Interface Politikstudien Forschung Beratung zur Förderung der Grundkompetenzen
Zwischen Verwaltungslogik und Zielgruppenorientierung
In der Schweiz verfügt laut SVEB (Schweizerischer Verband für Weiterbildung) rund eine halbe Million erwerbsfähige Personen nicht über ausreichende Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Sprechen, Rechnen oder die Nutzung von Basis-Computeranwendungen. Private und öffentliche Einrichtungen setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, diese Zahl zu senken – allerdings mit mässigem Erfolg. Die Heterogenität der Zielgruppe, Schamgefühle bei den Betroffenen, eine mangelnde Ausrichtung der Angebote an den tatsächlichen Bedürfnissen machen die Aufgabe schwierig. Eine Studie von Interface Politikstudien Forschung Beratung aus dem Jahr 2023 arbeitet diese Faktoren im Detail auf und macht Vorschläge. So sei eine klare Festlegung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Verwaltungsstellen zentral, damit die (interinstitutionelle) Zusammenarbeit effektiver wird. © Egelmair Photography
Grundkompetenzen sind eine Voraussetzung dafür, dass Erwachsene ihren Alltag bewältigen, in der Arbeitswelt bestehen und an Bildungsangeboten teilnehmen können. Der Bund setzt sich gemeinsam mit den Kantonen dafür ein, dass Erwachsene bestehende Grundkompetenzen erhalten und fehlende erwerben können. Eine Grundlage für die Förderung bildet unter anderem das Bundesgesetz über die Weiterbildung (WeBiG), das Finanzhilfen vom Bund an die Kantone vorsieht (Artikel 16).
Die hier vorgestellte Studie aus dem Jahr 2023 hat Interface Politikstudien Forschung Beratung im Auftrag der nationalen interinstitutionellen Zusammenarbeit durchgeführt. Die Studie hat die Situation von 2021 der Grundkompetenzförderung in Bezug auf die Schnittstellen und Qualitätsaspekte in der Schweiz erhoben. Methodisch basiert die Studie auf einer Dokumentenanalyse und Experteninterviews, einer Online-Befragung bei kantonalen Verwaltungsstellen sowie Weiterbildungsanbietenden. Zudem wurden fünf Kantone für Fallstudien ausgewählt und die Umsetzung der Grundkompetenzförderung porträtiert.
Was ist die interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ)?
IIZ bezeichnet die Zusammenarbeit von zwei oder mehreren Institutionen im Bereich der sozialen Sicherheit, Integration und Bildung. Das kann eine strukturelle Zusammenarbeit oder eine Zusammenarbeit auf Einzelfallebene sein. Die IIZ gibt es sowohl auf der nationalen als auch auf der kantonalen Ebene. Sie hat zum Ziel, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und die gesetzlichen Bestimmungen aufeinander abgestimmt sind, damit die Eingliederungschancen von Personen in Bildung und Arbeit verbessert werden können. Seitdem in Krafttreten des WeBiG im Jahr 2017 wurden auch die Grundkompetenzen stärker zu einem potenziellen Thema der IIZ. Mit der hier vorgestellten Studie wollte die nationale IIZ herausfinden, inwiefern sich die nationale IIZ der Thematik der Grundkompetenzförderung annehmen soll.
Unter der hier verlinkten Adresse finden Sie auf der Webseite der nationalen IIZ weiterführende Informationen zum Ziel und Auftrag der nationalen IIZ.
Welche Zielgruppen sind auf die Förderung von Grundkompetenzen angewiesen?
Die Bevölkerungsgruppen, die einen Bedarf an Grundkompetenzförderung haben, sind divers. Ihnen ist allerdings gemeinsam, dass sie häufig zu einer vulnerablen und oft schwierig erreichbaren Bevölkerungsgruppe gehören. Vulnerable Gruppen unterscheiden sich von der «Normalbevölkerung» dadurch, dass sie sich in einschränkenden Lebenslagen befinden. Dazu gehören zum Beispiel:
- Geringes Einkommen
- Arbeitslosigkeit
- Unzureichende Ausbildung
- Alleinige Erziehungsverantwortung
- Fremdsprachigkeit
- Zugehörigkeit zu einer Minderheit
- Betroffenheit von Armut[1]
Die Erreichbarkeit dieser heterogenen Zielgruppe stellt bei der Förderung von Grundkompetenzen eine zentrale Herausforderung dar. Nebst der Heterogenität spielt auch das Schamgefühl eine Rolle.
Diese Faktoren können einzeln oder in Kombination auftreten. Es ist offensichtlich, dass diese Faktoren zu einer grossen Heterogenität der Bedürfnisse der Zielgruppe führen. So unterscheiden sich die Bedürfnisse in Bezug Kursformate und -inhalte einer alleinerziehenden, asylsuchenden Mutter, die ohne Schulbildung aufgewachsen ist, von denjenigen eines kinderlosen Schweizers, der seine gesamte Schulzeit in der Schweiz absolviert hat und mangelnde Grundkompetenzen aufweist.
