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Evaluation des pädagogischen Konzeptes n47e8 des Bildungszentrums Limmattal

Ein neues pädagogisches Konzept im digitalen Lernraum

n47e8 ist ein pädagogisches Konzept des Bildungszentrum Limmattal, welches die Handlungskompetenzorientierung, die Individualisierung und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in digitalen und physischen Lernräumen sinnvoll miteinander verbindet. Es wird anhand eines Learning Management Systems (LMS) umgesetzt, in dem die Lernenden im eigenen Tempo konkrete Lernsituationen im allgemeinbildenden und berufskundlichen Unterricht anhand von «Missions» bearbeiten. Die Missions bestehen aus Instrumenten und Informationen für den Aufbau der Kompetenzen sowie handlungsorientierten, individualisierten Übungsfeldern und Vertiefungsmöglichkeiten, in denen die Kompetenzen in konkreten Situationen angewandt und erste Transferschritte ermöglicht werden. Das Projekt wurde von 2019 bis 2022 von der Fachstelle Evaluation der EHB evaluiert.


Das Bildungszentrum Limmattal investiert durch n47e8[1] in handlungskompetenzorientiertes, lernwirksames und zukunftsfähiges Unterrichtskonzept. Wichtige Ziele sind dabei

  • die Förderung der Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit der Lernenden,
  • das Ermöglichen von situiertem, individualisiertem und ganzheitlichem Lernen mithilfe pädagogisch sinnvoller digitaler Hilfsmittel,
  • die Förderung der Aneignung von 21. Century Skills.

Zum Beispiel erhalten die Lernenden in der Mission Budget, einem Thema der Allgemeinbildung, die Aufgabe, für einen Sprachaufenthalt nach der Lehre zu budgetieren. Zudem sollen sie ihre Eltern davon überzeugen, dass der Aufenthalt eine gute Idee ist.

Die Digitalisierung spielte bei der Einführung von n47e8 eine wichtige Rolle, sie sollte jedoch von Anfang an pädagogischen Überlegungen folgen. Aus der Perspektive der Lernenden und Lehrpersonen ist die digitale Lernumgebung bestehend aus Learning Management Systems (LMS) und Anwendungen von Microsoft Office ein Baustein von mehreren. Sie funktioniert im Zusammenspiel mit den anderen Bausteinen als Teil des pädagogischen Gesamtkonzepts bestehend aus Missions, Workshops, einem angepassten Prüfungs- und Bewertungskonzept, dem Coaching durch die Lehrperson sowie dem 360-Grad-Lernraum.

Die Missions sind im LMS abgebildete digitale Lernpfade, deren Ausgangspunkt Lernsituationen aus der Lebens- und Berufswelt sind, die die Lernenden bewältigen müssen. Ihr Ziel ist der Aufbau von Handlungskompetenzen. Zum Beispiel erhalten die Lernenden in der Mission Budget, einem Thema der Allgemeinbildung, die Aufgabe, für einen Sprachaufenthalt nach der Lehre zu budgetieren. Zudem sollen sie ihre Eltern davon überzeugen, dass der Aufenthalt eine gute Idee ist. Die Lernenden bauen also im Verlauf der Mission, ausgehend von der konkreten Situation, Kompetenzen im Budgetieren und Argumentieren auf.

Die Workshops werden von den Lehrpersonen vorbereitet und durchgeführt. Dabei lernen die Lernenden beispielsweise, wie sie ein aussagekräftiges Lernvideo zu einem Unterrichtsthema erstellen können. Die Workshops ermöglichen es, in den Missions erworbene Kenntnisse zu vernetzen, anzuwenden und zu vertiefen. Je nach Inhalt und Vorgaben der Lehrperson können die Lernenden selbst bestimmen, ob sie den Workshop besuchen oder nicht. Das Schaffen von Raum für Diskussionen und Austausch in den Workshops oder den Missions ermöglicht den Lernenden einen Perspektivenwechsel und das Lernen voneinander.

Das neue Unterrichtskonzept verlangt darauf abgestimmte Formen des Prüfens und Bewertens. In sogenannten Kompetenznachweisen zeigen die Lernenden, ob sie die Lernsituationen bewältigen können. Die Formen der Kompetenznachweise sind so vielfältig wie die Lernsituationen. So produzieren die Lernenden Lernvideos, Präsentationen oder organisieren, führen und verarbeiten Interviews. Die Handlungskompetenzorientierung gilt auch dabei als Leitlinie.

