Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Begleitetes selbstorganisiertes Lernen (BGSOL) an der WKS KV Bern

Viel früher selbständig

Seit rund fünf Jahren erprobt die WKS KV Bern alternative Bildungsformate. Unter dem Titel des «Begleiteten selbstorganisierten Lernens» (BGSOL) bietet die Schule kaufmännischen Lernenden die Möglichkeit, die Zeit an der Schule individueller und besser für das Lernen zu nutzen. Die Erfahrungen zeigen: Das Modell funktioniert, aber es erforderte immer wieder Anpassungen. In jedem Schuljahr starten zwei Klassen Kaufleute E-Profil nach BGSOL. Es sind durchaus nicht die leistungsstärksten Jugendlichen, die mit Erfolg daran teilnehmen. Wer das Modell absolviert, erhält am Schluss ein zusätzliches BGSOL-Diplom, das bei Bewerbungen verwendet werden kann.


Die Lernenden erhalten pro Woche (zwei Schultage) in der Regel neun Aufträge, die sie im Rahmen des «Selbstorganisierten Lernens» (SOL) weitgehend selbständig erledigen.

Als vor bald fünf Jahren, im Sommer 2018, an der WKS KV Bildung[1] die erste Pilotklasse von Kaufleuten im E-Profil in das «Begleitete selbstorganisierte Lernen» (BGSOL) einstieg, war keineswegs klar, wie gut die Idee funktionieren würde. Klar aber waren das Ziel und das Konzept: BGSOL sollte den Lernenden eine stärker auf die Arbeitsrealität abgestimmte Ausbildung ermöglichen, welche die Selbstständigkeit erhöht. Und die Lernenden sollten die Zeit an der Schule individueller und besser für das Lernen zu nutzen, damit sie zuhause weniger für die Schule lernen müssen.

Eckpfeiler des Projekts waren:

  • Freiwillige Teilnahme für die Lernenden und die Lehrpersonen.
  • Im Vergleich mit «klassischen» Klassen gleichwertige Vorbereitung auf die nationalen Prüfungen im Rahmen des Qualifikationsverfahrens.
  • Erhöhte Präsenz der Lehrpersonen während der dreijährigen Projektphase; sie decken in den Phasen des «Selbstorganisierten Lernens» (SOL) zu zweit mehrere Fachgebiete ab.
  • Coaching der Lernenden, um das selbstorganisierte Lernen zu begleiten und unterstützen.
  • Nach Abschluss der dreijährigen Projektphase Kostenneutralität des BGSOL-Unterrichts.

Die Architektur des Modells

Die Grundlage des Modells bilden Massnahmen auf den drei Ebenen der Stoffvermittlung, der Betreuung und der räumlichen Infrastruktur.

Stoffvermittlung Die Lernenden erhalten pro Woche (zwei Schultage) in der Regel neun Aufträge, die sie im Rahmen des «Selbstorganisierten Lernens» (SOL) weitgehend selbständig erledigen. Die Lehrperson führt die Lernenden in kurzen Inputs von 20 Minuten in die diese Aufträge ein und steht ihnen danach als Coach zur Verfügung – teilweise zusammen mit einer zweiten Lehrperson. Die Lernenden entscheiden zu rund 70% selber, an welchen Aufträgen sie arbeiten. Alle Lernjobs sind digital in einem Lernmanagement-System zugänglich und erstrecken sich jeweils über vier Wochen.

Jede Woche findet zu Beginn des zweiten Schultages eine Leistungserhebung statt. Diese Prüfungen erfolgen in gleicher Weise wie in den klassisch geführten Klassen, da die Lernenden zuletzt auch das gleiche Qualifikationsverfahren durchlaufen. Zudem erlauben Selbsttests den Lernenden zum Tagesabschluss die eigenständige Überprüfung ihrer Kompetenzen; ebenso finden kurze Reflexionen zum Tagesverlauf und den Lernfortschritt statt.

