Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Interview zur Tagung der SGAB und PH Zürich: Automatisierung, KI und Learning Analytics in der Berufsbildung – Chancen und Risiken

«ChatGPT ist ein tolles Erklärinstrument»

Welche Chancen und Risiken sind mit der Automatisierung, KI und Learning Analytics verbunden? Diese Frage bewegt die Pädagogik zurzeit stark, nicht zuletzt durch die Veröffentlichung von ChatGPT und ähnlichen Instrumenten zur Generierung von Texten. Eine Tagung der SGAB und der PH Zürich widmete sich dem Thema. Im Interview mit Transfer diskutieren die Tagungsverantwortlichen Dominic Hassler und Martin Berger (beide PH Zürich).


 

Dr. Martin Berger ist Dozent in der Ausbildung von Berufsfachschullehrpersonen und Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung

Dominic Hassler ist Dozent am Zentrum Berufs- und Erwachsenenbildung und Studiengangleitung CAS «Unterricht gestalten mit digitalen Medien» an der pädagogischen Hochschule Zürich.

Martin Berger, Dominic Hassler, die Tagung zu Chancen und Risiken von Automatisierung, KI und Learning Analytics in der Berufsbildung hat ein enormes Interesse ausgelöst. Warum?

Martin Berger: Mit den Themen Automatisierung, Learning Analytics und KI beschäftigte sich in der Vergangenheit ein eher kleiner Personenkreis. Wir hatten 50 Tagungsteilnehmende erwartet. Gekommen sind 220. Vor einem Jahr diskutierten wir noch darüber, ob wir das Kürzel KI in unserer Ausschreibung verwenden sollen, weil es zu wenige verstehen könnten. Heute ist KI in aller Munde und Funktionen wie Chat GPT werden von vielen Lernenden und Lehrenden gleichermassen genutzt. Wir alle ahnen erst, welches Potenzial das hat. Auf die Lancierung von ChatGPT und anderer KI-Tools haben wir bei der Planung der Tagung reagiert und zusätzlich noch Manuela Hürlimann vom Centre of Artificial Intelligence der ZHAW und Lukas Löffel von der Uni Zürich eingeladen, die in ihren Workshops explizit auf das Thema ChatGPT eingegangen sind.

Wir sind alle am Kämpfen und Erarbeiten von Lösungsansätzen.

Dominic Hassler: Das Thema KI hat die Berufsbildung schon vor ChatGPT beschäftigt, aber diese Anwendung hat geradezu disruptive Folgen. Das Instrument fordert insbesondere Schulen heraus, denn viele etablierte Prüfungsformate funktionieren vom einen Tag auf den anderen nicht mehr und alle Schreibaktivitäten können nun sehr leicht abgekürzt werden. Das hat unter dem Zeit- und Leistungsdruck natürlich eine gewisse Verlockung, schadet aber der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand. Das betrifft nicht nur sprachliche Fächer, denn geschrieben wird in allen Fächern. Das Thema lässt uns keine Zeit; zugleich weiss niemand abschliessend, wie das Instrument bei Schlussprüfungen oder schriftlichen Arbeiten eingesetzt werden darf. Wir sind alle am Kämpfen und Erarbeiten von Lösungsansätzen.

Sie haben die Tagung verfolgt. Was hat Sie besonders überzeugt, was ist Ihnen aufgefallen?

Dominic Hassler: Mit der Nutzung von Lernmanagement-Systemen sammeln die Schulen und Lehrpersonen unglaublich viele und vielfältige Daten, die sich sehr einfach auswerten lassen. Mich hat überzeugt, wie Pierre Dillenbourg diese Potenziale erläuterte. Er hat Learning Analytics gezeigt, die clever visualisiert sind, sodass ich sie als Lehrperson auf einen Blick erfassen. Zum Beispiel mein Bewegungsprofil in einer Klasse. Was ist los, wenn – wie im Beispiel des Referenten – die fünf Lernenden in der hintersten Reihe deutlich seltener aufgesucht werden? Das macht die zentrale Frage an die Instrumente der KI deutlich: Wie können wir sie für das Unterrichten und fürs Lernen fruchtbar machen?

Üblicherweise sucht man für bestehende pädagogische Herausforderungen passende technologische Lösungen. Bei generativer KI sucht man nun für eine technologische Lösung passende pädagogische Herausforderungen/Anwendungen.

Martin Berger: Es kam an der Tagung gut zum Ausdruck, dass Bildungsinnovationen durch KI umgekehrt als üblich verlaufen. Üblicherweise sucht man für bestehende pädagogische Herausforderungen passende technologische Lösungen. Bei generativer KI sucht man nun für eine technologische Lösung passende pädagogische Herausforderungen/Anwendungen. Wir eignen uns Technologien an und fragen uns, wie wir sie in unseren Tätigkeiten einsetzen können. Und wir alle, Laien und Fachpersonen, reagieren gleich darauf: neugierig, besorgt, euphorisch.