Das Coaching durch die Lehrperson ermöglicht in Ergänzung zu den Workshops eine individuelle Unterstützung während der selbstständigen Bearbeitung der Missions sowie der Erstellung von Kompetenznachweisen oder der Prüfungsvorbereitung. Beim Coaching stehen Fragen rund um das Lernen, die Selbstorganisation, Terminplanung und vieles mehr im Fokus.

Das Lernen findet somit nicht nur im Klassenzimmer, sondern je nach Vorlieben der Lernenden im Gang oder in eigens dafür eingerichteten Lernräumen statt. Ziel ist auch hier die Förderung des individualisierten Lernens und selbstverantwortlichen Arbeitens.

Die digitalen Lernpfade werden durch einen 360-Grad-Lernraum ergänzt. Das Lernen findet somit nicht nur im Klassenzimmer, sondern je nach Vorlieben der Lernenden im Gang oder in eigens dafür eingerichteten Lernräumen statt. Ziel ist auch hier die Förderung des individualisierten Lernens und selbstverantwortlichen Arbeitens mithilfe der digitalen Lernumgebung. Beispielsweise werden die Lernenden in den Missions dazu aufgefordert, ein Rätsel zu lösen, und als Lösung dazu im Schulhaus ein Bild zu suchen. Dort treffen sie vielleicht auf neue Personen, mit denen sie die Aufgabe bewältigen können.

Wirkungen von n47e8

n47e8 wurde 2017 konzipiert und 2018 erstmals mit Lernenden der Logistik EFZ in Pilotklassen eingesetzt. Seit 2022 arbeiten bis auf wenige Ausnahmen alle Klassen sämtlicher Fachbereiche (Logistik, Recycling, Strassentransport) mit n47e8. Die Ausnahmen sind auf das «Projekt Kompetenzzentren» des Kantons Zürich zurückzuführen, bei dem Klassen aus den Fachbereichen Recycling und Strassentransport mitten in der Lehre von anderen Berufsfachschulen ans Bildungszentrum Limmattal wechselten, während Klassen des Maschinenbaus das Bildungszentrum Limmattal verlassen haben.

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich bei den Lernenden der beiden Ausbildungsmodellen?

Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch die Fachstelle Evaluation der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB begann im Sommer 2019. Zu diesem Zeitpunkt starteten 75% der EBA-Klassen Logistik (3 von 4 Klassen) und zwei Drittel der EFZ-Klassen Logistik (9 von 14 Klassen) mit dem neuen Konzept, während die restlichen Klassen nach altem Konzept unterrichtet wurden. So konnten Lernende beider Ausbildungsmodelle über die Lehrzeit begleitet werden. Die Lernenden wurden zu Beginn der Lehre (Beginn 1. Semester), zu Beginn des 2. Lehrjahres, zu Beginn des 3. Lehrjahres (nur die EFZ-Klassen) und am Ende der Lehre per Online-Fragebogen unter anderem zu Persönlichkeitseigenschaften, Kompetenzen und Lern- und Leistungsmotivation befragt. Im Frühling 2020 wurde – im Rahmen der Covid-Situation – eine zusätzliche Online-Befragung über die Qualität des Fernunterrichts durchgeführt. Nebst der Sichtweise der Lernenden wurde auch die Perspektive der Lehrpersonen sowie der Berufsbildenden einbezogen.

Es zeigt sich, dass sich die Lernenden generell als kompetent bzgl. der verschiedenen Bereiche einschätzen. Bei einigen Kompetenzen (z.B. Zielorientierung, Methodenkompetenz) zeigt sich jedoch, dass sich die Lernenden am Ende der Lehre etwas tiefer einschätzen als zu Beginn der Lehre (unabhängig davon, ob sie in einer LMS oder nicht-LMS Klasse teilnehmen). Diese tiefere Einschätzung ist möglicherweise auf eine realistischere und kritischere Selbsteinschätzung im Verlauf der Lehre zurückzuführen, insbesondere in Kenntnis der dann gemachten Erfahrungen – die Einschätzungen bei den späteren Zeitpunkten könnten also auf Basis eines anderen Vergleichsmassstabs erfolgen als zu Beginn der Lehre. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass zum Ende der Lehre alle Lernenden angeben, dass sie an Kompetenzen und Motivation gewonnen haben (bei den EBA-Lernenden ist der selbst eingeschätzte Zuwachs bei jenen aus LMS-Klassen höher als bei den anderen). Einzig die Selbstständigkeit sticht bei den Kompetenzen klar heraus: Die EBA-Lernenden der LMS-Klassen schätzen ihren Kompetenzzuwachs bei der Selbstständigkeit höher ein als die EBA-Lernenden der Nicht-LMS-Klasse. Und bei den EFZ-Lernenden zeigt sich, dass die Selbsteinschätzung der Selbstständigkeit bei den Lernenden der LMS Klassen im letzten Lehrjahr ansteigt, während sie bei den Lernenden der nicht-LMS Klassen über die Zeit sinkt.

