Berufsbildung in Forschung und Praxis
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IDM Thun: Virtual Reality in der Ausbildung von Fachleuten Betriebsunterhalt

Eine dritte Dimension zwischen Theorie und Praxis

Virtual Reality (VR) wird erst vereinzelt in der beruflichen Grundbildung eingesetzt. Nun hat das Berufsbildungszentrum IDM Thun eine Anwendung für angehende Fachleute Betriebsunterhalt entwickelt. Die Schule hat damit einen Meilenstein gesetzt: Die Anwendung verdeutlicht, dass der Einsatz von VR nicht nur für gefährliche oder überkomplexe Arbeitssituationen Sinn machen kann, sondern auch für alltägliche Aufträge. IDM-Direktor Ben Hüter spricht von einer dritten Dimension zwischen Theorie und Praxis, die erreicht werde. So lassen sich dank VR stressige Situationen üben, wie er im Gespräch mit Transfer ausführt.


Ben Hüter ist Direktor des BBZ IDM: «Das fühlte sich sehr real an und hat mich emotional mitgenommen».

Die IDM in Thun hat für die Ausbildung von angehenden Fachleuten Betriebsunterhalt eine virtuelle Lernwelt eingeführt. Wie ist es dazu gekommen?

Ben Hüter: Früher dachte ich beim Begriff «Virtuelle Realität» an Medien der Unterhaltung, an Computerspiele. Bei Besuchen in mehreren berufsbildenden Schulen in Holland lernte ich dazu. Hier werden VR-basierte Übungsszenarien flächendeckend in den unterschiedlichsten Berufen eingesetzt. Persönlich konnte ich vor einiger Zeit in eine virtuelle Lernwelt eintauchen. Meine Aufgabe war es, als Berater am Flughafen Schiphol mit einem iranischen Reisenden zu kommunizieren, der nur wenig Englisch sprach. Seine Reaktionen waren authentisch und nahmen Bezug auf das, was ich sagte. Das Gespräch entglitt mir immer mehr – bis der Iraner schimpfend davonlief. Das fühlte sich sehr real an und hat mich emotional mitgenommen.

Was leistet die Anwendung für die Lernenden Betriebsunterhalt an Ihrer Schule?

Sie zeigt ein mehrstöckiges Gebäude mit unterschiedlichen Räumen. Hier sind die Berufsleute unterwegs und kümmern sich um die Haustechnik in den Bereichen Lüftung, Heizung, Klima, Strom und Licht. Die Verhaltensregeln und Sicherheitsvorschriften, die die Lernenden bisher vor allem theoretisch erlernten, erhalten so eine reale Anwendung.

Können Sie eine typische Aufgabe schildern?

Die Lernenden erhalten in der Regel eine Liste von Aufgaben, die sie priorisieren und abarbeiten müssen – eine Störungsmeldung der Lüftung, einen Anruf, das Auswechseln eines Leuchtmittels oder ein Wasserschaden. Wenn die Aufgabe unklar ist, müssen die Lernenden Rücksprache mit der vorgesetzten Person nehmen. Dann rüsten sich die Lernenden mit den nötigen Werkzeugen aus; wenn etwas vergessen geht, müssen sie den Weg durch das Gebäude erneut zurücklegen. Manchmal ist das Problem auch zu schwierig, um es selber zu lösen; dann müssen die Lernenden spezialisierte Fachleute der Haustechnik beiziehen. Ein Arbeitseinsatz dauert zehn bis fünfzehn Minuten.

  • Altes Büro.

  • Arbeiten mit Sicherheit.

  • Einfacher Brand in der Heizung.

  • Büro Gang mit Löschposten im Hintergrund.

  • Mehrfacher Brand in einem Büro.

  • Ein- und zusschaltbarer Werzeuggurt.

  • Produktion Räume.

  • Startmenü Lehrperson Brandmodul.

  • Startmenü Lehrperson: Rundgang mit Fehlersuche.

  • Wertkstattdepot fürs Material.

  • Wissenssicherung.

Gehen die Lernenden physisch durch die IDM?