Das klingt nach Stress: diese ständige Angst, dass man etwas verpassen könnte.

Martin Berger: Vielleicht liegt dahinter die Angst, dass die Konkurrenz schneller ist als ich selber und mein Unterricht, meine Schule, mein Bildungssystem ins Hintertreffen geraten könnten. Ich denke, wir sollten dem technologischen Fortschritt mit gelassener Aufmerksamkeit begegnen. Der KI-Pionier Geoffrey Hinton verglich KI kürzlich mit der Erfindung des Rads. Dieses Rad hat man jetzt, und jetzt kommen die Anwendungen. Wie die Fahrzeuge und Flaschenzüge beim Rad, muss ich die Plugins bei KI nicht selber erfinden, die etablieren sich von selbst. Als Fachperson muss ich mich aber à jour halten.

Dominic Hassler: Ja, Lehrpersonen sollten KI im Unterricht integrieren. Auch die automatische Rechtschreibekorrektur hat sich durchgesetzt, auch wenn man sie vielleicht früher im Unterricht hätte integrieren sollen. Dienste wie ChatGPT werden das Leben und die Arbeit stark verändern; jetzt kommt auch Google mit Bard, und Microsoft baut die Funktionen in seine eigenen Programme ein.

Martin Berger: Positiv fällt auf, dass kaum mehr gefordert wird, man solle ChatGPT von den Schulen fernhalten. Man hat viel rascher als beim Aufkommen von Smartphones gemerkt: Verbieten ist unsinnig.

Dominic Hassler: Wir müssen lernen, das Instrument zu nutzen, und wir müssen die Lernenden dabei unterstützen, es auch zu lernen. Damit Lernende diese neuen Werkzeuge kompetent einsetzen können, brauchen sie nicht nur Anwendungskompetenzen, sondern auch Kenntnisse über deren technische Funktionsweise und ihre gesellschaftlichen Implikationen

Darin liegt, vermute ich, eine grosse Herausforderung für Schulen.

Martin Berger: Das ist so – und mit ein Grund, warum wir die Tagung organisiert haben. Sie gab auch den Bildungsträgern der beruflichen Bildung und auch den Hochschulen Gelegenheit zum Austausch.

Welche Chancen bieten Automation, KI und Learning Analytics denn für die Schulen?

Martin Berger: Allgemein gesprochen helfen sie, Prozesse effizienter zu gestalten, auf Makro-, Meso- und Mikroebene gleichermassen. Indem wir Daten erfassen und (intelligent) auswerten, zeigen sich in unserer Praxis Schwächen, die wir verbessern und Stärken, die wir ausbauen können. Ein simples Beispiel auf Ebene des Unterrichts ist die Auswertung von Testantworten; wenn ich möchte, kann ich sehen, welche meiner Aufgaben besonders gut oder besonders schlecht beantwortet wurden. Eine besonders schlecht beantwortete Aufgabe wirft Fragen auf und führt zu Erkenntnissen: War mein Unterricht zu diesem Aspekt nicht genügend gut? Interessiert das Thema die Jugendlichen weniger? Habe ich die Aufgabe ungeschickt formuliert? Oder ist sie einfach anspruchsvoller als andere?

ChatGPT gibt Antworten in einem Differenzierungsgrad, der im täglichen Unterricht häufig nicht möglich ist.

Dominic Hassler: ChatGPT ist ein Werkzeug, das viele Dinge kann, die vorher kein Werkzeug konnte. Ich kann die App mit der Lösung einer mathematischen Aufgabe konfrontieren und fragen, ob sie zutrifft. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich die KI nach dem Lösungsweg fragen. Und ich kann mich nach den entsprechenden Regeln erkundigen. Ebenso kann ich einen von mir erstellten Text kürzen, die Struktur optimieren, sprachlich verbessern und orthografisch bereinigen lassen. Und ich kann das Programm anschliessend seine Verbesserungsvorschläge erläutern lassen. ChatGPT gibt Antworten in einem Differenzierungsgrad, der im täglichen Unterricht häufig nicht möglich ist.

Dann ist ChatGPT nicht bloss Ersatz fürs eigene Rechnen oder Schreiben, sondern auch ein Erklärinstrument?

Dominic Hassler: Ja. Im Idealfall sucht der oder die Lernende zunächst selber nach Lösungen oder formuliert selber einen Text – und lässt sich erst dann erklären, wie es besser gehen könnte. Genau das müssen Lehrpersonen und Lernende erkennen und lernen: ChatGPT ist auch ein Erklärinstrument. Das zu vermitteln ist eine zentrale Aufgabe von Lehrpersonen. Und das schaffen sie nur, wenn sie ChatGPT selber wenigstens gelegentlich nutzen.

Welche hauptsächlichen Risiken sind mit ChatGPT verbunden?