Betreuung Das Coaching der Lernenden erfolgt durch die Lehrpersonen, die für jeweils zwei bis fünf Lernende zuständig sind. Die Lehrpersonen haben auch Zeit, Unterrichtsvor- und nachbereitungen anzubieten.

Infrastruktur Das Doppelklassenzimmer wurde radikal umgebaut; es entstanden eine Zone mit Theaterbestuhlung für die Inputs und ein «Co-working Space» für das BGSOL mit Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen.

Erfahrungen machen Anpassungen nötig

Seit seinen Anfängen hat das Modell des begleiteten selbstorganisierten Lernens vielfältige Anpassungen erlebt.

Stoffvermittlung Ursprünglich war angedacht, die in die Lernjobs einführenden Blöcke vor und nach dem Mittag gebündelt durchzuführen, um davor und danach lange Phasen des individuellen Lernens zu ermöglichen. Diese Bündelung bewährte sich nicht: Die Phasen zwischen den Inputs waren zu kurz, um in einen selbstorganisierten Arbeitsrhythmus zu kommen. Ebenso fiel es vielen Lernenden schwer, sich gegen Ende des Schultages noch für eine längere Zeit selbstorganisiert zu motivieren. Deshalb wurden die Inputs im Rhythmus von etwa 90 Minuten angesetzt, wodurch die Selbstlernphasen rund 80 Minuten dauern, und der letzte Input wurde je nach Disziplin der Klasse auf das Ende des Schultages gelegt. Dieser 90-Minuten-Abstand bewährt sich, auch wenn der Input zum Abschluss ambivalent ist: Positiv ist der klare Abschluss des Tages, negativ aber, dass danach die Theorie nicht noch eingeübt/verfestigt werden kann.

Zu hoch war auch die Kadenz der Reflexionen – die Besprechung der im Lernjournal gemachten Feststellungen. Sie wurden zu Pflichtübungen ohne echte Auseinandersetzung mit den persönlichen Herausforderungen.

Die Leistungserhebung zu Beginn des zweiten Schultages wird sehr geschätzt und stellt aus Sicht der Lernenden ein starkes Argument für die Wahl des BGSOL-Modells dar. Demgegenüber waren die Selbsttests pro Input schlecht akzeptiert und lerndidaktisch zu wenig durchdacht. Heute finden sie nur noch einmal pro Woche statt, jeweils zum Thema der Probe in der Folgewoche. So haben die Lernenden einen «Übungstest» für jeden Leistungstest, was bei guter Qualität des Selbsttests sehr geschätzt wird.

Zu hoch war auch die Kadenz der Reflexionen – die Besprechung der im Lernjournal gemachten Feststellungen. Sie wurden zu Pflichtübungen ohne echte Auseinandersetzung mit den persönlichen Herausforderungen. Heute findet nur noch eine Reflexion pro Lernjob statt (also alle vier Wochen), welche mit dem Coach im Rahmen des Coachings besprochen wird.

Weil im Verlauf des dritten Semesters die Motivation und die Leistungen der Lernenden besorgniserregend sanken, wurde das «begleitete Lernen» (BGL) eingeführt. Es findet zusätzlich zu den Inputs pro Fach und Woche einmal statt und dauert rund 80 Minuten. In dieser Zeit können anspruchsvollere Theorieteile nochmals erklärt oder zentrale Übungen gemeinsam gelöst werden. Das Gefäss des BGL ist obligatorisch für Lernende, die im entsprechenden Fach als letzte Note eine Ungenügende hatten. Dieses Zusatzgefäss hat das BGSOL-System entscheidend stabilisiert und ist nicht mehr wegzudenken.

