Doppelinterview mit Barbara Schmocker, WorkMed
Viele Jugendliche sind belastet, aber die meisten fühlen sich in der Lehre trotzdem wohl
Ende 2024 sind rund 45’000 Lernende in der Schweiz gefragt worden, wie es ihnen in der Lehre geht, wie sie Herausforderungen und Belastungen bewältigen und was ihnen hilft, sich positiv zu entwickeln. Ergebnis: 80% bis 90% sagen, dass es ihnen in der Lehre eher bis sehr gut geht, dass sie die Lehre spannend finden und stolz darauf sind, im Lehrbetrieb zu arbeiten. Gleichzeitig erleben 61% Prozent der Lernenden in der Lehre «psychische Probleme» im weitesten Sinn, bei rund 25% bis 30% der Lernenden ist von Problemen auszugehen, die aktiver angegangen werden sollten. Ein Interview in zwei Teilen mit der Erstautorin der Studie, Barbara Schmocker, das zuerst in Alpha (Tages-Anzeiger) erschienen ist.

Barbara Schmocker ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und fachliche Leiterin Bereich Ausbildung bei WorkMed. Sie ist Erstautorin im Forschungsprojekt «Psychische Gesundheit von Lernenden in der Berufslehre».
Lehre: Viele sind belastet und trotzdem positiv unterwegs
Viele Jugendliche sind psychisch belastet. Gleichzeitig geht es den meisten in der Lehre gut oder sogar sehr gut. Das zeigt eine Studie von WorkMed. Krisen gehören zur Adoleszenz. Und doch gibt es eine Anzahl von stärker belasteten Lernenden, die mehr Aufmerksamkeit brauchen. Teil 1 des Interviews mit Barbara Schmocker.
Barbara Schmocker, WorkMed hat rund 45’000 Lehrlinge befragt und festgestellt, dass eine grosse Mehrheit ihre Situation positiv erlebt. Können Sie das ausführen?
Vier von fünf Lernenden sagen, dass es ihnen in der Lehre gut oder sogar sehr gut geht. 85% finden die Ausbildung (sehr) spannend, 90% sagen, dass sie etwas Sinnvolles tun. Zudem erleben 80% bis 90% der Lernenden, dass die Berufsbildenden sie ernst nehmen, klare Erwartungen äussern, sich Zeit für sie nehmen, vertrauenswürdig sind und sich für sie engagieren. Etwas seltener (jeweils rund 75%) erleben sie, dass sich die Vorgesetzten für sie interessieren und sie unterstützen, wenn es ihnen nicht gut geht.
Und doch berichten 61% der Lernenden auch von psychischen Problemen während der Lehre. Was sind das für Probleme?
Eine vertiefte Analyse zeigt, dass 20% bis 30% der Lernenden mittlere bis schwere psychische Probleme haben – Symptome von Angst-, Zwangs- oder Essstörungen, ADHS, Panik, Depression.
Wir fragten recht offen nach negativen Gefühlen oder Gedanken, Belastungen und psychischen Krankheiten oder Krisen. Das erklärt die hohe Zahl, die zwischen Männern und Frauen übrigens markant differiert. Eine vertiefte Analyse zeigt, dass 20% bis 30% der Lernenden mittlere bis schwere psychische Probleme haben – Symptome von Angst-, Zwangs- oder Essstörungen, ADHS, Panik, Depression. Sie haben dann deutlich häufigere und längere Krankheitsabsenzen.
Psychisch belastet, aber zufrieden – wie geht das zusammen?
Man kann gleichzeitig psychische Probleme haben und sich positiv entwickeln – das zeigt unsere Studie eindrücklich. Auch belastete Lernende erleben, dass sie berufliche Fortschritte machen. Ebenso sagt die psychische Vorgeschichte der Jugendlichen kaum etwas darüber aus, welche Leistungen sie dann in der Lehre erbringen. Umgekehrt haben rund 16% der Jugendlichen keine psychischen Probleme – und machen trotzdem nur wenige Fortschritte.
20% bis 30% mit mittleren bis schweren psychischen Problemen – das klingt nach einer beschädigten Generation.
