Evaluation der Flexibilisierung der Informatikausbildung an der gibb Berufsfachschule Bern
Eine Schule erprobt den Unterricht der Zukunft
Vor fünf Jahren startete die gibb Berufsfachschule Bern das Programm «Informatikausbildung 4.0». In seinem Rahmen wurde die Möglichkeit geschaffen, die zeitliche Abfolge der Module individuell anzupassen. Angebote für das selbst-organisierte Lernen sowie eine Lern- und Prüfungsplattform ergänzen das Programm. Inzwischen sind diese Innovationen evaluiert worden. Ein Ergebnis: Die Flexibilisierung der Informatikausbildung nur mit unterschiedlichen Reihenfolgen der Kompetenzfelder ist nicht ausreichend, es ist weitere Individualisierung in der Ausbildung notwendig.
Informatikausbildung 4.0 ist ein Innovations-Programm der gibb Berufsfachschule Bern für die modulare Informatikausbildung. Es besteht aus drei Projekten:
- Die bedarfsgerechte Flexibilisierung der Informatikausbildung (Fleba) ermöglicht es den Lernenden, die erforderlichen Informatik-Module zur für sie passenden Zeit zu besuchen, damit sie das Gelernte in der betrieblichen Ausbildung optimal anwenden können.
- Im Rahmen des Projektes SOL (selbst-organisiertes Lernen) wurde ein dreistufiges Modell erarbeitet, das den Lernenden ein niveaugerechtes, begleitetes Selbststudium ermöglicht.
- Im Projekt Smartlearn wurde eine handlungskompetenz-orientierte, digitale Lern- und Prüfungsplattform geschaffen.
Das Innovations-Programm Informatikausbildung 4.0 wurde passend zu den Zielsetzungen des SBFI im Rahmen von Berufsbildung 2030 lanciert, um offenen Punkten in der modularen Informatikausbildung besser zu begegnen. Denn das Modulsystem von ICT Berufsbildung Schweiz bietet zwar viele Möglichkeiten der Flexibilisierung und Individualisierung, aber bisher wurden sie viel zu wenig genutzt. Hier setzt das Programm mit seinen drei Projekten an. Es wurde von 2018 bis 2022 von der Fachstelle Evaluation der EHB evaluiert.[1]
Fleba: Lernen, wann es gut passt
Das Projekt Fleba ermöglicht es den Lehrbetrieben mitzubestimmen, in welcher Reihenfolge ihre Lernenden den berufskundlichen Stoff an der Berufsfachschule erarbeiten.
Das Projekt Fleba ermöglicht es den Lehrbetrieben mitzubestimmen, in welcher Reihenfolge ihre Lernenden den berufskundlichen Stoff an der Berufsfachschule erarbeiten. So sollen die Lernenden im Betrieb bei produktiven Projekten frühzeitiger mitarbeiten und ihr Wissen praktisch vertiefen können. Die Betriebe können die Module in folgenden Kompetenzfeldern priorisieren:
Fachrichtung Applikation, Kompetenzfelder:
- Application Engineering
- Web Engineering
- Business Engineering
Fachrichtung Systemtechnik, Kompetenzfelder:
- Netzwerk
- Servertechnologien
Die für den Betrieb relevanten Kompetenzen werden dann zu dem Zeitpunkt vermittelt, der den betrieblichen Anforderungen entspricht. Wer etwa die Ausbildung in einer Webagentur absolviert, kann die Module des Kompetenzfelds «Web Engineering» bereits im zweiten Ausbildungsjahr belegen statt erst im dritten oder vierten. Eine vollumfängliche Flexibilisierung ist allerdings nicht möglich, da manche Modulinhalte auf dem Vorwissen aus anderen Modulen aufbauen und nicht beliebig verschoben werden können.[2]
SOL: In drei Stufen weg vom Präsenzunterricht
Im Projekt SOL (selbst-organisiertes Lernen) steuern die Lernenden ihren Wissenserwerb vermehrt selbst. SOL basiert auf den Lerntheorien des Kognitivismus und Konstruktivismus und fusst auf acht didaktischen Prinzipien:
- Verantwortung fördern
- Reflexionsfähigkeit fördern
- Kooperation ermöglichen
- Individuelle Verarbeitung ermöglichen
- Sandwich-Prinzip anwenden
- Orientierung geben
- Erfolge sichtbar machen
- Bedürfnisse beachten
Aus diesen acht Prinzipien wird ein allgemeines didaktisches Modell (SOL-Meta-Modell) gebildet, das die Grundlage für die modulspezifischen SOL-Modelle darstellt, die den Rahmen des didaktischen Konzeptes des jeweiligen Moduls bilden. Diese werden dann von der Modulautorin bzw. dem Modulautor konzipiert. Dazu gehören auch didaktische Handlungsanweisungen für Lehrpersonen, die den SOL-Unterricht durchführen.