Betreuung Die Qualität der Coachings war zu Beginn zu unterschiedlich. Die Lehrpersonen mussten gezielter auf diese Aufgabe vorbereitet werden und darauf sensibilisiert werden, dass die Lernenden auch die Art des Coachings vergleichen. Sie erhielten darum eine minimale Coachingschulung und konkrete Anleitungspapiere. Als nützlich erwies sich auch die Trennung von Coaching und Bewertung/Kontrolle: Die formale Kontrolle (erledigen die Lernenden die Aufträge, Selbsttests und Wochenplanungen?) wurde zentralisiert und ausgelagert.

Infrastruktur Die zwei Inputzonen (Foren) im gleichen Raum bewährten sich nicht. Zudem waren das Mobiliar der Foren zu unbequem und das Platzangebot zu gering. In der Folge wurde zuerst versucht, den Raum mit einem Vorhang zu trennen. Der Nutzen war aber nicht sehr gross und der Raum verlor an Atmosphäre. Ein Forum wurde anschliessend in den abgetrennten Gruppenraum verlegt. Nach und nach wurde auch das Mobiliar ersetzt und die technische Ausrüstung für die Lehrpersonen optimiert. Jetzt ähneln die Foren einem sehr engen, klassischen Klassenzimmer, was von allen Beteiligten als Gewinn empfunden wird.

Zielerreichung des ursprünglichen Projektes

Erhöhung der Selbstständigkeit Die Auswertung von Umfragen bei den Lernenden und den Lehrbetrieben hat klar ergeben, dass Selbstständigkeit und Selbstorganisationsfähigkeit vieler Lernender durch das BGSOL gesteigert werden. Die Lehrbetriebe machten die Erfahrung, dass die Lernenden schneller für eigenverantwortliche Tätigkeiten im Betrieb einsetzbar sind. Lernende, welche im Anschluss die BM2 machen, zeichnen sich im Schnitt auch dort durch höhere Selbstständigkeit und den Willen aus, fachliche Probleme zunächst selbstständig anzugehen.

Dieser Entwicklungsschritt gelingt aber nicht allen. Deshalb ist es wichtig, dass die Möglichkeit besteht, ins klassische Schulmodell zu wechseln. BGSOL ist aber – entgegen der Erwartung – keineswegs nur für schulisch starke Lernende geeignet. Die nötigen Kompetenzen sind von der schulischen Leistung unabhängig und können somit auch unabhängig davon entwickelt werden. Entsprechend sind die Notenschnitte der BGSOL-Klassen unauffällig; sie liegen nur unwesentlich über dem Schnitt aller Klassen.

Die Arbeitsatmosphäre im BGSOL entspricht mehr dem Büroalltag, da weniger frontal unterrichtet wird und die eigenverantwortlich zu nutzenden Zeiten eher dem Arbeitsalltag entsprechen.

Schule näher an die betriebliche Realität bewegen Die Arbeitsatmosphäre im BGSOL entspricht mehr dem Büroalltag, da weniger frontal unterrichtet wird und die eigenverantwortlich zu nutzenden Zeiten eher dem Arbeitsalltag entsprechen. Es ist mehr ein Miteinander, was sich auch darin zeigt, dass die Lehrpersonen und die Lernenden per Du sind. Vergleichbar mit der Arbeit im Betrieb, sind die Lernenden nun auch in der Schule selbst verantwortlich, sich nötige Hilfe zu holen, wenn sie eine Aufgabe nicht allein lösen können.

Kostenneutralität erreicht Während in der Projektphase zusätzliche Lehrerpensen nötig waren, ist das Modell im Regelbetrieb kostenneutral. Eingesetzt wird dabei der jeder Lehrperson zustehende Pensenanteil von 12% im Bereich Schulentwicklung. Zur Kostenneutralität beigetragen hat auch die Zusammenlegung der beiden BGSOL-Klassen während der Inputs.

Was hat die WKS als Schule gelernt?