Die Beziehungskultur (z.B. Klassenklima, Burn-out, Mobbing) wird von den Lernenden generell positiv eingeschätzt und es gibt nur wenige Unterschiede zwischen LMS und Nicht-LMS Klassen, diese sind aber zugunsten der LMS-Klassen: Die EFZ-Lernenden der LMS-Klassen schätzen ihr Klassenklima besser ein als die EFZ-Lernenden der Nicht-LMS-Klassen und EBA-Lernende der Nicht-LMS-Klasse berichten steigende Burn-out Gefühle während diese bei den EBA-Lernenden der LMS Klassen stabil bleiben.

Ein spannender Befund zeigt sich bei der Einschätzung der eigenen Leistung: Lernende der LMS-Klassen geben eher an, dass ihre Noten ihren Erwartungen entsprechen als Lernende der Nicht-LMS-Klassen, welche ihre Leistungen eher überschätzen. Dies weist darauf hin, dass das LMS den Lernenden ein besseres Feedback über ihre Leistungen gibt, so dass ihre Einschätzung bzgl. Noten realistischer ist.

Wie sehen die Lernenden das LMS?

Die EFZ-Lernenden der LMS-Klassen (die EBA-Lernenden haben diesen Aspekt nicht bewertet) nehmen eine höhere Steuerung des eigenen Lernens sowie der Lernumgebung (z.B. Auswahl der Materialien, des Tempos) wahr als die Lernenden der Nicht-LMS-Klassen.

Die EFZ-Lernenden der LMS-Klassen (die EBA-Lernenden haben diesen Aspekt nicht bewertet) nehmen eine höhere Steuerung des eigenen Lernens sowie der Lernumgebung (z.B. Auswahl der Materialien, des Tempos) wahr als die Lernenden der Nicht-LMS-Klassen. Dies zeigt, dass der individuelle Aspekt des LMS wahrgenommen und genutzt wird. Dieser individualisierte Aspekt erklärt eventuell auch die bessere Bewertung der Schule, welche durch die Lernenden der LMS-Klassen gegenüber den anderen Lernenden vorgenommen wird. Aspekte des n47e8, welche am meisten geschätzt werden sind das selbstständige Lernen, die Missions, das LMS, die Workshops und die Kompetenznachweise. Wenige Lernende, welche in LMS-Klassen sind, würden lieber im «klassischen Schulsystem» lernen, während die meisten Veränderungswünsche technische Details betreffen. Interessant ist, dass die Lernenden der LMS-Klassen das Konzept zu Beginn klar positiv oder klar negativ einschätzen, während die Einschätzungen am Ende der Lehrzeit differenzierter sind. So finden viele das Konzept gut, jedoch nicht für alle Lernenden geeignet, da es viel Disziplin und Selbstständigkeit erfordere. Andere finden das Konzept gut, aber die Umsetzung mit dem aktuellen LMS ungünstig.

Erfahrungen der Lehrpersonen und Berufsbildenden

Die grosse Mehrheit der Lehrpersonen ist mit dem Konzept n47e8 zufrieden und schätzt es als sinnvoll für die Lernenden ein. Persönlichen Entwicklungsbedarf sehen sie am ehesten bei der veränderten Rolle als Lehrperson (Coachingkompetenzen und Lernprozessgestaltung), während bei der Digitalisierung und der pädagogischen Neuausrichtung wenig Bedarf geäussert wird. Die Umsetzung der Handlungskompetenzorientierung wird positiv von den Lehrpersonen bewertet, wobei etwas Handlungsbedarf bei der Gestaltung der Kompetenznachweise geortet wird. Beim LMS sehen sie Weiterentwicklungsbedarf bei der Benutzerfreundlichkeit, der Übersichtlichkeit, sowie der Sichtbarkeit des Lernprozesses. Die Lehrpersonen geben an, dass die Belastung im Vergleich zum ursprünglichen System ähnlich ist. Am meisten Belastung äussern sie bei der Erstellung neuer Missions (wobei dies über die Zeit abnehmen wird) und beim Prüfen und Bewerten von Kompetenznachweisen und Semestertests.

