Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Fernunterricht an Berufsfachschulen während Covid-19

Didaktische Herausforderung und möglicher Innovationsschub

Innert kürzester Zeit haben viele Lehrpersonen ihren Unterricht weitgehend digitalisieren und im Fernlernen weiterführen müssen. Das hat einen Innovationsschub ausgelöst, aber die Entwicklung stellt auch die Chancengerechtigkeit in Frage. In einer Befragung bewerten 99 Lehrpersonen vor allem die Interaktion mit der Klasse und die Beziehungsgestaltung als anspruchsvoll. Zudem stelle der Umgang mit digitalen Technologien die kleinere Herausforderung dar als die Didaktik im Fernunterricht. Viele Lehrpersonen gehen davon aus, dass sich ihr Unterricht nachhaltig verändern wird.


Anfang April 2020 wurden 23 Lehrpersonen per E-Mail oder Telefon zu ihren Erfahrungen mit eLearning während des Fernunterrichts befragt. Die Antworten wurden auf der Grundlage des europäischen Referenzrahmens für digitale Kompetenz von Lehrpersonen (Redecker, 2017) ausgewertet. Darauf aufbauend wurde eine online-Befragung erstellt, an der 99 Praktikumslehrpersonen (erfahrene Lehrpersonen also) der Pädagogischen Hochschule Zürich Ende April 2020 teilnahmen (Abteilung SekundarstufeII/Berufsbildung). Im Folgenden werden die Resultate der Befragung vorgestellt.

Unterstützung der Schule und digitale Kompetenzen tragen zum Gelingen bei

Rund 80% der befragten Lehrpersonen geben an, dass sie grundsätzlich fähig sind, digitale Medien in verschiedenen Kontexten und zu unterschiedlichen Zwecken einzusetzen. Zwei Drittel empfinden den Support durch ihre Schule während der ausserordentlichen Lage als gross. Die wahrgenommene Unterstützung der Schulen und die eigenen digitalen Kompetenzen tragen dazu bei, dass die (weiter unten dargestellten) Herausforderungen des Fernunterrichts geringer eingeschätzt werden (Unterstützung der Schule: r = -.21, p ≤ .05; digitale Kompetenzen: r = -.53, p ≤ .01).

Eine grosse Berufserfahrung ist im Fernunterricht nicht notwendigerweise eine Erleichterung: Die Analyse zeigt, dass die wahrgenommenen Herausforderungen mit steigender Berufserfahrung zunehmen, auch wenn die Unterschiede statistisch nicht abgesichert werden können. Je grösser die Berufserfahrung, desto herausfordernder wird das Lehren wahrgenommen (r = .23, p  ≤ .05). Lehrpersonen mit 5 bis 10 Jahre Berufserfahrung empfinden die Herausforderung beim Lehren kleiner (M = 3.03; SD = 1.19) als Lehrpersonen mit über 20 Jahren Berufserfahrung (M = 3.79, SD = 1.29).

Anspruchsvoller, aber funktionierender Fernunterricht

Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Fernunterricht aus Sicht der Lehrpersonen – nach einer mehr oder weniger turbulenten Anfangsphase – funktioniert. Von den 99 Befragten berichten nur drei, dass ihnen der Fernunterricht eher nicht gelingt. Trotzdem bringt der Fernunterricht vielfältige Herausforderungen mit sich, die von den Lehrpersonen unterschiedlich wahrgenommen werden. Abbildung 1 zeigt die fünf herausforderndsten Bereiche.

Abbildung 1.