Dieses Bild ist falsch. Psychische Belastungen gehören zu dieser Lebensphase – und zum Leben selber. Ich will die Zahlen nicht bagatellisieren, aber man sollte sie auch nicht dramatisieren. Die Adoleszenz ist eine herausfordernde Zeit; zudem ist der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt mit vielen Unsicherheiten verbunden. Und ob die Werte früher besser waren, wissen wir auch nicht. Die Zahl der Behandlungen von Jugendlichen ist zwar gestiegen. Aber psychisch kranke Menschen suchen heute eher Hilfe. Das ist gut so.
Kriege, Klimawandel oder Autoritarismus hinterlassen doch sicher Spuren.
Wir haben danach gefragt. 64% der Lernenden fühlen sich durch die aktuelle Weltsituation nicht belastet, weitere 29% fühlen sich zwar belastet, aber ohne Auswirkung auf die Lehre.
Trotzdem: 30% sagen in Ihrer Studie, dass sie in den letzten zwei Wochen daran gedacht haben, dass sie lieber tot wären oder sich Leid zufügen möchten. Das ist doch beunruhigend.
12% haben mindestens jeden zweiten Tag solche Gedanken. Das ist beunruhigend, ja. Hier wäre es wichtig, dass ein Austausch stattfinden kann; zu oft ist das nicht der Fall. Bei den weiteren 18%, die an einzelnen Tagen an den Tod denken, bin ich etwas gelassener. Viele erleben die Adoleszenz als ein Wechselbad der Gefühle. So sagen 54%, dass sie meistens bis immer glücklich sind, 33% manchmal – und das, obwohl 61% psychische Belastungen erleben.
Ist die Lehre der Grund für die Probleme?
Rund 60% berichten, dass ihre Probleme durch die Situation im Lehrbetrieb ausgelöst oder verstärkt werden, 53% nennen die Berufsfachschule. Sie sind denn auch ein wichtiger Auslöser von Lehrabbrüchen.
Psychische Probleme können mehrere Gründe und Auslöser haben. 57% der betroffenen Jugendlichen waren bereits vor Ausbildungsbeginn belastet. Für ihre aktuelle Belastung nennen 80% private Auslöser oder Verstärker. Und rund 60% berichten, dass ihre Probleme durch die Situation im Lehrbetrieb ausgelöst oder verstärkt werden, 53% nennen die Berufsfachschule. Sie sind denn auch ein wichtiger Auslöser von Lehrabbrüchen.
Können Sie das ausführen?
9% der Befragten haben einen Lehrabbruch hinter sich und rund 50% haben seit Lehrbeginn mindestens einmal an Abbruch gedacht. Die drei Hauptgründe sind: Der Beruf hat ihnen nicht gefallen (27%), psychische Probleme belasteten sie (21%) und im Betrieb gab es Probleme (19%). Hier stehen Dinge wie Arbeitsklima, persönlicher Umgang und Wertschätzung im Vordergrund, seltener die Arbeitsbedingungen.
Die Berufswahl als Hauptgrund für Lehrabbrüche: Dann ist sie wichtig für einen guten Lehrverlauf?
Ja. Wer nicht im Wunschberuf ist, freut sich weniger auf die Lehre. Diese Personen machen sich im Vorfeld auch mehr Sorgen und entwickeln sich weniger stark. Die Identifikation mit dem Beruf ist ein wichtiger Schutzfaktor. Deshalb ist es gut, wenn Lehrbetriebe betroffene Jugendliche ansprechen und zeigen, dass auch die zweite Wahl interessant ist und Perspektiven bietet. Umgekehrt gilt: Es bringt nichts, eine Lehre auf Biegen und Brechen durchzuziehen. Wir sehen in unseren Daten, dass die Lernenden, die ihre Lehre abgebrochen haben, weil ihnen der Beruf nicht gefallen hat, jetzt am wenigsten über Lehrabbruch nachdenken. Psychische Belastungen halten sich demgegenüber hartnäckiger.
Gibt es Betriebsmerkmale, die bessere oder schlechtere Werte erreichen?
Je kleiner ein Unternehmen, desto häufiger erleben Jugendliche mehr Kritik und weniger Lob, und sie denken etwas häufiger darüber nach, die Lehre abzubrechen. Ebenso haben kleinere Betriebe eher die Erwartung, dass die Lernenden gewissen fachliche Kompetenzen schon mitbringen. Unterschiede sehen wir auch beim Thema Lehrstart: In grossen Betrieben gibt es häufiger strukturierte Einführungsprogramme; sie geben Sicherheit. Die Lernenden in den Fokusgruppen zu unserer Studie bestätigen das. Sie sagen, dass es entscheidend ist, dass sie sich abgeholt fühlen, auch später, während der ganzen Lehre. Dass nach ihrem Befinden gefragt wird, dass Erwartungen deutlich gemacht werden, dass Kritik und Lob wertschätzend sind. In diese Dinge kann man nicht genug investieren.