Modulspezifische SOL-Konzepte beinhalten drei Stufen. SOL1 ist weitgehend unterrichtsgeführt, SOL2 überträgt mehr Verantwortung und SOL3 sieht eine Unterrichtsbefreiung vor. Hier übernehmen die Lernenden die Verantwortung ihres Lernprozesses und entscheiden selbständig über ihre Teilnahme am Präsenzunterricht bzw. den Unterstützungsumfang durch die Lehrperson. Diese Stufe kann vom Lernenden pro Modul und in Absprache mit dem Lehrbetrieb und der Lehrperson gewählt werden. Die Leistungsbeurteilungen erfolgen auf dieser Stufe jedoch immer im Klassenverband. Lernende der SOL-Stufe 3 erfüllen bei Prüfungen identische Anforderungen wie alle anderen Lernenden in den Regelklassen.
Das Projekt SOL hat darüber hinaus viele Aktivitäten und Ideen zur Gestaltung des Unterrichts hervorgebracht.
Das Projekt SOL hat darüber hinaus viele Aktivitäten und Ideen zur Gestaltung des Unterrichts hervorgebracht. Nennenswert sind die Online-Kurse, diverse Ideen zu interdisziplinären Lernsettings sowie die Etablierung von wiederkehrenden Intervisionen unter den Lehrpersonen.
Das angestrebte Ziel, die Motivation als Voraussetzung für SOL zu «stimulieren», führt zu einer permanenten Auseinandersetzung, wie Unterricht interessant gestaltet werden kann. In diesem Sinne ist das SOL-Projekt wohl als Projekt abgeschlossen, hinterlässt jedoch die Überzeugung, dass ein Prozess etabliert werden muss, welcher den Fokus auf die Entwicklung der zukünftigen Lernsettings und -organisation nicht aus den Augen verliert.
Dies mag aus der Perspektive einer Lehrperson eine Binsenweisheit sein, weil genau das Ausdruck von Professionalität ist. Aus einer gesamtschulischen Perspektive muss der Prozess im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses unterstützt werden.
Plattform Smartlearn: Lernen und Prüfen im Internet
Für die individuelle Wissens- und Kompetenzaneignung hat die gibb die interaktive und virtuelle Lern- und Prüfungsplattform Smartlearn entwickelt. Smartlearn ermöglicht handlungsorientiertes Lernen und Prüfen via Internet: In virtuellen Netzwerkumgebungen werden die Aufgaben wie im Berufsalltag gelöst. Zudem können auch Wissensfragen beantwortet werden. Die Online-Plattform dient als Basis für die Flexibilisierung und für das selbst-organisierte Lernen. Sie ergänzt den Präsenzunterricht, der unverzichtbar ist, wenn es um das Verständnis und den Praxistransfer geht. Durch die Plattform verändert sich jedoch die Rolle der Lehrkräfte. Diese werden vermehrt zu Lernbegleiterinnen und -begleitern.
Fazit der Evaluation
Die wissenschaftliche Begleitung durch die Fachstelle Evaluation der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB lief von Frühjahr 2018 bis Sommer 2022. Sie umfasste mehrere Fragebogenerhebungen bei Lernenden und Lehrpersonen sowie diverse Workshops mit Lehrpersonen und betrieblichen Berufsbildenden.
Fleba
Der im Projekt Fleba zu Beginn gelegte Fokus auf eine zeitliche Flexibilisierung erwies sich als sinnvoller erster Schritt; aber er schöpft das Potenzial nicht aus.