Nein. Der Raum, in dem sie sich bewegen, ist etwa drei mal fünf Meter gross. Die Anwendung kann aber auch auf grösserem Raum angewendet werden. Bei ihrer Arbeit machen die Jugendlichen aber tatsächlich Schritte, gehen auf die Knie oder auf besteigen eine Leiter und bewegen beim Steuern Arme und Hände.

Reale Aufgaben haben die Lernenden auch im Betrieb. Wo ist der Unterschied zur VR?

VR erlaubt, Aufgaben zu stellen, wie sie im Betrieb kaum vorkommen. Die Lernenden werden bewusst vor mehrere Aufgaben gleichzeitig gestellt und unter Umständen unter Zeitdruck gesetzt. Über die VR lassen sich zudem gefährliche Situationen simulieren – eine Lifttür, die sich nicht mehr schliessen lässt, ein Feueralarm, eine verletzte Person. Geübt werden dabei weniger handwerkliche Fertigkeiten als überfachliche Kompetenzen: Wie gut kann ich Prioritäten setzen? Welche Rückmeldungen gebe ich? Erkenne ich rechtzeitig, wo meine Grenzen sind?

Könnte man das nicht auch analog simulieren?

Lernende im betrieblichen Umfeld agieren immer in der gleichen Umgebung; das ist für die berufliche Grundbildung besonders in kleinen Betrieben ein Problem.

Sicher. Die VR ermöglicht im Unterschied zu Rollenspielen aber echte emotionale Beteiligung: Was man im virtuellen Lernraum erlebt, ist alles andere als bloss «virtuell», sondern fühlt sich real an und ist interaktiv. Zudem planen wir, die Räume der VR zu erweitern und gleichermassen Wohnsituationen in einem alten Restaurant, einer Büroumgebung oder einer modernen Wohnung anzubieten. Lernende im betrieblichen Umfeld agieren demgegenüber immer in der gleichen Umgebung; das ist für die berufliche Grundbildung besonders in kleinen Betrieben ein Problem. VR ermöglicht also den Transfer von Arbeitssituationen vom Konkreten ins Allgemeine, wie er sonst nicht immer gegeben ist. Sie trägt dazu bei, dass der EFZ-Erwerb eine gewisse Breite erlangt.

Es kann nur immer eine Person eine Simulation durchlaufen. Was tun die anderen Lernenden in dieser Zeit?

Sie arbeiten an anderen Aufträgen. Am BBZ IDM setzen derzeit zwei Lehrpersonen die VR in ihrem Unterricht ein. Pro Lektion sind etwa fünf Lernende im Einsatz, so dass jeder Lernende etwa einmal im Monat mit VR arbeitet. Wenn man die Kadenz erhöhen möchte, kann man eine zweite Brille einsetzen. Die Lehrperson – oder auch die ganze Klasse – kann eine Lernende, die im VR-Raum arbeitet, über einen Bildschirm beobachten und mit ihr kommunizieren. Zudem ermöglicht die Lernanwendung eine Analyse der Aufgabe mit der ganzen Klasse, da die Sequenzen aufgezeichnet und im Klassensetting besprochen werden können. Was wurde gut gelöst? Welche anderen Optionen oder Abläufe wären auch denkbar gewesen?

Welche Vor- und Nachbereitung ist beim Einsatz der VR erforderlich?

Im Prinzip keine. Die Jugendlichen kennen die Anwendung vielfach vom Gamen und sie finden sich im Vergleich zu älteren Personen sehr schnell intuitiv damit zurecht. Das System wertet die abgeschlossene Übungssequenz automatisch nach bestimmten Parametern aus und erstellt einen Rapport: Wie gut hat der Jugendliche kommuniziert, wie zweckmässig waren seine Interventionen, welche Gefahren wurden ungenügend berücksichtigt? Bei der nächsten, maschinell erstellten (randomisierten) Übung können Aufgaben noch einmal aufgegriffen und erneut gelöst werden.

Sie haben die VR extern entwickeln lassen. Mit welchem Partner und zu welchen Kosten?

Wir arbeiteten mit Virtual Discovery in Interlaken zusammen. Die Entwicklung kostete einen sechsstelligen Betrag. Damit legten wir einen Grundstein, auf dem weitere Anwendungen auch aus anderen Berufen namentlich der Haustechnik aufbauen können. Das Gebäude ist mit Stockwerken, Liften, Fluren, Räumen oder Möbeln und allen Installationen konzipiert. Nun kommen weitere Lernmodule dazu, die noch tiefe fünfstellige Beträge kosten werden. Ein solches Modul deckt jeweils einen ganzen Lern- oder Kompetenzbereich ab. Wenn man die Beträge mit echten Personalkosten vergleicht, macht die Investition Sinn.