«Eine Lehre ist eine Riesenchance»
Trotz psychischen Belastungen geht es vier von fünf Jugendlichen in der Lehre eher gut bis sehr gut. Dies zeigt eine Studie, über die wir schon vor einer Woche berichteten. Trotzdem würden 33 Prozent der Lernenden ihren Lehrbetrieb nur bedingt weiterempfehlen, 11 Prozent gar nicht. Was ist da los? Teil 2 des Interviews mit Barbara Schmocker.
Barbara Schmocker, sie sagten in unserem ersten Gespräch vor einer Woche, dass 61% der Lehrlinge psychische Probleme haben. Was hat das mit der Lehre zu tun?
Die psychischen Belastungen von Lernenden haben meist mehrere Gründe und Auslöser. Viele waren bereits vor Ausbildungsstart belastet, viele erleben private Probleme, aber viele eben auch durch die Lehre selber. Rund 60% sagen, dass ihre Probleme im Lehrbetrieb ausgelöst oder verstärkt werden, 53% nennen die Berufsfachschule. Und 50% sagen, dass sie das in der Lehre eingeschränkt habe. Viele dieser Probleme gehören Adoleszenz. Aber rund 20% bis 30% der Jugendlichen zeigen mittlere bis schwere psychische Probleme. Hier sollte man näher hinschauen.
Wie denn?
Indem die Verantwortlichen in Schule und Betrieb eine echte Beziehung zu den Jugendlichen eingehen und sie zum Beispiel nach den Gründen von Verhaltensveränderungen fragen. Leider erlebt ein Viertel der Lernenden wenig bis kein Interesse daran, wie es ihnen geht. Und selber macht auch nur etwa ein Drittel der Betroffenen im Lehrbetrieb oder in der Schule deutlich, wenn es ihnen nicht gut geht. Folge: Bei 78% der belasteten Jugendlichen wurde weder ein im Lehrbetrieb noch in der Berufsfachschule über die Belastungen gesprochen. Auch ihre Lehrabbruchgedanken teilten nur 15% der Lernenden mit. Das ist bedenklich und weist auf Stigma und Tabuisierung hin. Dann, und damit zurück zu Ihrer Frage, brauchen die Lernenden auch Gelegenheiten, Interessen zu entwickeln. Sie wollen Sinnhaftigkeit erleben, stolz sein auf ihren Beruf. Wichtig sind schliesslich die Eltern. Sie sollten an ihren Kindern dranbleiben.
Gibt es Beratungsstellen für Lernende?
In den letzten Jahren sind an Schulen viele niederschwellige Angebote für Lernende entstanden. Aber sie sind wohl für viele zu nah an der Ausbildung: Nur rund 2% der Lernenden mit psychischen Problemen nutzen sie.
In den letzten Jahren sind an Schulen viele niederschwellige Angebote für Lernende entstanden. Aber sie sind wohl für viele zu nah an der Ausbildung: Nur rund 2% der Lernenden mit psychischen Problemen nutzen sie. Stattdessen suchen sie vor allem bei Freunden (55%) und Eltern (44%) Unterstützung. Oder sie holen ärztlich-psychologische Hilfe (27%). Diese Behandlungen wirken sich zwar in der Hälfte der Fälle positiv auf das Befinden aus, aber deutlich seltener aber auf die Probleme in der Lehre. Dies weist auf ein zu enges Behandlungsverständnis hin.
33% der Lernenden würden ihren Lehrbetrieb nur bedingt weiterempfehlen, 11% gar nicht. Warum?
Neben den zu hohen Leistungsanforderungen (30%) spielt auch hier der zwischenmenschliche Umgang eine wichtige Rolle. Die Jugendlichen konnten das in Freitexten beschreiben, die Antworten haben wir gruppiert. Sie nannten aggressive oder unfaire Mitarbeitende (16%), viel Kritik/wenig Lob/fehlende Wertschätzung (16%), schlechte Anleitung (14%), impulsiver/launischer Chef (12%), ausgenutzt werden (11%). Umgekehrt würden 56% der Lernenden ihren Lehrbetrieb ohne Einschränkungen weiterempfehlen. Meistgenannte Gründe sind: Unterstützendes Team (48%), angenehme Arbeitsatmosphäre (25%), qualitativ guter Ausbildungsort (17%), abwechslungsreiche Aufgaben (13%).