Veränderungen, die breit abgestützt initiiert werden, sind gut akzeptiert und rasch stabil. Der Austausch mit den Lehrbetrieben gewann zusätzlich an Bedeutung und die WKS konnte ihre Position als agile und praxisnahe Bildungspartnerin stärken. Das Angebot von zwei unterschiedlichen Unterrichtsmodellen stellt einen grossen Gewinn und ein Alleinstellungsmerkmal dar.

Das BGSOL bietet auch den Lehrpersonen die Möglichkeit, zur Unterrichtsentwicklung beizutragen und so die eigene Kreativität gewinnbringend einzubringen. Die Freiwilligkeit für alle Beteiligten war ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg: In der Projektphase konnten sich alle Interessierten einbringen, und auch die Umsetzung erfolgte durch Lehrpersonen und teilweise Lernenden, welche dies aktiv wollten. So war ein Grundwohlwollen dem Projekt gegenüber sichergestellt.

Die Zusammenarbeit der Lehrpersonen und ihre gleichzeitige Präsenz im Unterrichtsraum stellte sich als Herausforderung heraus. Durch die gegenseitige Abhängigkeit erlangte die Verbindlichkeit ein neues Gewicht. Die Führung und Zusammenführung eines interdisziplinären Lehrpersonenteams bedingt Ressourcen und die Bereitschaft aller, sich vom reinen «Fachdenken» zu verabschieden und sich auf ein gemeinsames System einzulassen. Dieser Prozess braucht Zeit und es lohnt sich, unterschiedliche Überzeugungen auszudiskutieren und einen gemeinsamen Nenner zu suchen. In Hinblick auf die aktuelle Reform der kaufmännischen Grundbildung (BIVO 2023) sind dies zentrale Erkenntnisse und zu beachtende Punkte.

Ausblick: Wie geht es weiter?

Die Erkenntnisse des BGSOL fliessen in die flächendeckende Umsetzung der BIVO 2023 an der WKS ein, wobei klar ist, dass weiterhin zwei sich klar unterscheidende Unterrichtsmodelle angeboten werden sollen. Dennoch sollen Erkenntnisse aus dem Projekt auch in den klassischen Unterricht einfliessen. So richtet die WKS eine institutionalisierte Betreuung der Lernenden während längeren Phasen des selbstständigen Lernens ein. Für gewisse Lehrpersonen ist dies eine neue Rolle, welche entsprechend geschult wird. Durch die Stundenplanung soll zudem der Austausch zwischen den Lernenden und den Lehrpersonen von mehreren Klassen ermöglicht werden. So wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert und die Lernenden haben eine grössere Auswahl an Personen, mit welchen sie lernen können.

Im Rahmen BGSOL 2.0 gehen wir im Bereich des selbstständigen Lernens noch einen Schritt weiter und reduzieren schrittweise die Präsenzpflicht der Lernenden – dies in enger Absprache zwischen dem Lehrbetrieb, dem Lehrpersonenteam und den interessierten Lernenden. Das Coaching wird klarer von der Lernbegleitung getrennt und wird freiwillig sein; Ziel ist die Fokussierung der Coachingressourcen auf die Lernenden, welche primär Bedarf und Bereitschaft dazu haben. Teil von BGSOL 2.0 ist zudem, dass sämtliche Proben und Selbsttests digital durchgeführt werden.

Die kurzen Inputzeiten für die Theorievermittlung werden ergänzt oder abgelöst durch Kommunikationstrainingseinheiten, welche in kleineren Gruppen stattfinden und den neuen Lerninhalten im Bereich der Sprachen besser gerecht werden.

Die SOL-Kompetenz wird systematischer aufgebaut, dies im Rahmen der Ritualisierung des Tages: Um das Gefühl des gemeinsamen Starts und Abschlusses des Arbeitstags zu stärken, werden zu den Randzeiten nützliche Methoden und Übungen eingeführt, welche dann im Alltag umgesetzt werden können.

[1] Wirtschafts- und Kaderschule KV Bern.
Zitiervorschlag

Eichenberger, J. (2023). Viel früher selbständig. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(6).

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