Die Erreichbarkeit dieser heterogenen Zielgruppe stellt bei der Förderung von Grundkompetenzen eine zentrale Herausforderung dar. Nebst der Heterogenität spielt auch das Schamgefühl eine Rolle, weshalb die Zielgruppen schwieriger erreichbar sind. Insbesondere gross ist das Schamgefühl bei nicht-berufstätigen Erwachsenen sowie bei Erwachsenen in schlecht bezahlten Berufen, die das Schweizer Bildungssystem besucht haben. Durch entmutigende und zurücksetzende Bildungserfahrungen in der Jugendzeit fühlen sich die betroffenen Erwachsenen blockiert, trauen sich wenig zu und schämen sich, ihre Bildungsdefizite offenzulegen und Grundkompetenzkurse zu besuchen.[2]
Wer fördert die Grundkompetenzen von Erwachsenen?
Angebote zur Grundkompetenzförderung werden von Weiterbildungsanbietenden zur Verfügung gestellt. Dazu gehören grosse Kursanbietende, die national oder regional organisiert sind, non-profit-orientierte Organisationen sowie kleine und lokale Organisationen wie zum Beispiel Quartiertreffs oder Freiwilligenvereine.
Mit der Einführung des WeBiG wurden Bund und Kantone gemeinsam beauftragt, im Bereich der Grundkompetenzen, ergänzend zu bestehenden Gesetzen, aktiv zu werden. Die Zuständigkeit für die Auszahlung der vom WeBiG vorgesehenen Finanzhilfen liegt beim SBFI. Allerdings gibt es nebst dem SBFI weitere Bundesämter, die im Rahmen der Sozialhilfe (Bundesamt für Sozialversicherung BSV), der Integration (Staatssekretariat für Migration SEM), der Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen arbeitsmarktlichen Massnahmen (Staatssekretariat für Wirtschaft SECO) die Grundkompetenzen fördern. Das WeBiG sieht vor, diese Synergien zu nutzen und eine Koordination im Bereich der Grundkompetenzförderung mit anderen Bundesämtern und den relevanten Akteuren zu erreichen (Art. 15 Abs. 2 WeBiG) sowie Förderlücken zu schliessen.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Umsetzung?
Verstärkt wird die Problematik durch eine grosse Zielgruppenüberschneidung und unklaren Finanzierungsprioritäten. Dadurch entstehen parallele Strukturen und Ineffizienzen.
Die Umsetzung der Grundkompetenzförderung geschieht in den Kantonen. Die Herausforderung besteht dabei darin, dass verschiedene Verwaltungsstellen mit unterschiedlichen Finanzierungsmodi (Subjekt-/Objektfinanzierungen), unterschiedlicher Fallführung und unterschiedlichen Logiken (Versicherungslogiken wie z.B. bei der ALV/IV vs. Förderlogik wie im AIG oder WeBiG) aufeinandertreffen. Verstärkt wird die Problematik durch eine grosse Zielgruppenüberschneidung und unklaren Finanzierungsprioritäten. Dadurch entstehen parallele Strukturen und Ineffizienzen. So kann es vorkommen, dass Zielgruppen beispielsweise doppelt finanziert werden: Die eine Verwaltung finanziert den Kursbesuch einer Person direkt (Subjektfinanzierung), die andere Verwaltungsstelle unterstützt das gesamte Kursangebot (Objektfinanzierung). Ein weiteres Problem stellen die Lücken in der Grundkompetenzförderung dar. Durch eine fehlende Fallführung und verschiedene Systemlogiken ist es möglich, dass die Finanzierung von Kursbesuchen für Personen mit Förderbedarf nach einer Integration in den Arbeitsmarkt endet, da in der Logik der Arbeitslosenversicherung keine weitere Finanzierung mehr möglich ist. Für den Grundkompetenzerwerb aus Sicht der Betroffenen wäre es aber notwendig, dass ein Besuch der Kurse weitergeführt würde (Vertiefung und Anwendung des Gelernten). Aktuell obliegt es den betroffenen Personen, sich um eine Anschlussfinanzierung zu kümmern. In Anbetracht ihrer Vulnerabilität und der diversen Ämter und Vorgaben, ist dies häufig ein Ding der Unmöglichkeit. So besteht die Gefahr, dass der Kompetenzerwerb nicht nachhaltig und die Finanzierung nicht effektiv ist.
Was macht einen Kurs qualitativ hochwertig?
Damit die Kursangebote der Grundkompetenzförderung möglichst wirksam sind, ist die Ausgestaltung und Einhaltung einer angemessenen Qualität der Kurse zentral. Dazu gehört insbesondere, dass das Angebot auf die heterogenen Bedürfnisse der vulnerablen Zielgruppen Rücksicht nimmt indem sowohl die Kursinhalte als auch die Kursorganisation entsprechend ausgestaltet werden. Durch flexible Kursformate können auch Menschen mit mehreren Arbeitsstellen, Kinderbetreuungspflichten oder unregelmässigen Arbeitszeiten daran teilnehmen:
Die Studie kommt zum Schluss, dass sich insbesondere niederschwellige und zielgruppenorientierte Angebote eignen, um die Grundkompetenzen zu fördern.