Wie wichtig wären mehr Ferien?
Das haben wir nicht gefragt. Wir wissen nur, dass sich die Jugendlichen im Vorfeld der Lehre auch über gewisse Dinge Sorgen machen. Am häufigsten nennen sie mögliche Überforderung bei schulischen Aufgaben, lange Arbeitszeiten und weniger Ferien (alle 63%).
Rund 85% der Lernenden finden es eher bis sehr spannend in der Lehre. Trotzdem hat rund die Hälfte schon mindestens einmal überlegt, die Lehre abzubrechen. Wie passt das zusammen?
Jugendliche in der Lehre erleben beides: Dass sie toll sein kann und belastend. Aber auch hier gibt es Spitzen, mit denen man sich beschäftigen sollte: 25 Prozent denken häufiger als einmal über Lehrabbruch nach.
Und brechen dann doch nicht ab. Warum?
Die Jugend belastbarer ist als viele sagen. Auf die Frage, warum sie nicht abgebrochen haben, sagen 80%: Weil ich nicht aufgeben will.
Weil die Jugend belastbarer ist als viele sagen. Auf die Frage, warum sie nicht abgebrochen haben, sagen 80%: Weil ich nicht aufgeben will. Wir fragten auch: Hast du das Gefühl, dass du mit den Herausforderungen umgehen kannst? 90% bejahen das. Ebenso zeigen drei Viertel der Lernenden eine mittlere bis hohe Selbstwirksamkeit, also die Erwartung, Herausforderungen gut lösen zu können. Das alles sind sehr positive Feststellungen.
Dann machen die Lernenden in der Lehre viele Fortschritte?
Die Hinweise darauf sind eindrücklich. Wir fragten: Was hat sich seit Lehrbeginn verändert, und haben 15 Antworten angeboten. Am wenigsten deutlich – aber immer noch beeindruckend – ist der Fortschritt im Item «bin ich motivierter, am Morgen aufzustehen», das 47% bejahen. In zwölf der 15 Bereiche erleben mehr als Dreiviertel der Lernenden eine positive Entwicklung. 91% sagen, sie sind verantwortungsbewusster, 89% merken, dass sie mehr können, 87% sind stolz, den Beruf zu erlernen, 84% bleiben bei der Aufgabe, bis sie erledigt ist, je 82% sagen, dass sie sich immer mehr zutrauen, eigene Fehler besser zugeben und sich mehr für Neues zu interessieren.
Sie haben selber eine Lehre absolviert. Sind Sie überrascht über das Bild der Lehre, wie die Lernenden es zeichnen?
Ich habe meine Lehre als Ort erlebt, wo ich mich entwickeln konnte. Die Studie zeigt: Sie ist es für eine grosse Mehrheit Jugendlichen auch. Eine Lehre ist eine Riesenchance. Hier erlernen die jungen Leute die fachlichen Kompetenzen eines Berufs. Und gleichzeitig üben sie, mit Herausforderungen – dem Nebeneinander von drei Lernorten etwa – umzugehen. Die Bildungsverantwortlichen sollten sorgfältig mit dieser Chance umgehen und sich noch mehr als Vorbilder zeigen. Positiv überrascht bin ich zudem darüber, wie resilient die jungen Leute sind. Generation Schneeflöckli? Das ist lächerlich! Aber die Jugendlichen haben einen Anspruch, wahr- und ernstgenommen zu werden. Viele von ihnen haben in den Kommentaren dafür gedankt, dass sie befragt worden sind. Sie wollen an ihren Ressourcen gemessen werden, nicht an ihren Defiziten.
Die Studie ist hier zugänglich.
Das vorliegende Interview erschien ursprünglich in zwei Teilen in Alpha, Tages-Anzeiger.
Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis wird nach den Sommerferien die Ergebnisse der Studie in vier langen Beiträgen vertiefen.
Zitiervorschlag
Fleischmann, D. (2025). Viele Jugendliche sind belastet, aber die meisten fühlen sich in der Lehre trotzdem wohl. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 10(9).