Der im Projekt Fleba zu Beginn gelegte Fokus auf eine zeitliche Flexibilisierung erwies sich als sinnvoller erster Schritt; aber er schöpft das Potenzial nicht aus. So sieht man bei Fleba-Lernenden in Bezug auf den Lernerfolg nur wenige bis keine Unterschiede gegenüber Lernenden ohne Fleba. Auch die Einschätzungen zu Kompetenzerwerb und -entwicklung fallen vergleichbar aus. Dies ist zum einen inhaltlich wenig überraschend, da sich nur die Reihenfolge des Lernstoffs, aber selten der Lernstoff selbst geändert hat. Zum anderen stellen insbesondere die Lehrpersonen fest, dass die sich durch Fleba bietende Flexibilisierung von den Lernenden kaum genutzt wird. Bei der Vorstellung der Projektergebnisse wurde das von den Lehrpersonen u.a. damit begründet, dass das Modul-System zu wenig flexibel sei und mehr in dieser Richtung bieten müsste.
Die Lehrpersonen fühlen sich in Fleba stärker belastet. Der Grund: ein zu wenig gut eingeführter Wechsel von zwei Lektionen auf vier Lektionen pro Woche (bei gleich bleibender Gesamtlektionenzahl von 40, was die Unterrichtsdauer von einem Semester auf ein Quartal gekürzt hat). Dabei besteht ein Zusammenhang mit SOL3: Lernende können anstelle der Schule einen halben Tag (4 Lektionen) in der Ausbildungsfirma verbringen, was bei zwei Lektionen nicht möglich war. Gleichzeitig denken die Lehrpersonen, dass sie den Lehrstoff mit Fleba mehr oder weniger gleich gut vermitteln können wie ohne. Nach anfänglicher Kritik wurden die an die 4-Lektionenblöcke sowie an die neue Bildungsverordnung angepassten Lernunterlagen von den Lehrpersonen und auch den Lernenden positiv beurteilt.
Es ist eine grosse Herausforderung, die Betriebe mit auf die Reise zu nehmen.
Es ist eine grosse Herausforderung, die Betriebe mit auf die Reise zu nehmen. Viele betriebliche Berufsbildende kennen das Fleba-Konzept nicht gut genug, viele wünschen mehr Informationen durch die gibb. An entsprechenden Workshops nahmen allerdings nur sehr wenige Personen teil; dies deutet darauf hin, dass die Netzwerkarbeit Schule/Betrieb verbesserungswürdig ist. Wie an manch anderer Schule könnten solche Veranstaltungen zum regelmässigen Networking und zur Beziehungspflege genutzt werden. Wie stark das Interesse der Betriebe an solchen Aktivitäten schlussendlich wäre, bleibt an dieser Stelle offen – auch wenn über 80% der Berufsbildenden eine fachliche Zusammenarbeit Lehrbetrieb-Berufsfachschule für (eher) wünschenswert halten. Erfahrungen an anderen Orten machen ebenfalls Mut, so dass sich Investitionen in eine solche Beziehungsarbeit lohnen könnten. Verschiedene Fleba-Merkmale wurden im Durchschnitt recht neutral bewertet. Immerhin rund die Hälfte findet (eher), dass Lernende früher im Betrieb einsetzbar sind, was ein zentrales Projektziel war.
SOL
Im Projektverlauf wurde das Konzept des selbst-organisierten Lernens bis hin zu SOL3 weiterentwickelt (siehe Abbildung). SOL nimmt an der gibb eine zentrale Rolle ein. Das Modell kommt gut an, und mittlerweile ist es auch bei den betrieblichen Berufsbildenden gut bekannt; auch sie beurteilen SOL3 mehrheitlich positiv. Erste Ergebnisse mit SOL3 bei allerdings (noch) wenigen Lernenden sind ebenfalls vielversprechend mit einer nochmaligen Steigerung gegenüber SOL1 und SOL2, deuten aber auch auf eine besondere Nützlichkeit eher für besonders leistungsstarke und motivierte Jugendliche hin. Wie gross der Bedarf wirklich ist, wird noch zu prüfen sein. Der juristisch mögliche Rahmen (zum Beispiel Abwesenheiten von der Schule) muss bei einer möglichen Ausweitung explizit berücksichtigt werden.
