auch bezüglich der Art der Wissensvermittlung gibt es beträchtliche Unterschiede (siehe Grafik 2). Während beispielsweise angehende Maurer und Maurerinnen EFZ sehr praxisorientiert lernen und viel Zeit im Betrieb (inklusive üK) verbringen, findet bei den Keramikern und Keramikerinnen EFZ ein grösserer Teil der Ausbildung theoretisch im Berufsfachschulunterricht statt. Der Durchschnitt liegt bei 0.98 Tagen theoretischem Unterricht und 4.02 Tagen praktischer Ausbildung pro Woche (siehe rotes Dreieck).

Grafik 2: Art der Wissensvermittlung nach Lehrberuf

Drittens unterscheiden sich die Lehrberufe im Ausmass ihrer Spezialisierung, die sich in der Anzahl der Fachrichtungen innerhalb eines Lehrberufs spiegelt. 48% der untersuchten Lehrberufe sind in Fachrichtungen oder Schwerpunkte unterteilt. Ein Beispiel ist der Beruf Pferdefachfrau/Pferdefachmann EFZ, in welchem sich die Lernenden auf die fünf Fachrichtungen Pferdepflege, klassisches Reiten, Westernreiten, Gangpferdereite, Pferderennsport und Gespannfahren spezialisieren können.

Die Ausgestaltung der Lehrberufe wirkt sich auf die Berufslaufbahn aus

In einem zweiten Schritt haben wir anhand der Daten der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung sowie der TREE-Studie (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) untersucht, ob die Unterschiede in der Ausgestaltung der Lehrberufe mit Unterschieden in der frühen Berufslaufbahn einhergehen (Grønning, 2021; Grønning, Kriesi, & Sacchi, 2020a, 2020b; Sander & Kriesi, 2021). Wir fokussieren auf drei Merkmale, die zentral sind für den Berufsverlauf junger Leute: Lohn (vollzeit-äquivalenter Bruttojahreslohn), Statusmobilität (Aufwärts-, Abwärts- oder keine Mobilität gemessen an der Veränderung des internationalen sozioökonomischen Statusindex ISEI) und Eintritte in die höhere Berufsbildung.

Im Prinzip ist es möglich, dass der statistische Zusammenhang zwischen Merkmalen von Berufsausbildungen und der späteren Berufslaufbahn irrtümlich zustande kommt, weil sich die Lernenden in den einzelnen Berufslehren bezüglich ihrer durchschnittlichen Fähigkeiten unterscheiden oder weil die Nachfrage nach Absolvierenden zwischen den Berufsfeldern stark differiert. Unsere multivariate Mehrebenen-Regressionsmodelle zeigen allerdings, dass die gefundenen Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Berufslehre und des frühen Berufsverlaufs bestehen bleiben, wenn wir das Anforderungsniveau des Lehrberufs (Stalder, 2011), die jahres- und berufsspezifische Arbeitskräftenachfrage sowie individuelle und betriebliche Merkmale der Befragten (Alter, Geschlecht, Wohnregion, Betriebsgrösse, Position) kontrollieren. In den Analysen mit den TREE-Daten können wir zudem die Lesekompetenzen (PISA-Score) der Befragten am Ende der obligatorischen Schule berücksichtigen. Deshalb gehen wir davon aus, dass unsere Ergebnisse den tatsächlichen Einfluss von Ausbildungsmerkmalen widerspiegeln.

Je mehr Allgemeinbildung die Berufsausbildung vermittelt, umso steiler ist die Lohn- und Statusentwicklung in den ersten Erwerbsjahren.

Diese zeigen, dass hoch spezifische Berufslehren den Arbeitsmarkteintritt erleichtern. In diesen Ausbildungen verbringen die Lernenden viel Zeit im Betrieb und in üK und erwerben deshalb viel Berufspraxis. Die ehemaligen Lernenden profitieren im Vergleich mit solchen, die weniger spezifische Ausbildungen absolviert haben, von höheren Einstiegslöhnen und besseren Chancen, eine ausbildungsadäquate Stelle zu finden. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der hohe Anteil an Berufspraxis die Produktivität der jungen Berufsleute erhöht und dazu führt, dass sie unmittelbar nach Ausbildungsabschluss ohne viel Einarbeitungszeit in den Produktionsprozess integriert werden können.

Weniger spezifische Berufsausbildungen bieten hingegen mittelfristig nach einigen Jahren Berufserfahrung Vorteile, und zwar bezüglich des Lohns, des Berufsstatus und der Wahrscheinlichkeit, sich anhand einer Höheren Berufsbildung weiterzubilden. Je mehr Allgemeinbildung die Berufsausbildung vermittelt, umso steiler ist die Lohn- und Statusentwicklung in den ersten Erwerbsjahren. Absolvierende aus Lehrberufen mit hohen Allgemeinbildungsanteilen arbeiten acht bis zehn Jahre nach Ausbildungsabschluss häufiger in einem Beruf mit höherem Status und sie sind seltener von Statusverlust betroffen als solche aus Berufen, die wenig Allgemeinbildung vermitteln. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass allgemeinbildende Ausbildungsinhalte und Fähigkeiten, wozu beispielsweise analytisches Denken gehört, berufsfeldübergreifend einsetzbar sind und das lebenslange Lernen fördern. Folglich erleichtern sie den Erwerbstätigen die Anpassung an veränderte Arbeitsmarktbedingungen und fördern die berufliche Mobilität.

