Berufsbildung in Forschung und Praxis
Herausgeberin SGAB Logo

Evaluation eines Förderangebots an der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZ)

Die Talentklasse für Köchinnen und Köche macht Sinn

Immer wieder sind Lernende mit dem regulären Lerntempo und dem Lernstoff unterfordert. Die Schwierigkeit besteht für Lehrpersonen fast immer darin, dass sie die Lernenden für ihre guten Leistungen «nur» mit guten Noten oder wohlwollenden Kommentaren in den Leistungsberichten würdigen können. Einige Lernende ziehen die guten Leistungen durch, andere ziehen sich zurück, sobald sie feststellen, dass die Unterforderung häufig zu Mehrarbeit in Form von Zusatzaufträgen führt. Um diesen Lernenden eine Chance zu bieten, ihr Potenzial auszuschöpfen, wurde an der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZ) das Projekt «Koch-Talentklasse» gestartet. Ziel ist es, Talente früh zu erkennen und zu fördern, indem sie – nebst dem regulären Lernstoff – die Inhalte vertiefter und projektartiger bearbeiten. Das Projekt wurde von der Fachstelle Evaluation der EHB evaluiert.


Wie funktioniert die Kochtalentklasse?

Beim Food Zürich 2022 konnte die Talentklasse im Voraus in Zusammenarbeit mit Spitzenköchen aus etablierten Zürcher Restaurants kleine Gerichte entwickeln, an einem Anlass mit der Bildungsdirektorin testen und dann am Food Zurich in grossem Stil auftragen.

Koch-Talentklassen existieren an der Allgemeinen Berufsschule Zürich (ABZ) seit dem Schuljahr 2019/2020. Ab dem 3. Semester werden überdurchschnittlich leistungsstarke Lernende in der Kochtalentklasse zusammengelegt. Die Selektion erfolgt im ersten Lehrjahr. Grundvoraussetzung sind ein Notendurchschnitt von mindestens 4.5 und die Motivation der Lernenden selbst, die ein Motivationsschreiben einreichen müssen. Die «Bewerbung» muss von der Lehrperson und dem Berufsbildenden unterstützt werden. Es werden 15-20 Lernende in die Talentklasse aufgenommen. Hier wird der reguläre Lernstoff in rund 75% der zur Verfügung stehenden Zeit abgedeckt, um in den verbleibenden 25% Raum für einen tieferen Einblick in die Materie oder für komplexere Projekte zu schaffen. Obschon die 75/25 Regel auch im Allgemeinbildenden Unterricht (ABU) gilt, steht klar die berufliche Förderung im Vordergrund. Auch die Sportlektionen wurden – als teamförderndes Element – in Halb- und Ganztage zusammengefasst, was neue Möglichkeiten eröffnete, sowohl für den Sport selbst als auch für die Organisation des berufskundlichen Unterrichts und des ABU.

In der gewonnenen Zeit (25%) wurden in der Vergangenheit diverse Projekte lanciert. So erhalten die Lernenden die Chance, ihre transversalen Kompetenzen zu erweitern, indem sie in den beiden Bereichen «Nachhaltigkeit» und «Trends in der Gastronomie / Hotellerie» Wettbewerbe, Netzwerke, Produktionsabläufe und Produkte kennenlernen und für sich nutzen können. Der Auftritt bei Externen ermöglicht ihnen, ihre Fähigkeiten über die Schule hinaus zu zeigen.

Einzelne Beispiele:

  • 2. Lehrjahr: In diesem Lehrjahr liegt der Fokus auf Produkten und Nachhaltigkeit. Bei Besuchen bei Produzenten und landwirtschaftlichen Schulen lernen die Jugendlichen die Produktion von Lebensmitteln kennen und wertzuschätzen. Begleitend nehmen sie an Wettbewerben teil und besuchen an einer Fachhochschule ein Sensorik-Seminar. Die Jugendlichen lernen zudem unterschiedliche Abläufe und Philosophien in der Gastronomie kennen und können im Austausch mit der Branchenpraxis Kontakte knüpfen und Ideen sammeln. In diesem Bereich werden Referentinnen und Referenten eingeladen oder Betriebe besucht, die breit bekannt sind und mit einem starken «Storytelling» begeistern können.
  • 3. Lehrjahr: Im letzten Lehrjahr liegt der Fokus auf Schnittstellen und Mobilität. Die Jugendlichen lernen weitere Kulturen und Eigenheiten in der Gastronomie kennen und sammeln in einem Auslandspraktikum in einem Spitzenbetrieb weitere wichtige Erfahrungen; es sind dies Praktika in Spitzenbetrieben mit mindestens einem Michelin-Stern in der Schweiz und in europäischen Ländern (aktuell: Deutschland, Österreich, Italien, Dänemark, Finnland und Grossbritannien). Der Besuch erlaubt ihnen, noch klarer die Vielfalt und Chancen im Gastgewerbe zu erkennen und zu nutzen. Zudem nehmen sie an einem Grossevent teil. Beim Food Zürich 2022 konnte die Talentklasse im Voraus in Zusammenarbeit mit Spitzenköchen aus etablierten Zürcher Restaurants kleine Gerichte entwickeln, an einem Anlass mit der Bildungsdirektorin testen und dann am Food Zurich in grossem Stil auftragen. In den letzten beiden Jahren haben Lernende aus der Talentklasse unter anderem auch am gusto-Wettbewerb teilgenommen. Der letztjährige Gewinner und die Zweitplatzierte sind nun Mitglieder der Kochnationalmannschaft.