Dann wird die IDM auch für weitere Berufe VR-Anwendungen entwickeln?

Ich möchte die grosse Chance, die VR bietet, in möglichst vielen Berufen nutzen, wo das Sinn macht. Das wird in sehr vielen Bereichen der Fall sein.

Ich möchte die grosse Chance, die VR bietet, in möglichst vielen Berufen nutzen, wo das Sinn macht. Das wird in sehr vielen Bereichen der Fall sein, auch wenn gewissen Entwicklungen finanzielle Grenzen gesetzt sind. Keinen Sinn macht VR, wo manuelle Fertigkeiten erlernt werden wie das Schneiden von Haaren oder der Gebrauch eines Pinsels. Aber unsere weiteren Schritte müssen finanziert sein; und sie hängen von der Bereitschaft der Lehrpersonen ab, sich bei der Entwicklung von Lernmodulen einzubringen. Ohne Lehrpersonen kann man solche Projekte nicht durchführen.

Warum nicht?

Eine VR-Lernumgebung muss einerseits echt aussehen, das ist das Interesse der Entwickler. Andererseits muss die virtuelle Lernwelt auch in allen Details den berufskundlichen Realitäten entsprechen, das ist das Interesse der Lehrpersonen. Diese beiden Dinge muss man zusammenbringen. Das ist, wie wir erst im Verlaufe des Projekts gemerkt haben, anspruchsvoll. Es reicht nicht, den Programmierern initial die Bedürfnisse mitzuteilen. Die Entwicklung erfordert einen engen Austausch zwischen Lehrpersonen und Entwicklern. Man muss ihre Lösungen immer wieder testen und Anpassungen einarbeiten. Unsere zwei beteiligten Lehrpersonen Youri Baumgartner und Klaus Gsponer haben seit Oktober jede Woche einen solchen ein- bis zweistündigen «Sprint» absolviert. Das war echte Pionierarbeit.

Fachleute Betriebsunterhalt werden nicht nur in Thun ausgebildet. Werden Sie die Anwendung auch anderen Schulen zur Verfügung stellen?

Das Projekt wurde vom Kanton Bern finanziert. Darum ist es für mich klar, dass alle interessierten Schulen im Kanton die Anwendung übernehmen können. Was sie dafür brauchen ist lediglich eine für den Unterricht optimierte VR-Brille, die ohne Zeitverzögerung reagiert; sie deckt die ganze Rechnerleistung ab, speziell leistungsfähige Computer sind nicht erforderlich. Unsere Partnerschule in Emmen ist sehr interessiert und möchte das Modul ab Sommer 2023 einsetzen. Zudem habe ich den Berner Berufsverband informiert, der VR auch in überbetrieblichen Kursen einsetzen könnte. Und nächstes Jahr möchte ich das Instrument im Rahmen der Tour de Suisse Blended Learning der SDK vorstellen.

Sehen Sie spezifische Gefahren des Einsatzes von VR im berufskundlichen Unterricht?

Ich stand auf der virtuellen Leiter und habe es trotz Aufforderung nicht gewagt, hinunterzuspringen – obwohl ja keine Verletzungsgefahr bestand. Virtuell ist realer als man denkt.

Die Jugendlichen müssen sich bewusst sein, dass die virtuelle Welt nicht der realen entspricht. Eine offene Lifttür kann tödlich sein; virtuell aber erklingt bloss ein Alarm. Aber gerade darin liegt die Leistung der VR: Dank VR kann die bloss theoretische Vorschrift, dass offene Lifttüren zu sichern sind, real intensiv geübt werden. Ich erinnere mich heute noch, wie ich auf der virtuellen Leiter gestanden habe und es trotz Aufforderung nicht wagte, hinunterzuspringen – obwohl ja keine Verletzungsgefahr bestand. Virtuell ist realer als man denkt.

Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2023). Eine dritte Dimension zwischen Theorie und Praxis. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 8(7).

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