Lernbegleitung (Rang 1) sowie Feedback und Planung (Rang 3) werden als ausnehmend herausfordernd wahrgenommen. Dazu gehören die Interaktion mit Lernenden und zeitnahes Unterstützen durch gezielte Feedbacks. Aussagen wie «mir fehlt das Gefühl für die Klasse», «wie geht es den Lernenden?», «wer ist noch dabei?», «wer hat eine Frage, traut sich aber nicht, diese zu stellen» oder «wie halte ich die Beziehung aufrecht weisen auf die Relevanz der Klassenführung hin, die auch im Fernunterricht zentral zu sein scheint. Dabei erwähnen die Lehrpersonen typische Aspekte des Classroom Managements wie «Präsenz zeigen», «Gruppenmobilisierung» oder «Rechenschaftspflicht bei den Lernenden generieren». So machen sie gute Erfahrungen, mit Lernenden über digitale Kanäle «immer wieder 1:1 zu gehen», «sich immer wieder per Video zu zeigen» und kontinuierlich Beiträge sowie Zwischenprodukte einzufordern. Statements wie «ich muss mich nicht um Störungen im Schulzimmer kümmernzeigen, dass sich Interaktionen mit der Gruppe und das Führen von Klassen im Fernunterricht nicht grundsätzlich schwieriger sind, sondern sich anders gestalten als im Präsenzunterricht.

Erweiterte Beurteilungsformen sind gefragt

Mündliche Prüfungen oder schriftliche Open-Book-Prüfungen scheinen für Fernunterricht besser geeignet zu sein.

Auf Rang 2 steht für die Befragten der Anspruch, den Lernstand zu erheben (formativ oder summativ) und im Überblick zu behalten. Sie äussern, dass «Wissensprüfungen nicht sicher sind, da die Lernenden untereinander einen Chat dazu haben» und dass «die Kontrolle, ob Tests wirklich allein gelöst werden ohne Hilfe von Mitarbeitern oder Eltern», ein Problem darstelle. Um Betrugsversuche bei einer online Prüfung zu verhindern, bräuchte es ein fragwürdiges Prozedere: Lernende müssten zum Beispiel ihren Bildschirm mit Lehrpersonen teilen und sich gleichzeitig mit dem Handy selbst so filmen, dass Gesicht und Hände sichtbar sind. Und selbst dann blieben Möglichkeiten, sich unlauterer Mittel zu bedienen.

Mündliche Prüfungen oder schriftliche Open-Book-Prüfungen scheinen für Fernunterricht darum besser geeignet zu sein. Dabei lassen sich offene Fragen stellen, die an die individuelle Lebenswelt oder Arbeitssituation Lernender anknüpfen und so zu originalen Denkleistungen und Antworten führen. Dies erschwert das Schummeln. Einige Lehrpersonen verzichten ganz auf Closed-Book-Prüfungen: «Wissensprüfungen sind schwierig durchzuführen, da sie nicht rekursfähig sind. Stattdessen erteile ich Aufträge, die ich bewerte.»

Technische Herausforderungen sind kleiner als Didaktisches

Auf Rang 4 findet sich die Herausforderung, vorhandene Unterlagen für den Fernunterricht aufzubereiten, zu digitalisieren und neu zu didaktisieren (Lehren). Um den Unterricht über die Ferne fortzusetzen, reicht es nicht, vorhandene Unterlagen zu digitalisieren: Lehrende müssen Inhalte und Aufgabenstellungen neu didaktisieren. Das muss gut durchdacht werden und braucht Zeit. Eine Lehrperson empfiehlt «reduce to the max». Es gilt zu überlegen, welche Ziele der Unterricht erreichen soll und die Aufträge präzise darauf auszurichten. Eine andere Lehrperson meint, «dass im Fernunterricht ganz anders didaktisiert werden muss als in der Präsenz».

Der Umgang mit technischen Problemen steht an letzter Stelle der Liste der Herausforderungen. Die Befragten berichten, sich zu Beginn des Lockdowns innert kurzer Zeit neue digitale Werkzeuge und Methoden angeeignet zu haben:

  • Videokonferenz-Tools, um live Videokonferenzen durchzuführen, die Unterricht oder 1:1-Betreuung Lernender (ähnlich wie im Klassenzimmer) ermöglichen.
  • Lern-Management-Systeme wie Teams oder Moodle, um Aufgaben automatisiert zu verteilen und einzusammeln.
  • Lernvideos und vertonte Powerpoint-Präsentationen, um Inhalte und Unterrichtsstoff zu vermitteln.
  • Flipped Classroom und projektbasierter Unterricht, um asynchrones und selbstgesteuertes Lernen zu unterstützen.
  • Online Pinnwand wie Padlet, um Lernprodukte zu sammeln und gegenseitig zu kommentieren.