Dominic Hassler: Dass die KI manchmal falsche Informationen verbreitet, ist bekannt. Aus pädagogischer Sicht ein grosses Problem ist zudem, dass Schreiben anspruchsvoll ist und anstrengend zu erlernen; bis zu guten Texten sind rund 20’000 Übungsstunden nötig, sagt man. Wenn man 16 Jahre alt ist, hat man womöglich andere Prioritäten. Und wenn ChatGPT das so gut macht, warum soll ich es noch lernen?

Ja warum?

Dominic Hassler: Lernen findet nicht ohne Sprache statt. Portfolios etwa bilden einen wichtigen Teil der Auseinandersetzung mit berufskundlichen Themen und dem eigenen Lernfortschritt. Eine Marginalisierung des Sprachlichen, des Schriftlichen, würde vermutlich das Lernen in allen Fächern (nicht nur sprachlichen) beschädigen.

Schreiben ist denken, und denken ist lernen. Wenn ich eine KI formulieren lasse, was Romantik ist, werde ich nie erfassen, was die Epoche ausmacht.

Martin Berger: Das sehe ich auch so: Schreiben ist denken, und denken ist lernen. Wenn ich eine KI formulieren lasse, was Romantik ist, werde ich nie erfassen, was die Epoche ausmacht. Schreibend erschliesse ich die Welt besonders gut. Umgekehrt sehe ich aber auch eine Gefahr darin, dass man die jetzt entstandenen Instrumente nicht nutzt – und die Konkurrenz uns davonläuft. Ich meine das wie erwähnt bezogen auf einzelne Firmen, Schulen, das Berufsbildungssystem und die Volkswirtschaft insgesamt. Natürlich sehe ich den drohenden Desinformations-Tsunami oder die gerade erwähnte Gefahr fürs Lernen. Aber wir müssen uns mit den Technologien auseinandersetzen, wir müssen ihre Macht von KI nutzen und unseren Lernenden beibringen, dies ebenfalls zu tun.

Gute Lernende (und Lehrpersonen) werden durch die Nutzung von digitalen Medien noch besser und hängen die weniger guten noch mehr ab. Haben Sie keine Angst vor dieser Schere?

Martin Berger: Das ist schon richtig. Aber es ist wichtig zu sehen, dass durch KI alle profitieren werden und die Berufsbildung insgesamt gestärkt wird. Dass dabei der Abstand zwischen stärkeren Lernenden und schwächeren wächst, kann kein Grund sein, die Technologie nicht einzusetzen.

Welche bildungspolitischen Forderungen leiten Sie aus den Entwicklungen ab? Muss ChatGPT auf eine Agenda?

Dominic: ChatGPT verlangt sofort Antworten, wie eingangs erwähnt etwa zur Frage, ob und in welcher Form das Instrument bei Vertiefungsarbeiten eingesetzt werden darf. Ich würde es begrüssen, wenn eine nationale Kommission – sei es der SBBK oder anderer Konferenzen – Leitlinien oder Vorschläge formulieren könnte, die den Schulen bei der Entwicklung von Handlungsanweisungen zur Verfügung stehen.

Die Tagung  in der Übersicht

Die Tagung «Automatisierung, KI und Learning Analytics in der Berufsbildung – Chancen und Risiken» fand am 23. Mai 2023 statt. Sie finden alle Unterlagen auf der Website der SGAB.

Keynotes

  • Prof. Dr. Sabine Seufert, Professorin für Wirtschaftspädagogik Universität St. Gallen: Zukunftsmodelle der Lernortkooperation mittels Data Science und KI; Aufzeichnung auf Youtube
  • Prof. Dr. Pierre Dillenbourg, Professor am Computer-Human Interaction Lab for Learning & Instrucion EPFL: Learning Analytics Ratios; Aufzeichnung auf Youtube

Parallel Sessions (Workshops)

  • WS 1: (PDF) Maschinelle Moral. Wie setzt man KI in der Bildung verantwortungsvoll ein? Moderiert durch Prof. Dr. Tobias Röhl, Professur Digital Learning and Teaching PH Zürich
  • WS 2: (PDF) Wie tragen die standardisierten Online-Tools Lernpass plus und Stellwerk dazu bei, dass Lernende selbstbewusst und motiviert ihre Berufslehre beginnen. Moderiert durch Claudia Coray, ehem. Leiterin der Lernfördersystem im Lehrmittelverlag St. Gallen
  • WS 3: (PDF) Selbstgesteuerte und projektbasierte Integration der Generation Z bei Swisscom. Moderiert durch Marc Marthaler, Head of Next Generation Swisscom
  • WS 4: (PDF) Generative Textmodelle wie ChatGPT: Was sind die Herausforderungen und Chancen in der Bildung? Moderiert durch Manuela Hürlimann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Artificial Intelligence ZHAW
  • WS 5: (PDF) Wie können Lehrende und Lernende KI sinnvoll einsetzen? Moderiert durch Lukas Löffel, Leiter Digitale Lehre und Forschung UZH
Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2023). «ChatGPT ist ein tolles Erklärinstrument». Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(6).

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