Die Berufsbildenden kennen das Konzept n47e8 eher wenig. Der innovative Charakter, die Selbstständigkeit, sowie das individualisierte Lernen werden positiv hervorgehoben, wobei die Berufsbildenden selbst gerne mehr Einblick hätten (z.B. in das LMS und die Kompetenznachweise). Auch wird die Befürchtung geäussert, dass schwächere Lernende «untergehen», da sie das selbstständige Arbeiten eventuell eher überfordert. Die betrieblichen Berufsbildenden selbst sehen keine Unterschiede zwischen den Lernenden aus LMS und nicht-LMS Klassen und auch der Zeitaufwand wird ähnlich eingeschätzt.

Wie haben die Lernenden die Umstellung auf den Fernunterricht erlebt?

Im Rahmen der Covid-Situation im Frühling 2020 wurde eine zusätzliche Online-Befragung bei allen Lernenden durchgeführt, um zu untersuchen, wie sie die Umstellung auf den Fernunterricht erlebt haben. Während bei den EBA-Lernenden nur wenige Unterschiede zwischen den LMS und nicht-LMS Klassen festgestellt werden konnten, zeigten sich bei den EFZ-Lernenden viele Unterschiede: Die Lernenden der LMS-Klassen konnten wesentlicher leichter mit der Umstellung umgehen und bewerteten auch ihren Lehrpersonen besser als die anderen Lernenden. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Lernenden das selbstständige Arbeiten bereits stärker gewohnt waren und der Fernunterricht sowohl für sie wie auch für ihre Lehrpersonen eine weniger grosse Umstellung war als für Lernende und Lehrpersonen der nicht-LMS Klassen. Zudem gaben die Lernenden der LMS Klassen einen besseren Umgang mit digitalen Tools für sich selbst und ihre Lehrpersonen an als die Lernenden der nicht-LMS Klassen, was sicher damit zu tun hat, dass beim LMS die Nutzung von digitalen Tools bereits eingespielter war als bei den anderen Klassen. Schlussendlich waren die Lernenden der LMS Klassen im Online-Unterricht motivierter als im Präsenzunterricht und gaben entsprechend an weniger Probleme zu haben, die Lernziele zu erreichen als die anderen Lernenden der nicht-LMS Klassen.

Wie geht es mit dem Modell weiter?

n47e8 wird von der Mehrheit der Lehrpersonen und Lernenden des Bildungszentrums Limmattal als sinnvoll empfunden. Deshalb soll das Konzept beibehalten, weiterentwickelt und verbessert werden, auf inhaltlicher sowie auf technischer Ebene.

n47e8 wird von der Mehrheit der Lehrpersonen und Lernenden des Bildungszentrums Limmattal als sinnvoll empfunden. Deshalb soll das Konzept beibehalten, weiterentwickelt und verbessert werden, auf inhaltlicher sowie auf technischer Ebene. Auf inhaltlicher Ebene wurde und wird der Aufbau und Inhalt der Missions in mehreren Entwicklungsschritten optimiert. Auf technischer Ebene werden neue Umsetzungsmöglichkeiten geprüft, um den Bedürfnissen der Lernenden und Lehrpersonen in Bezug auf Benutzerfreundlichkeit, Übersichtlichkeit und Sichtbarkeit des Lernprozesses gerecht zu werden.

Die Einführung und stetige Weiterentwicklung von n47e8 erfordert einen grossen Ressourceneinsatz, nicht zuletzt von den Lehrpersonen, die die Missions erstellen, weiterentwickeln und im Unterricht einsetzen. Tausende Stunden Arbeit haben die Lehrpersonen ins Projekt investiert. Für grössere Entwicklungsprojekte wird das Bildungszentrum Limmattal finanziell vom Digital Learning Hub des Kantons Zürich unterstützt, wodurch die Lehrpersonen für ihre Arbeit am Projekt finanziell zusätzlich entlastet werden. Regelmässige, kleinere Aktualisierungen und Verbesserungen der Missions sind Aufgabe der jeweiligen Missionsverantwortlichen. Dies ist Teil der Unterrichtsvorbereitung und gehört somit zu den Aufgaben einer Lehrperson.

Als aktuelles Beispiel für ein grösseres Entwicklungsprojekt kann die Überarbeitung der Missions-Pfadpunkte für den Lernbereich Sprache und Kommunikation im allgemeinbildenden Unterricht genannt werden. Diese Investitionen in einen handlungskompetenzorientierten, lernwirksamen und zukunftsfähigen Unterricht lohnen sich aus Sicht des Bildungszentrum Limmattal gewiss.

EHB-Projektseite

[1] n47e8 sind die Koordinaten der Stadt Dietikon. Hier ist das Bildungszentrum Limmattal zuhause.
Zitiervorschlag

Hug, C., Hess, S., Balzer, L., & Eicher, V. (2023). Ein neues pädagogisches Konzept im digitalen Lernraum. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(4).

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