Abschliessend bleibt festzuhalten: Didaktische Herausforderungen beschäftigen Lehrpersonen mehr als die Technik. Letztere wird vor allem zum Problem, wenn Lernende kein geeignetes Endgerät besitzen.

Chancen für die Individualisierung und Risiken bei der Inklusion

Selbständiges Lernen (5. Rang) erleben die Lehrpersonen für Fernunterricht als zentral und ebenso herausfordernd. Sie unterstreichen, wie aufwändig und wichtig es sei, Strukturen zu definieren und präzise Aufgabestellungen zu generieren. Im selbständigen Lernen wird zudem grosses Potenzial für individualisiertes Lernen gesehen. So begrüssen die Lehrpersonen, dass Lernende im Fernunterricht «in ihrem eigenen Tempo lernen» und «ungestörte bilaterale Gespräche» über verschiedene Kanäle führen können.

Selbständiges Lernen fordert jedoch nicht bloss die Lehrpersonen, sondern auch die Lernenden heraus. Die Umfrage zeigt, dass Lernende «stark in ihrer Selbstdisziplin und ihrer Eigenverantwortung gefordert» sind und «Lernschwache durchs Netz fallen, weil sie überfordert sind und ihnen die Selbstkompetenz fehlt». Vor allem Lehrpersonen mit EBA-Klassen berichten, dass schwache Lernende abgehängt werden. Der kürzlich erschienene Schul-Barometer betont, dass dies bei 20% der Lernenden droht. Die Gründe: mangelnde technische Ausstattung, ungenügende, gestörte Lernsituationen sowie mangelnde Selbstkompetenz im kurzfristig aufgesetzten Fernunterricht (Huber u.a., 2020). Dies scheint auch für den Berufsfachschulunterricht zuzutreffen, zumal hier von einer Risikogruppe von einem Fünftel ausgegangen werden muss (Berger & Pfiffner, 2018).

Nachhaltiger Innovationsschub oder Intermezzo von erwünschter Improvisation?

Die Corona-Krise zwingt Schulen und Lehrpersonen dazu, bewährte Konzepte anzupassen und unter zeitlichem Druck neue digitale Werkzeuge und Unterrichtsmethoden auszuprobieren. «Erfahrung mit dieser Form von Unterricht ist nicht vorhanden, wodurch man eher Fehler machen darf», schreibt eine Lehrperson. Angst vor Fehlern hemmt Innovation und erstickt Kreativität. Der Lockdown hat diese Hemmnisse für ein paar Monate abgeschwächt, weil Neues ausprobiert werden muss und darf.

Wie aber wirken sich die neuen Erfahrungen langfristig auf den Unterricht an Berufsfachschulen aus (Abbildung 2)? Von den 99 Befragten geben 26 an, ihren Unterricht nach Covid-19 gar nicht oder eher nicht zu verändern. Die restlichen 73 planen, ihren Unterricht zumindest teilweise anders zu gestalten – etwa indem sie vermehrt mit Lern-Management-Systemen wie Teams arbeiten.

Abbildung 2.

Fest steht, dass zahlreiche Lehrpersonen ihren digitalen Werkzeugkoffer erweitert haben, sei dies im digitalen Fernunterricht oder im «virtuellen Lehrerzimmer». In den kommenden Monaten werden sich Schulen und Lehrpersonen über diese neuen Erkenntnisse austauschen und eine gemeinsame Haltung zu digitalen Werkzeugen sowie Lehr- und Lernformen entwickeln. Die Zeichen für einen nachhaltigen Innovationsschub stehen gut.

Literatur

Zitiervorschlag

Berger, M., Hassler, D., & Keller, R. (2020). Didaktische Herausforderung und möglicher Innovationsschub. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(2).

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