Smartlearn
Die Mehrheit der Lernenden schätzt Smartlearn als positiv für ihren Lernprozess ein, und inhaltlich wird Smartlearn von den Lehrpersonen geschätzt. Allerdings gibt es noch Funktions- und Aktualitätsprobleme. Solche Kinderkrankheiten sind im Rahmen erster Schritte aber nicht ungewöhnlich.
Wie geht es weiter?
Das Innovations-Programm Informatikausbildung 4.0 wurde Ende 2022 abgeschlossen und wird nicht weitergeführt.
Das Innovations-Programm Informatikausbildung 4.0 wurde Ende 2022 abgeschlossen und wird nicht weitergeführt, da gewisse Elemente wie zum Beispiel Fleba durch die neue Bildungsverordnung obsolet und andere Schwerpunkte wie Individualisierung/ Modul-Online Kurse (MOK) definiert wurden. Trotzdem kann Fleba als ein Meilenstein in der Flexibilisierung der Informatikausbildung betrachtet werden. Das Modell zeigt, dass es möglich ist, mit visionären Ideen und der nötigen Entschlossenheit und Ausdauer ein Projekt umzusetzen, das nicht nur die eigene Institution, sondern auch andere Organisationen inspiriert. Auch wenn das Projekt Fleba nicht weitergeführt wird und die letzte Klasse im Juli 2024 die gibb verlässt, half das Projekt, wichtige Erkenntnisse zu sammeln. So soll die Flexibilisierung und Individualisierung der Informatikausbildung an der gibb mit MOK ausgebaut werden. Diese sollen einem erweiterten Benutzerkreis zur Verfügung gestellt werden.
Die Handlungskompetenz-orientierte, digitale Lern- und Prüfungsplattform Smartlearn soll zur Cloud weiterentwickelt werden, um auch der technischen, zeitlich uneingeschränkten Verfügbarkeit mehr Gewicht zu verleihen. Weitere Massnahmen (z.B. einheitlich aufgebaute Arbeitsunterlagen, Handlungsempfehlungen für SOL-Unterricht, Definition eines Reviewprozesses) sind ebenfalls in Angriff genommen worden.
Integra: In kürzerer Zeit zum Bachelor
Eine weitere Entwicklung betrifft die Verbindung von beruflicher Grundbildung und Studium. Integra ermöglicht es talentierten Informatik-Lernenden der Fachrichtung Applikationsentwicklung, in 7 statt 8 Jahren die Berufslehre und den berufsbegleitenden Bachelor an der Berner Fachhochschule (B.Sc. BFH) zu absolvieren.
Die um ein Jahr verkürze Informatik-Ausbildung ist für besonders engagierte junge Talente geeignet. Das Pilotprojekt des Kantons Bern verbindet die vierjährige Informatik-Lehre und das berufsbegleitende Informatik-Bachelorstudium und basiert auf vier Voraussetzungen:
- Die Zeit der praktischen Ausbildung im Betrieb bleibt unverändert, da diese zum wertvollsten Teil der dualen Bildung gehört.
- Die Jugendlichen streben von Lehrbeginn den Bachelorabschluss an. Dies setzt neben einer hohen Leistungsfähigkeit und Motivation auch den Besuch der BMS sowie sehr gute schulische Leistungen voraus.
- Die Synergien an der Schnittstelle Berufsfachschule – Fachhochschule werden genutzt und somit insgesamt ein Jahr Ausbildungszeit eingespart.
- Die Absolventen schliessen die EFZ-Ausbildung sowie die Bachelor-Ausbildung umfassend und ohne irgendwelche Anforderungsreduktionen ab.
Das erste Informatik-Ausbildungsjahr mit Besuch der BMS verläuft regulär und dient zur Eignungsabklärung. Das eigentliche Integra-Programm beginnt im zweiten Lehrjahr.
Zitiervorschlag
Frieden, M., Ninck, G., Jäggi, T., Staub, T., & Balzer, L. (2024). Eine Schule erprobt den Unterricht der Zukunft. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 9(2).