Die Studie kommt zum Schluss, dass sich insbesondere niederschwellige und zielgruppenorientierte Angebote eignen, um die Grundkompetenzen zu fördern. Diese Art von Angeboten stellt allerdings eine Herausforderung für die Kursleitenden dar. So sollten Kursleitende mindestens ein SVEB-Zertifikat Kursleiter/Kursleiterin vorweisen, um die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppen adäquat adressieren zu können. Zudem gibt es einen Bedarf an einem nationalen Konzept, das fachdidaktische Zusatzqualifikationen für Kursleitende im Bereich der Grundkompetenzen umfasst. Solche Qualifikationen sollten Themen wie kulturelle Vielfalt, Analphabetismus und Illettrismus abdecken, um die Qualität des Unterrichts zu erhöhen.
Es bietet sich ausserdem an, aufsuchende Angebote mit einer hohen Niederschwelligkeit und öffentlichen Zugänglichkeit, wie zum Beispiel die Lernstuben im Kanton Zürich zu fördern. Diese bieten Unterstützung und Beratung in einer vertrauenswürdigen Umgebung, was besonders wichtig für Personen mit Schamgefühl ist.
Für die Qualitätssicherung und -entwicklung der Angebote sind in erster Linie die Weiterbildungsanbietenden verantwortlich. Allerdings sieht das WeBiG vor, dass Bund und Kantone Verfahren zur Qualitätssicherung und -entwicklung unterstützen können, um Transparenz und Vergleichbarkeit bei den Weiterbildungen zu gewährleisten. So können Kantone beispielsweise Qualitätsstandards und -kriterien im Rahmen der Finanzierung und der Angebotsgestaltung (z.B. in einer Leistungsvereinbarung) festlegen. Ausserdem schreiben gewisse Kantone die Zertifizierung mit Qualitätslabels wie beispielsweise eduQua oder IN-Qualis vor. Allerdings stellt der Erwerb eines Qualitätslabels insbesondere für Weiterbildungsanbieter wie kleine Vereine eine Herausforderung in Bezug auf Aufwand und Kosten dar. Die flächendeckende Einführung solcher Labels für alle Weiterbildungsanbieter schätzt die Studie zum aktuellen Zeitpunkt daher als unrealistisch ein.
Fazit: Welche Lösungsansätze gibt es?
Die Kantone und die Weiterbildungsanbietenden stehen in der Pflicht, die Kursangebote formell und inhaltlich an die Bedürfnisse der Zielgruppe auszurichten.
Die vorliegende Studie hat erhoben, welche Verwaltungsstellen in der Grundkompetenzförderung tätig sind und wie sie mit den Weiterbildungsanbietenden im Bereich der Finanzierung und der Qualität zusammenarbeiten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Finanzierungsstrukturen zum Zeitpunkt der Studie zwischen den unterschiedlichen Bereichen nicht genügend aufeinander abgestimmt sind und dadurch Ineffizienzen, Doppelspurigkeiten und Lücken entstehen. Um eine effiziente und qualitativ hochwertige Grundkompetenzförderung zu erreichen, ist es notwendig, die Grundkompetenzförderung weniger aus der Verwaltungslogik, sondern von der Zielgruppe her zu denken. So lassen sich die folgenden Lösungsansätze ableiten:
- Klärung der Schnittstellen: Eine klare Festlegung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Verwaltungsstellen ist zentral, damit die (interinstitutionelle) Zusammenarbeit effektiver wird. Dabei sollten insbesondere die Verwaltungsstellen der Bildung und Integration in allen Kantonen Teil der kantonalen IIZ sein.[3]
- Harmonisierung der Finanzierungsmodi und Einführung von Förderkonzepten: Die Ausrichtung der Finanzierung auf den Bedarf der Zielgruppen stellt eine gute Möglichkeit dar, um die Finanzierungsprozesse in der Grundkompetenzförderung zu vereinfachen. Die unterschiedlichen Finanzierungsmodi innerhalb der Kantone können durch gemeinsame Förderkonzepte mit einer zielgruppenorientierten Ausrichtung überwunden werden.
- Zielgruppenorientierte und aufsuchende Ausgestaltung der Kurse: Die Kantone und die Weiterbildungsanbietenden stehen in der Pflicht, die Kursangebote formell und inhaltlich an die Bedürfnisse der Zielgruppe auszurichten. Damit einher geht eine niederschwellige Unterstützung der betroffenen Personen.
Zitiervorschlag
Feller, R., & Schwegler, C. (2024). Zwischen Verwaltungslogik und Zielgruppenorientierung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(13).