Was passiert bei den Lernenden der Talentklassen – und den anderen?

Auch die ursprüngliche Befürchtung, dass die anderen Klassen ihre «Zugpferde» verlieren und das Niveau sinken würde, hat sich nicht bewahrheitet.

Mit Einführung der Koch-Talentklasse im Schuljahr 2019/2020 begann auch die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch die Fachstelle Evaluation der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB. Das Selektionsverfahren der Lernenden wurde gemeinsam entwickelt. Ein Schwerpunkt der Evaluation lag im Vergleich der Kochtalentklasse mit anderen Lernenden. Dafür wurden vier weitere Klassen ausgewählt (Vergleichsklassen). In den ersten zwei Durchführungen der Koch-Talentklasse startete die Talentklasse jeweils bereits im 2. Semester. Die erste Kohorte der Lernenden wurde daher zu Beginn des zweiten Semesters (Start der Einteilung in die Talent- und Vergleichsklassen), zu Beginn des vierten Semesters, sowie im Verlauf des sechsten Semesters per online-Fragebogen unter anderem zu Persönlichkeitseigenschaften, Kompetenzen und Lern- und Leistungsmotivation befragt. Zudem wurden auch die Lehrpersonen (der Talent- und Vergleichsklassen) sowie die Berufsbildenden befragt.

Bereits zu Beginn des zweiten Semesters zeigten sich erwartungsgemäss Unterschiede zwischen den Lernenden der Talent- und Vergleichsklassen: Die Lernenden der Talentklasse waren zuversichtlicher, dass sie ihre Lehre erfolgreich abschliessen können, und sie schätzten sich höher ein bezüglich Methodenkompetenz (z.B. ordentlich), Personalkompetenz (z.B. verantwortungsbewusst) sowie Engagement. Die Lernenden der Vergleichsklasse zeigten mehr Vermeidungs-Leistungsziele (z.B. vermeidet man, «dumme» Fragen zu stellen) und waren eher darauf bedacht, den Arbeitsaufwand möglichst gering zu halten. Diese Unterschiede blieben in den weiteren beiden Erhebungszeitpunkten grösstenteils stabil. Zusätzlich zeigten sich bei den Lernenden der Talentklasse im vierten und sechsten Semester eine höhere Anstrengungsbereitschaft, weniger Burn-out Symptome und sie schätzten das Klassenklima wesentlich positiver ein als die Lernenden der Vergleichsklassen. Bei dem selbst eingeschätzten Zuwachs an überfachlichen Kompetenzen gab es hingegen keine Unterschiede zwischen den Lernenden der Talentkasse und jenen der Vergleichsklassen.

Im sechsten Semester wurde zusätzlich nach den Anschlusslösungen nach der Lehre gefragt. Hier gab es klare Unterschiede zwischen den Klassen. Aus der Talentklasse hatten mehr Lernende bereits eine Stelle in Aussicht und es hatten sich mehr Personen für die Berufsmaturität (BM2) eingeschrieben als aus den Vergleichsklassen. So hatte ein Drittel der Lernenden der Vergleichsklassen keine Stelle in Aussicht, während dies bei keinem Lernenden der Talentklasse der Fall war. Es hatten auch mehr Lernende der Talentklasse einen konkreten Plan für die nächsten 2-5 Jahre.

Die Lernenden der Talentklasse waren sehr zufrieden mit dem Einsatz der 25% neuen Inhalte und sahen auch kein Problem in der Komprimierung des Lernstoffes. Bei den Dingen, die unbedingt beibehalten werden sollten, wurden vor allem die Exkursionen/Projekttage genannt, die Unterstützung und Motivation der Lehrpersonen und der Austausch zwischen den Lernenden. Alle Lernenden würden die Talentklasse erneut besuchen und haben sie teilweise bereits weiterempfohlen.

Auch die Lehrpersonen sind der Ansicht, dass die Lernenden die Komprimierung des Lernstoffes gut verkraftet haben, wobei sich einige Lernende selbst unter Druck gesetzt hätten. Auch die ursprüngliche Befürchtung, dass die anderen Klassen ihre «Zugpferde» verlieren und das Niveau sinken würde, hat sich nicht bewahrheitet. Die Kommunikation im Kollegium wurde allerdings teilweise als unbefriedigend erlebt, und es war nicht immer leicht, Lehrpersonen von der Talentklasse bzgl. Mehraufwand und Sinnhaftigkeit zu überzeugen.