Bezüglich des Übertritts in eine Höhere Berufsbildung ist vor allem die Art der Wissensvermittlung und die Spezialisierung des beruflichen Wissens relevant. Je höher die schulischen Ausbildungsanteile in Form von allgemeinbildendem und Berufskundeunterricht, umso grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Absolvierenden später eine Höhere Berufsbildung in Angriff nehmen. Zudem treten Personen, die eine wenig spezialisierte Berufsausbildung ohne Unterteilung in Fachrichtungen absolviert haben, häufiger in eine Höhere Berufsausbildung über als solche aus stark spezialisierten Ausbildungsgängen. Berufsausbildungen, die viel theoretisches und wenig spezialisiertes Wissen vermitteln, bieten folglich bessere Voraussetzungen für die schulische Weiterqualifizierung als stärker berufspraktisch und spezialisierte Berufsausbildungen.

Ausmass der beruflichen Spezifität: ein Zielkonflikt?

Gesamthaft weisen unsere Befunde auf einen Zielkonflikt innerhalb der beruflichen Grundbildung hin.

Unsere Ergebnisse stehen in Einklang mit jenen von Meyer & Sacchi (2020). Diese zeigen, dass Jugendliche, die eine Berufslehre mit verhältnismässig geringen schulischen Ausbildungsanteilen absolviert haben, bis zum Alter von 30 Jahren deutlich seltener einen Tertiärabschluss erreichen, weniger verdienen und einen tieferen Berufsstatus haben als vergleichbare Absolvierende aus Berufslehren mit hohem Schulanteil. Gesamthaft weisen unsere Befunde auf einen Zielkonflikt innerhalb der beruflichen Grundbildung hin. Einerseits sind stark berufsspezifisch ausgestaltete Berufslehren mit einem hohen Anteil an Betriebspraxis ideal für die Arbeitsmarktintegration der Absolvierenden. Es ist zu vermuten, dass sie auch die Inklusion der schulisch schwachen oder schulmüden Jugendlichen ins Berufsbildungssystem fördern. Andererseits wirken sich geringe allgemeinbildende und schulische Ausbildungsanteile nachteilig auf die berufliche Entwicklung und die Höherqualifizierung auf Tertiärstufe aus. Dies dürfte in gewissen Berufsfeldern zum Mangel an Fachkräften mit einem höheren Berufsbildungs- oder Fachhochschulabschluss beitragen. Das Spannungsfeld zwischen starker beruflicher Spezialisierung und Praxisorientierung sowie stärker generalisierter und schulbasierter Ausbildung wird deshalb auch in Zukunft aktuell bleiben.

[1] Die aufsummierten Ausbildungszeiten in Grafik 1 und 2 können sich, abhängig von den branchenüblichen Wochenarbeitsstunden, zwischen den einzelnen Berufsausbildungen unterscheiden. So beträgt die gesamte Ausbildungszeit (Zeit im Betrieb, üK und Berufsfachschule) pro Woche bei den Mediamatikerinnen und Mediamatikern EFZ beispielsweise 38 Stunden, während es bei den Pferdefachleuten EFZ 46 Stunden sind.

Literatur

  • Bol, T., & van de Werfhorst, H. (2016). Measuring educational institutional diversity: tracking, vocational orientation and standardisation. In A. Hadjar & C. Gross (Eds.), Education systems and inequalities: international comparison (pp. 73-93). Bristol: Policy Press.
  • Grønning, M. (2021). Institutional Characteristics of Upper Secondary Vocational Education and Training in Switzerland: How Do They Affect VET Diploma Holders’ Early Labour Market Outcomes? Dissertation, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Hannover.
  • Grønning, M., Kriesi, I., & Sacchi, S. (2020a). Income during the early career: Do institutional characteristics of training occupations matter? Research in Social Stratification and Mobility, 67.
  • Grønning, M., Kriesi, I., & Sacchi, S. (2020b). Skill Specificity of Upper-Secondary Training Occupations and the Gender Pay Gap. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 72, 291–315.
  • Hanushek, E. A., Schwerdt, G., Wössmann, L., & Zhang, L. (2017). General education, vocational education, and labor-market outcomes over the lifecycle. Journal of Human Resources, 52(1), 48-87.
  • Korber, M., & Oesch, D. (2019). Vocational versus general education: Employment and earnings over the life course in Switzerland. Advances in Life Course Research, 40, 1-13.
  • Meyer, T., & Sacchi, S. (2020). Wieviel Schule braucht die Berufsbildung? Eintrittsdeterminanten und Wirkungen von Berufslehren mit geringem schulischen Anteil. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 72, 105-134. Kurzfassung in Transfer: Wie die Herkunft die Berufswahl bestimmt.
  • Neyt, B., Verhaest, D., & Baert, S. (2020). The impact of dual apprenticeship programmes on early labour market outcomes: A dynamic approach. Economics of Education Review, 78.
  • Sander, F. & Kriesi, I. (2021). Übergänge in die höhere Berufsbildung in der Schweiz: Der Einfluss institutioneller Charakteristiken des schweizerischen Berufsausbildungssystems. Swiss Journal of Sociology 47(2):305-332.
  • Stalder, B. (2011). Das intellektuelle Anforderungsniveau beruflicher Grundbildungen in der Schweiz. Ratings der Jahre 1999-2005.  Basel: Institut für Soziologie der Universität Basel/TREE.
  • Wolbers, M. H. J. (2007). Patterns of Labour Market Entry. A Comparative Perspective on School-to-Work Transitions in 11 European Countries. Acta Sociologica, 50(3), 189-210.
Zitiervorschlag

Kriesi, I., & Grønning, M. (2021). Wieviel Allgemeinbildung braucht die Berufsbildung?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(2).

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