Die Berufsbildenden wurden zu Beginn des dritten Semesters um ihre Einschätzung gebeten, als die Talentklasse erst ein Semester zusammen war. Sie bestätigten die hohe Motivation der Lernenden, fanden aber teilweise, dass die gewonnene Zeit besser für Grundlagen eingesetzt werden sollte (und weniger für Spezialprojekte).

Erfahrungen der Lehrpersonen der Talentklasse

Es war in den Augen der Lehrpersonen recht zeitintensiv und nicht immer leicht, allen Stakeholdern das neue Projekt zu erläutern und den Nutzen aufzuzeigen. Es gab Vorbehalte betreffend «Neuem» und der Finanzierung.

Die Lehrpersonen der Talentklasse stellen fest, dass die Lernenden durch die Förderung ihre Persönlichkeit besser entfalten konnten, wobei besonders die zwei Wochen Auslandspraktikum als sehr wertvoll für die Entwicklung der Lernenden angesehen wird. Sie sehen aber auch, dass eine Talentklasse nicht konstant gute Leistungen erbringen kann, sondern dass auch hier Schwankungen existieren. So müsse darauf geachtet werden, dass die Lernenden nicht überfordert werden, da sie auch im Betrieb stark gefordert sind. Zudem bemerken sie, dass die Klasse innerhalb der Schule und unter den Berufsbildenden bekannter und akzeptierter wird, was zu einer positiven Lernspirale führen könne.

Es war in den Augen der Lehrpersonen recht zeitintensiv und nicht immer leicht, allen Stakeholdern das neue Projekt zu erläutern und den Nutzen aufzuzeigen. Es gab Vorbehalte betreffend «Neuem» und der Finanzierung.  Zudem ist die Gestaltung der 25% komplex in Organisation, Zeit, Finanzen und Personal und sie muss immer wieder hinterfragt werden, da der Anspruch war, dass die Programme aktuell und branchengerecht sein müssen.

Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der begleitenden Evaluation zeigen, dass die Einführung einer Talentklasse gewinnbringend sein kann: Die Lernenden der Talentklasse werden durch die Angebote der Lehrpersonen stärker gefördert und fühlen sich auch durch den Austausch mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden motivierter in der Lehre. Zudem zeigt sich, dass die Lernenden der Talentklasse mehr Ausdauer haben, weniger Burn-out Gefühle erleben und sich in ihrer Klasse wohler fühlen als die Lernenden der Vergleichsklassen. Auch bezüglich der Anschlusslösungen sieht man Unterschiede: Die Lernenden der Talentklasse haben bereits konkretere Aussichten oder Pläne als die Lernenden der Vergleichsklassen.

Die dritte Kohorte der Talentklasse steht kurz vor der Lehrabschlussprüfung, die vierte Kohorte hat bereits in der Talentklasse begonnen. Seit der dritten Kohorte beginnt die Talentklasse erst ab dem dritten Semester, was Vor- und Nachteile hat. Die spätere Selektion ermöglicht eine sorgfältigere Abklärung durch Lehrpersonen und Berufsbildner sowie durch die Lernenden selbst und ist organisatorisch leichter im Schulbetrieb umzusetzen. Sie birgt aber auch die Gefahr, dass Lernende nach zwölf Monaten in einer Klasse nicht mehr wechseln möchten. So hat die Verschiebung des Starts auf das zweite Lehrjahr dazu geführt, dass die Talentklasse kleiner, aber auch leistungsfähiger geworden ist.

Die Klassendynamik ist selbstverständlich jedes Jahr anders und grundsätzlich unabhängig von der Anzahl Lernender und dem Startzeitpunkt. Um gewisse Schwankungen aufzufangen haben Lernende, die sich später für oder gegen die Talentklasse entscheiden, die Möglichkeit, die Talentklasse per Ende 3. oder 4. Semester zu verlassen oder zu betreten (Selektionskriterien vorausgesetzt).

Seit 2021 ist das Projekt fest in die Schule implementiert, und die Zukunft der Talentklasse ist gesichert. Die Einrichtung von separaten Talentklassen ist in kleineren Berufsgruppen leider nicht möglich, diese sind in einem allgemeinen Talentförderungsprogramm der ABZ eingebunden. Durch die Lösung mit den 25% ergaben sich für die Schule keine Mehrkosten, da diese im normalen Pensenumfang der Lehrpersonen enthalten waren. Mehrkosten entstanden durch zusätzliche externe Referierende, diese wurden zum Teil von der Schule getragen. Das Projekt wurde auch vom Cercle des Chefs de Cuisine Zürich (CCCZ) finanziell unterstützt. Bei den internationalen Praktikumsplätzen wurde das Projekt von der Stiftung Visite organisatorisch mit Mitteln von Movetia unterstützt.

EHB-Projektseite

Zitiervorschlag

Wilhelm, A., Hanselmann, A., Eicher, V., & Balzer, L. (2023). Die Talentklasse für Köchinnen und Köche macht Sinn. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(8).

Das vorliegende Werk ist urheberrechtlich geschützt. Erlaubt ist jegliche Nutzung ausser die kommerzielle Nutzung. Die Weitergabe unter der gleichen Lizenz ist möglich; sie erfordert die Nennung des Urhebers.